Freitag, November 22

Zurück auf Feld eins: Die Schweiz befindet sich erneut auf dem Weg zu Negativzinsen. Doch dieses Experiment sollte nicht wiederholt werden – selbst wenn die Inflation kurzzeitig ins Negative kippt.

Ist es zu warm oder zu kalt? Diese Frage sorgt in vielen Haushalten für Streit. Die einen wollen die Heizung ständig aufdrehen, die anderen schwitzen und ärgern sich über die vermeintlich zu hohe Temperatur. Doch nicht nur zu Hause ist unterschiedliches Kälteempfinden ein Grund für Gezänk. Auch im Wirtschaftsleben ist es so. Nur wird dort nicht über die Einstellung des Thermostats gestritten. Der Konflikt entzündet sich am Zinsniveau, das man sich auch als ökonomisches Thermometer vorstellen kann.

Interesse an billigem Geld

Denn erhöht man die Zinsen, kühlt sich die Konjunktur ab. Senkt man sie, wird das ökonomische Treiben angeheizt und die Temperatur steigt. Welche Massnahme bevorzugt wird von Politikern und Investoren, liegt auf der Hand. Um teure Geschenke an Wähler zu finanzieren oder um lukrative Investitionen am Finanzmarkt zu tätigen, sind beide Gruppen auf billiges Geld erpicht. Also ruft diese unheilige Allianz, die ständig zu frösteln scheint, lautstark nach niedrigen Zinsen.

In den vergangenen Monaten lief es gut für die Freunde des billigen Geldes. So haben die Zentralbanken schnell auf das Abflauen der Inflation reagiert und die Zinsen gesenkt. Doch vielen Investoren geht das zu langsam, sie drängen auf mehr Tempo. Seit geraumer Zeit preisen die Finanzmärkte – vor allem in den USA – eine aggressivere Lockerung der Geldpolitik ein, als dies die Notenbanken tun. Dahinter steckt auch der Glaube, dass man das Erhoffte nur vorwegnehmen muss, um es auszulösen. Die normative Kraft des Faktischen wirkt vielerorts.

Nicht nur in den USA und im Euro-Raum, sondern auch in der Schweiz sind die Leitzinsen deutlich gesunken. So leitete die Schweizerische Nationalbank (SNB) im März als erste grosse Währungsbehörde die Zinswende ein. Dem überraschenden Vorpreschen folgten zwei weitere Zinssenkungen. Heute liegt der Leitsatz nur noch bei 1 Prozent, wobei dieses Niveau nicht lange anhalten dürfte. So hat die SNB im September bei ihrer geldpolitischen Lagebeurteilung unzweideutig angetönt, dass im Dezember wohl eine weitere Lockerung folgen wird.

«Ökonomischer Unsinn»

Die Nationalbank steht daher bei ihrem Zinsentscheid vom 12. Dezember unter Zugzwang. Ob sie dann den Satz auf 0,75 oder gar auf 0,5 Prozent anpassen wird, bleibt abzuwarten. An einer Zinssenkung führt aber kaum ein Weg vorbei, nachdem man die Märkte – trotz bisheriger Aversion gegen eine Politik der Forward Guidance – darauf vorbereitet hat. Damit nähert sich die Schweiz wieder der Nullzins-Grenze. Dabei hatte man erst vor zwei Jahren, im September 2022, diese Grenze von unten durchbrochen.

Damals, nach 92 endlos scheinenden Monaten mit negativer Verzinsung, war die Erleichterung gross. «Hurra, das Ende der Negativzinsen ist da», titelte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse – sonst eher nicht für Überschwang bekannt. Negativzinsen seien ökonomischer Unsinn, erklärte der Verband. Denn der Zins sei der Preis des Geldes, und wenn man für ein Gut nichts bezahlen müsse, werde es übernutzt, und man gehe liederlich damit um. Ähnliche Worte der Erleichterung gab es viele. Man hoffte, dieses Kapitel ein für alle Mal abgeschlossen zu haben.

Weit gefehlt. Heute muss man sich erneut an den Gedanken gewöhnen, dass das unkonventionelle Regime zurückkehren könnte. In der Schweiz, traditionell eine Zinsinsel mit niedrigeren Sätzen als im Ausland, ist die Gefahr besonders gross. Zwar wäre dies kein geldpolitisches Neuland mehr; so hat die SNB fast acht Jahre lang bewiesen, dass sie operativ in der Lage ist, den Leitzins auch bei negativem Vorzeichen genau dorthin zu steuern, wo sie ihn haben will. Doch nur weil etwas möglich ist, muss es noch lange nicht gut sein.

Schwere Nebenwirkungen

Denn mit einer Rückkehr zu ultratiefen Zinsen würden auch deren Nebenwirkungen wieder akut. Die ohnehin schon heisse Luft an den Aktien- und Immobilienmärkten würde noch heisser. Entsprechend stiege die Gefahr von Blasen. Das viele billige Geld strömte wieder in grosser Menge in Sachwerte, zumal mit Zinspapieren – geschweige denn Sparkonten – keine Rendite mehr zu erzielen wäre. Wohlhabende mit grosszügigen Immobilien- und Aktienbeständen würden profitieren, Geringverdiener ohne solche Portfolios hätten das Nachsehen.

