Dienstag, April 1

Vor 38 Jahren fuhr der irische Autor Colum McCann mit dem Fahrrad quer durch die USA. Heute fragt er sich, ob die Menschen noch immer so offen zu ihm wären wie damals. Ein Gespräch über das Sich-Auseinandersetzen – mit Menschen und Problemen.

Der irisch-amerikanische Autor Colum McCann mag Menschen und ist fasziniert von Konflikten. Das zeigte sich bisher bei jedem seiner Bücher. Sein grösster Erfolg «Apeirogon» (2020) etwa erklärt den Nahostkonflikt unvergleichlich sanft am Beispiel der wahren Geschichte zweier Väter. Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Sie leben in verschiedenen Welten, aber teilen den gleichen Schmerz: Beide haben im Palästina-Konflikt eine Tochter verloren.

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«Man muss den Konflikt auf einer menschlichen Ebene verstehen, es ist in Ordnung, wenn man politisch den Durchblick verliert», sagt McCann. Auch in seinem neuen Roman arbeitet er auf der menschlichen Ebene – und weit unter dem Meeresspiegel. «Twist» dreht sich um Tiefseekabel im Meer, die 95 Prozent des interkontinentalen Datenvolumens transportieren. Es geht darum, wer hier als Pförtner waltet und welche Macht damit verbunden ist. Und es geht, natürlich, auch um Konflikte. Grosse, die die Gesellschaft spalten können. Und kleine, die immerhin einen Menschen in seinen Grundfesten zu erschüttern vermögen.

Colum McCann, Sie wurden 1965 in Dublin geboren. Als der Nordirland-Konflikt in den siebziger Jahren zum Bürgerkrieg wurde, waren Sie ein Kind. Haben Sie Konflikt im Blut?

Vielleicht. Mein Vater stammte aus einer armen Arbeiterfamilie in Dublin, meine Mutter aus einer armen Bauerngemeinde in Nordirland. Beide sind aus wirtschaftlichen Gründen nach London ausgewandert. Sie lernten sich in der Fremde kennen, heirateten, bekamen Kinder und zogen gemeinsam nach Irland zurück.

Abgesehen davon, dass Ihre Eltern durch ihre Herkunft aus Irland und Nordirland quasi zwei verfeindeten Lagern angehörten: Wo spürten Sie den Konflikt?

Im Sommer brachte meine Mutter mich jeweils zu ihren Eltern auf den Bauernhof. Um von Dublin nach Nordirland zu meinen Grosseltern zu kommen, mussten wir die Grenze durch gesicherte Checkpoints überqueren. Ich habe keine Bomben explodieren sehen und war auch nicht dabei, als jemand getötet wurde. Aber ich spürte diesen Konflikt und die Gefahr, die von ihm ausging, auf einer Art viszeralen Ebene.

Können Sie das beschreiben?

Der Bauernhof meiner Grosseltern war eine perfekte kleine Welt. Ich konnte die Gegend erkunden, herumrennen, Traktor fahren. Aber die grosse Freiheit endete an den Grenzen unserer Hecken. Sobald man die Farm verliess und auf die Strasse ging oder in die Stadt fuhr, wurde alles sofort politisch. Und politisch war ein anderes Wort für schwierig. Meine nordirischen Cousins hatten zum Beispiel immer Schwierigkeiten an den Checkpoints.

Sie leben seit vierzig Jahren in den USA. War es dieses Gefühl von Konflikt, das Sie als jungen Mann dazu trieb, die Heimat zu verlassen?

Meine Eltern mussten Irland verlassen, weil sie damals keine Zukunft für sich sahen. Bei mir war es anders: Ich hatte Lust zu gehen.

Was zog Sie weg?

Mit 21 las ich Jack Kerouac und all die Beat-Autoren, und mir war klar: Ich will Schriftsteller sein. Ich dachte, das wäre kein Problem. Ich würde einfach nach Amerika gehen, meinen Roman schreiben und wieder zurückkommen.

Jack Kerouac lockte Sie über den Atlantik?

Klar. Und ausserdem hatte ich das Gefühl, wenn ich nach London gehe, wiederhole ich, was mein Vater bereits vor mir gemacht hat. In England waren wir Iren damals zudem nicht gerade beliebt. Von der IRA wurden immer noch Bomben gezündet – das war also feindliches Gebiet. Nach Amerika zu gehen, fühlte sich dagegen wie eine Befreiung an.

