Dienstag, Oktober 1

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Vor 75 Jahren wurde das Zürcher Freibad Letzigraben eröffnet. Der Bau stellte den «Dichter-Architekten» vor etliche Herausforderungen.

Als Max Frisch 1943 zum ersten Mal das Areal besichtigt, auf dem er in den folgenden Jahren ein öffentliches Schwimmbad errichten soll, hat ihn womöglich ein mulmiges Gefühl begleitet.

Während über 450 Jahren hat sich auf der Anhöhe in Zürich Albisrieden der städtische Galgen befunden. Unzählige Menschen sind hier bis 1810 aufgeknüpft worden. Die Scharfrichter lassen die Toten jeweils hängen, bis die Körper an der Sonne verdorrt sind. Dann verscharren sie die Leichen in einer Mulde nebenan.

Heute erinnert nichts mehr an die finsteren Zeiten der Todesurteile. Der Galgen ist längst verschwunden, an seiner Stelle steht das Restaurant des Freibads Letzigraben. An frühen Sommermorgen ist die Badi ein Ort des Friedens und der Ruhe. An Nachmittagen dagegen herrscht buntestes Vergnügen und fröhliches Geschrei.

Gerade Wege gibt es hier nicht. Man geht einmal in weiten Bögen durch die Anlage und einmal im Zickzack um die kleinen Inseln mit den Badetüchern. Zielstrebigkeit führt nirgendwohin: Alles im Bad dient der Zerstreuung seiner Gäste.

Seit 75 Jahren bietet das Letzibad Erholung vom Alltag in der Stadt, der oft genug von Hast und Hetze geprägt ist. Im Sommer 1949 thematisiert die «Schweizer Filmwochenschau» die Eröffnung. Es handle sich bei dem Schwimmbad um eine «erfrischende Oase in der Häuserwüste eines weit vom See entfernten Quartiers», berichtet der «Wochenschau»-Reporter in schwärmerischem Ton.

Dann schickt er sich an, ausführlich auf die Vorzüge dieser «wunderschönen Anlage» einzugehen, zuvorderst auf den 10-Meter-Turm – ein Novum auf dem Zürcher Stadtgebiet.

Zuallererst wird in jenem Filmbeitrag aber ein Name genannt: der des Zürcher «Dichter-Architekten» Max Frisch. Er hat die Gestaltung und den Bau des Freibads Letzigraben verantwortet.

Dabei hatte er so einige Hindernisse zu überwinden.

Max Frischs Karriere als Architekt begann mit einem Grossauftrag: Der 10-Meter-Turm im Letzigraben war der erste auf dem Gebiet der Stadt Zürich.

Berufseinsteiger Frisch landet einen Coup

Die Stadtverwaltung schreibt den Wettbewerb für eine «reizvolle, belebte Schmuckanlage» 1942 aus. Sie erhofft sich von den Entwürfen allerhand – nämlich einen «frohmütigen Badebetrieb», etwa so, wie er im Freibad Allenmoos herrscht. Dieses wurde kurz zuvor in Oerlikon eröffnet und gilt hinsichtlich seiner Gestaltung als Mass der Dinge.

Das sind grosse Erwartungen. Frisch ist 1942 zwar schon 32 Jahre alt und zum ersten Mal verheiratet, als Architekt aber völlig unerfahren. Bis vor drei Jahren war er noch Architekturstudent an der ETH. Gebaut hat er seither nur ein einziges Mal, und erst noch schlecht: Für seinen Bruder hat er in Arlesheim, Baselland, ein «dummes Haus» entworfen. So formuliert er es später selbstkritisch.

Trotzdem reicht Frisch am 15. Mai 1943 seine Entwürfe ein. Er, der nur Architekt geworden ist, um einen «richtigen» Beruf zu haben, tritt beim Wettbewerb als hoffnungsloser Aussenseiter an.