Extrem tiefe Zinsen hätten zur Folge, dass Anleger – darunter auch Pensionskassen – wieder höhere Risiken eingehen müssten, um noch etwas zu verdienen. Aber nicht nur an den Finanzmärkten stiege die Gefahr von exzessiven Risiken und Fehlallokationen. Wenn der Zins kein zuverlässiges Signal mehr ist für die Rentabilität von Investitionen, würden auch viele Firmen ihr Geld in Projekte stecken, die sich bei positiven Zinsen nie rechnen würden. All diese Verzerrungen wären der Stabilität des Finanzsystems und der Volkswirtschaft wenig zuträglich.

Das weiss die Nationalbank. Denn zu deren Aufgaben gehört ja nicht nur die Preisstabilität, sie muss auch zur Finanzstabilität beitragen. Bei der Nationalbank dürfte sich daher kaum jemand Null- oder Negativzinsen zurückwünschen. Zwar schliesst man dies nicht aus. Doch bevor die SNB das Rezept erneut aus dem Giftschrank holt, dürfte sie zuerst versuchen, mit Devisenkäufen eine monetäre Lockerung zu bewirken. Das hätte aber zur Folge, dass die SNB-Bilanz mit ihren 740 Milliarden Franken schweren Devisenanlagen weiter aufgebläht würde.

Übertriebene Deflationsängste

Oft heisst es, die SNB müsse den Leitzins zügig senken, weil sonst eine Deflation, also ein Rückgang des allgemeinen Preisniveaus, drohe. In einer Analyse hat kürzlich das britische Forschungsunternehmen Capital Economics auf diese Gefahr hingewiesen. Begründet wurde dies mit der Erwartung, dass der Erdölpreis sinkt, der Franken sich aufwertet und die Mieter dank Absenkung des hypothekarischen Referenzzinses wohl bald eine Mietreduktion einfordern können. Es gebe mehrere Risiken, die 2025 zu einer Deflation führen könnten, so das Fazit der Analyse.

Ist von Deflation die Rede, zucken viele reflexartig zusammen. Vor dem inneren Auge erscheinen Bilder der Grossen Depression der 1930er Jahre. Dass die damalige Deflation verheerend war, ist unumstritten. Tatsache ist aber auch, dass bei keinem anderen wirtschaftlichen Phänomen so schrill übertrieben wird. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat einst den Zusammenhang von Deflation und Wachstum über 140 Jahre hinweg in 38 Ländern untersucht. Sie entdeckte kaum einen Zusammenhang, mit Ausnahme der Grossen Depression.

Eine moderate Deflation ist keineswegs das Schreckgespenst, als das sie oft dargestellt wird. Wenn das Preisniveau für eine gewisse Zeit sinkt, heisst das noch nicht, dass Unternehmen reihenweise kollabieren und der Konsum einbricht, weil niemand mehr Geld ausgibt, da in Zukunft ja alles noch ein bisschen billiger sein könnte. In der Schweiz weiss man das. Hier gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Phasen mit leicht negativer Inflation. Die Wirtschaft steckte das gut weg.

Willkommener Kaufkraftgewinn

Dass die Deflationsängste übertrieben sind, zeigen auch die Daten. Zwar liegt die Inflation mit 0,6 Prozent im unteren Bereich des Zielkorridors von 0 bis 2 Prozent. Das ist aber allein den Importen zu verdanken, die sich dank starkem Franken verbilligt haben. Die Teuerung inländischer Güter liegt dagegen nur knapp unter zwei Prozent. Hinzu kommt, dass der Abwärtstrend der Teuerung in den USA und im Euro-Raum jüngst ins Stocken geraten ist und die Wirtschaftspläne von Donald Trump den Inflationsdruck eher wieder erhöhen. Nach Deflation sieht das nicht aus.

Und selbst wenn es dazu käme: Die Aussicht auf leicht sinkende Preise sollte für die SNB kein Grund sein, den ohnehin geringen zinspolitischen Spielraum voll auszuschöpfen. Eine Phase mit negativer Inflation liesse die Kaufkraft im Land steigen, was nach Jahren mit teuerungsbedingtem Kaufkraftverlust keine Katastrophe wäre. Auch wird der Einfluss der Zinsdifferenz auf den Frankenkurs oft überschätzt. Nur weil der Leitzins einige Prozentpunkte tiefer liegt, wird sich ein Anleger auf der Suche nach einem sicheren Hafen nicht vom Franken abwenden.

Sollte die Inflation in der Schweiz für eine begrenzte Zeit unter null fallen, ginge das Land nicht unter. Ein solcher Zustand wäre zwar nicht ideal, die Nebenwirkungen wären aber weniger schlimm als bei einem Regime, bei dem Geld keinen Preis mehr hat, die Orientierung fehlt und das öffentliche Vertrauen ins Geldsystem erodiert. Die Rufe jener Investoren und Politiker, die dennoch auf ultratiefe Zinsen drängen, weil sie sich dann umsonst verschulden können, darf man getrost überhören. Dieser Gruppe ist es ohnehin immer zu kalt.

Exit mobile version