Das war 1986. Ihr erster Roman erschien erst neun Jahre später. Was geschah dazwischen?

Ich ging nach Cape Cod, kaufte mir eine Schreibmaschine – und scheiterte kläglich.

Zu romantische Vorstellungen vom Schriftstellerleben?

Viel zu romantisch! Dabei war das Klappern der Schreibmaschine die Musik meiner Kindheit: Mein Vater war Journalist und schrieb auch Bücher. Ich wusste es also eigentlich besser. Als ich monatelang nichts hinbekam, habe ich mir ein Fahrrad gekauft und bin damit einmal quer durch die Vereinigten Staaten gefahren. Ich habe im Zelt und in Hinterhöfen geschlafen, und wenn das Geld ausging, kleine Jobs erledigt: Ein Haus gestrichen, einen Zaun repariert. Und alle zwei Wochen habe ich einen Artikel geschrieben und per Post nach Irland geschickt. Für die 8000 Meilen, also etwa 12 000 Kilometer, brauchte ich anderthalb Jahre.

Was war das für ein Amerika, das Sie Ende der achtziger Jahre durchquerten?

Einmal hatte ich in einem Supermarkt gezählt, ob mein Geld für das Essen reichte, das ich kaufen wollte. Dann ging ich aufs Klo und legte meine Fahrradhandschuhe draussen auf einen Tresen. Als ich zurückkam, hatte mir jemand in beide Handschuhe je einen 20-Dollar-Schein gesteckt. Das war das Amerika, das ich damals kennengelernt habe: neugierig und hilfsbereit.

Wie hat sich dieses Amerika in den vergangenen 38 Jahren verändert?

Ich denke, oberflächlich betrachtet ist es nun ein anderes Land. Aber ich frage mich, ob all diese Dinge nur Fassade sind und sich das Volk darunter gar nicht wirklich gewandelt hat. Vielleicht sind die Veränderungen, die wir gerade beklagen, nicht bis in den Kern dieses Volkes eingedrungen. Ich habe den leisen Verdacht, vielleicht den Wunsch, dass das Amerika, das ich gesehen habe, noch immer existiert.

Sie haben Ihr Unverständnis und Ihre Enttäuschung über Trumps Wahl öffentlich gemacht. Würden denn auch Sie den Leuten in diesem Land, der Mehrheit, die Donald Trump gewählt hat, noch gleich offen begegnen wie damals?

Ich wäre heute noch genauso interessiert an ihnen. Es ist wichtig, Menschen zu vergeben und ihnen zuzuhören. Dann finden wir meistens heraus, dass sie sich gar nicht wesentlich von uns unterscheiden. Ich denke übrigens gerade darüber nach, wieder aufs Fahrrad zu steigen. Diesmal mit meinem Sohn. Er ist 25.

Sie haben nach Trumps Amtseinführung einen Essay publiziert, in dem Sie dem Schock der Demokraten, ihrem eigenen Schock, die Erleichterung der Republikaner gegenüberstellten und fragten: Warum sollte nur mein Glück zählen?

In diesem Essay habe ich auch über etwas geschrieben, was ich die «Krankheit der Gewissheit» nenne. Sie greift gerade um sich, und das ist ein Problem, denn Gewissheiten sind wie Kanäle: Wenn man in einem Kanal lebt und diesen immer tiefer gräbt, wie soll das Wasser jemals wieder herauskommen? Wie schafft man ein Überschwemmungsgebiet, auf dem etwas Neues wachsen kann?

Oder wo Platz ist für mehrere Meinungen nebeneinander.

Genau. Die Leute sind gar nicht mehr interessiert an Nuancen. Sie betreten einen Raum nur noch, wenn sie wissen, dass sie dort hineinpassen. Widersprüche oder parallele Wahrheiten machen ihnen Angst.

Das klingt pessimistisch.

Aber – und das ist wichtig – ich mag die Menschen sehr, und ich mag die Welt. Also muss ich mir überlegen, wie die Kategorie «Mensch» in dieser Welt wieder besser repräsentiert wird.

Was können Sie als Schriftsteller dafür tun?

Ich habe eine Initiative namens «Narrative 4» mitgegründet. Wir bringen junge Leute zusammen, und sie erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten. Dann tauschen sie die Rollen und erzählen der Gruppe die Geschichte ihres Gegenübers, als wäre es ihre eigene. Das Gehirn explodiert dabei fast, da werden so viele Hormone ausgeschüttet, weil man sich beim Erzählen automatisch in die fremde Geschichte hineinfühlt. Und dann ist die Welt plötzlich ein bisschen chaotischer, komplizierter – und vielfältiger.