Doch das Preisgericht wählt aus 65 Projekten ausgerechnet seines aus – und zwar einstimmig. Er bekommt den ersten Preis und 3000 Franken. Damit kann er sich in der Selnaustrasse in der Zürcher Innenstadt ein kleines Büro einrichten und zwei Gehilfen anstellen.

Die Presse lobt das Projekt in den allerhöchsten Tönen. In der NZZ heisst es: «An diesem Projekt atmet alles Harmonie und Ruhe . . . Sonne und Licht finden überall ungehinderten Zutritt, und jedes Ding steht an seinem richtigen Platz.»

Über seinen Coup ist Max Frisch augenscheinlich selbst erstaunt. In einem Brief an seinen Freund und Förderer, den Verlegersohn Werner Coninx, bezeichnet er den Auftrag als «ein dermassen voluminöses Schwein», dass er es gar nicht aushalte. In einem Brief an die Mutter bekennt er: «[D]as Glück war mir auf eine ganz unverschämte Weise hold.»

Falls er mit dem ersten Preis gerechnet hat, dann verschleiert er dies im Nachhinein sehr geschickt. Dafür, dass sein Erstaunen echt ist, spricht hingegen der Umstand, dass sich Frisch das künftige Baufeld im Arbeiterquartier Albisrieden erst jetzt aus der Nähe anschaut, da der Auftrag in trockenen Tüchern ist.

Dass er an einer einstigen Hinrichtungsstätte bauen soll, wird ihm noch jahrelang zu denken geben.

Die Sitten verändern sich trotz Interventionen der Polizei

Zu denken gibt im Rückblick noch eine andere Sache: Wie ist dem Berufseinsteiger Frisch dieser Triumph gelungen?

Er stellt mit seinem Entwurf nicht nur ein ausgeprägtes Gespür für harmonische Raumeinteilungen unter Beweis, sondern auch jenen feinen Sinn für den Zeitgeist, der ihn als Schriftsteller später so erfolgreich macht. Er weiss, dass sich die Bedürfnisse der Menschen gerade in einem radikalen Umbruch befinden.

Für Frisch scheint klar zu sein: Es geht beim Baden längst nicht mehr nur um körperliche Ertüchtigung und Hygiene. Das war vielleicht im 19. Jahrhundert noch so, als die ersten städtischen Bäder entstanden sind. Doch im frühen 20. Jahrhundert wird der Ausflug in die Badeanstalt zum unkomplizierten Freizeitvergnügen der breiten Bevölkerung von Zürich. Ausserdem lockern sich die Sitten.

Als das Strandbad am Mythenquai 1922 eröffnet wird, hält sich niemand mehr an die vorgeschriebene Geschlechtertrennung. Selbst die angerückten Polizeikräfte vermögen die alte Ordnung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Frauen und Männer legen sich im Schwimmbad einfach dorthin, wo es ihnen passt. Und wählen auch ihr Badekostüm vermehrt nach modischen und weniger nach moralischen Kriterien aus.

Im Zentrum stehen die Badenden selbst

Die Leute wollen sich zeigen – und auch gesehen werden. Frisch trägt dem Rechnung. Er ordnet die Pavillons mit den Umkleideräumen und das Restaurant, das mit seinem achteckigen Dach aussieht wie ein aufgespannter Sonnenschirm, am Rand der Anlage an.

Die Liegewiese dagegen wird als zentrales Element der Badi definiert und in der Mitte des Ensembles platziert. Die Pointe dieser Architektur sind nicht ihre Bauten, sondern das, was diese umrahmen: die Bassins und der Rasen. Die Badenden selbst.

Mit diesem Zugang behauptet sich Frisch beim Architekturwettbewerb gegen Konkurrenten, die ihm weit überlegen sind, was Erfahrung und Renommee angeht. So geht beispielsweise Karl Egender leer aus, der Erbauer des Hallenstadions in Oerlikon. Das Projekt der Bad-Allenmoos-Erbauer Max Ernst Haefeli und Werner Max Moser schafft es nicht einmal in die Auswahl der besten fünf.