In einer komplizierteren Welt allerdings ist es schwieriger zu navigieren als in einer, in der alles schwarz oder weiss ist. Manche fühlen sich mit Scheuklappen wohler.

Und die Tatsache, dass wir sehr viel online sind, verstärkt das natürlich noch. Algorithmen wollen, dass alles 0 oder 1 ist, schwarz oder weiss, je nur in eine Schublade passt.

Die Algorithmen verstärken auch die Bildung sogenannter «Bubbles». Dort wiederum identifiziert man sich gerne mit einer primären Eigenschaft, während Pluralität zu Konflikten führen kann.

Dabei kenne ich zum Beispiel viele schwule, weisse, muslimische Iren. Aber dem Computer ist das zu kompliziert. Darum lernen wir, Angst zu bekommen vor der Vielfalt – anstatt sie zu fördern. Diese kleinen Geräte in unserer Hand können unser Untergang werden, wenn wir nicht lernen, sie zu kontrollieren.

Sie meinen, wenn wir keine ausreichende Medienkompetenz lernen, oder wenn wir etwa unseren Social-Media-Konsum nicht im Griff haben?

Ja, wenn wir den Umgang mit unseren Smartphones und unseren Daten nicht kontrollieren, dann geht diese Kontrolle an die Herren der Algorithmen.

Davon erzählt auch Ihr neuer Roman «Twist»: Ein Datenkabel auf dem Meeresgrund muss repariert werden, damit es weiterhin die Menschen überall auf der Welt miteinander verbinden kann. Und natürlich stellt sich die Frage: Würde es der Welt und den Menschen nicht besser gehen, wenn niemand das kaputte Kabel repariert?

Eigentlich müsste man diese Kabel sabotieren. All unsere Informationen wandern dort hindurch. Wie viele Schritte wir täglich machen, wo wir einkaufen oder mit wem wir uns unterhalten. Wer die Kabel besitzt, besitzt alle Informationen und damit am Ende uns. Die Besitzer sind Konzerne wie Google oder Microsoft. Und da frage ich mich: Werden wir das Ende des Nationalstaats und den Beginn des Konzernstaats erleben? Ich bin überhaupt kein Verschwörungstheoretiker, aber ich hätte auch nicht geglaubt, dass jemand in der Position, die jetzt Donald Trump innehat, der Ukraine das Geld abstellt.

Wie lässt sich die Kontrolle über unsere Smartphones und vor allem über unsere Daten zurückgewinnen?

Ich verrate jetzt einfach das Ende des Romans: Mein Protagonist findet für sich eine Lösung. Er sprengt an einem entscheidenden Ort die Kabel, statt sie zu reparieren. Ich denke, das ist eine Verzweiflungstat und es gibt bessere Lösungen, die wir anstreben sollten. Ich habe sie allerdings noch nicht gefunden. Aber ich denke, dass man mittlerweile über die Macht und Manipulation von Algorithmen und KI spricht, ist der erste wichtige Schritt.

Spulen wir noch einmal zurück, in die Zeit, bevor das Internet die Menschen zu vereinnahmen begann. Was haben Sie vor fast vierzig Jahren, während Ihrer Amerika-Durchquerung mit dem Velo, über sich selbst gelernt?

Ich bin mit 21 Jahren losgefahren und mit 23 Jahren an der Golden Gate Bridge angekommen – als völlig veränderter Mensch. Immer noch romantisch und blauäugig, aber bereit, ein Buch zu schreiben. Ich ging nach Texas, setzte mich an die Schreibmaschine und schrieb zwei absolut grässliche Romane. Der erste handelte zum Beispiel von einem jungen Mann, der mit dem Fahrrad durch die Vereinigten Staaten fährt. Einfallsreich – nicht?

Heute hätten Sie mit Autofiktion gute Chancen. Das Genre boomt.

Autofiktion? Oh nein danke! Eines haben mich diese beiden schrecklichen ersten Romane gelehrt. Nämlich, worüber man nicht schreiben sollte: Über sich selbst. Ich musste mich erst loswerden, danach konnte ich gute Bücher schreiben.

Colum McCann: Twist. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Überhoff. Rowohlt, Hamburg 2025. 416 S., zirka Fr. 40.–.

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