Frisch feiert seinen Gewinn, hat aber auch Zweifel. Der Auftrag ist gross und aufwendig, er weiss noch nicht, wie er es angehen soll: «Ich bin mir heute noch nicht ganz klar, wie ich demnach mein Leben einrichten werde», schreibt er an seine Mutter. Ausserdem kostet der Bau des Freibads viel Geld und muss deshalb vors Volk. Frisch fürchtet, dass die Zürcherinnen und Zürcher einem Schwimmbad inmitten des Zweiten Weltkriegs nicht gewogen sein könnten.

Das Restaurant liegt auf einer Erhebung. Hier befand sich früher der städtische Galgen. Heute aber ist das Schwimmbad ein Ort des Friedens.

Die Kosten sind horrend, Frisch verlässt der Mut

Und dann muss er auch noch lernen, wie man ein Unternehmen mit Angestellten führt. In «Montauk», seinem letzten Roman, erinnert sich Frisch seiner ersten Fehler als Chef des eigenen Büros: «[I]ch stelle einen Hochschulfreund an, . . . biete 500 Franken statt 350 monatlich». Er meint es gut mit seinem Personal, doch der Freund nutzt das aus. Er arbeitet die meiste Zeit an eigenen Plänen.

Er arbeitet fortan nur noch mit dem Landschaftsarchitekten Gustav Ammann zusammen. Weil sie bloss zu zweit sind und Frisch immer wieder ins Militär muss, zieht sich die Planungsphase in die Länge. Mehrere Male verlässt Frisch deswegen der Mut: Als die Pläne 1944 fertig sind, fürchtet er gar, dass das Projekt des Geldes wegen ganz gestoppt wird.

Und tatsächlich: Die berechneten Baukosten von 4,5 Millionen Franken sind der Stadtverwaltung zu hoch. Frisch und Ammann müssen über die Bücher. Ein weiteres Jahr der Ungewissheit vergeht.

Die Erlösung kommt mit dem Kriegsende. Die Baubehörden, das Gesundheitsamt und die Architekten einigen sich auf ein reduziertes Projekt für weniger als 4 Millionen Franken. Wieder ein Jahr später sagen die Zürcherinnen und Zürcher an der Urne deutlich Ja zu einem Kredit über 3,84 Millionen Franken. Ab August 1947 wird gebaut.

Endlich.

Am 18. Juni 1949, einem Samstag, ist Eröffnung. Frisch schreibt in sein Tagebuch: «[E]s ist etwas wie ein wirkliches Fest». Die schwärmerische Reportage der «Schweizer Filmwochenschau» erscheint zwei Wochen später.

Die tatsächlichen Baukosten belaufen sich am Ende trotz den Sparbemühungen auf 4,5 Millionen. Aber die Freude am Schwimmbad scheint so gross, dass an seinem Preis nicht genörgelt wird.

18 Möglichkeiten, nass zu werden

Seit 1949 sind in Zürich ein Seebad und vier weitere Freibäder realisiert worden. Jeden Sommer verwandelt sich die Stadt dadurch in einen regelrechten Badeort. In 18 Bädern in allen Quartieren glitzert das kühlende Wasser und locken die Schilder mit den Köstlichkeiten der Kiosks.

Diesen vielfältigen Versuchungen widmet sich auch ein neues Buch. Das «Züribadibuch» geht der Geschichte und den Eigenheiten aller Zürcher Bäder seit 1840 nach – und macht mit zahlreichen lesenswerten Anekdoten und einer reichen Bebilderung noch mehr Lust auf Sommer, als in diesem verregneten Jahr ohnehin schon aufgekommen ist.

Die besondere Schönheit der Badi im Letzigraben kommt auch im «Züribadibuch» zur Geltung. 7500 Besucherinnen und Besucher tummeln sich dort an Tagen mit gutem Wetter. Und in der Stadtzürcher Mundart ist längst nur noch vom Max-Frisch-Bad die Rede, wenn der Letzigraben gemeint ist.

Tina Schmid: Züribadibuch. Scheidegger und Spiess, 2024. 232 S., ca. 49.–.

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