In der Schweiz geht das Gefühl um, dass es dem Mittelstand immer schlechter gehe. Doch die Zahlen zeigen das Gegenteil – eine Übersicht in Grafiken.
Die Abstimmungsplakate zeigen ein drastisches Bild. Die eine Kurve geht steil nach oben: Die Krankenkassenprämien haben seit 1997 um 158 Prozent zugenommen. Die andere Kurve hingegen ist fast flach: Die Löhne sind angeblich nur um 12 Prozent gestiegen. So stellen es die Befürworter der Prämienentlastungsinitiative dar, über die die Schweizerinnen und Schweizer am 9. Juni abstimmen werden.
Die auseinanderklaffenden Kurven halten eine simple Botschaft bereit: Die Prämienlast überfordert die Bevölkerung. Damit spielen die Initianten auf das Gefühl an, dass es dem Schweizer Mittelstand immer schlechter gehe. Gerade in den vergangenen Jahren wurde geklagt, dass die hohe Inflation, die wachsenden Krankenkassenprämien und die steigenden Mieten die Mittelschicht wirtschaftlich unter Druck setzen würden.
Blutet der Schweizer Mittelstand tatsächlich aus? Wir analysieren die Lage der Mittelschicht anhand von Grafiken.
1. Der Mittelstand ist stabil
Entgegen den Klagen lässt sich feststellen: Der Schweizer Mittelstand ist stabil wie ein Fels. In den vergangenen zwei Jahrzehnten machte er stets zwischen 55 und 60 Prozent der Bevölkerung aus – mit kleinen, aber statistisch nicht signifikanten Schwankungen. Das zeigen die Erhebungen des Bundesamtes für Statistik (BfS).
Der Mittelstand wird dabei definiert als die Haushalte, deren Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens (Median) liegen. Darüber sind die Einkommensstarken, darunter ist der einkommensschwache Teil der Bevölkerung zu finden.
Der Mittelstand umfasst also eine breite Mehrheit der Schweizer Bevölkerung. Zudem ist er seit 2000 praktisch unverändert geblieben, obwohl es zahlreiche Wirtschaftskrisen gegeben hat – wie die Finanzkrise von 2007/08 und die Corona-Krise von 2020/21. Das spricht für eine grosse Resilienz. Daten für die Jahre 2022 und 2023 liegen noch nicht vor. Aber angesichts der langfristig stabilen Entwicklung dürfte die Mittelschicht jüngst kaum geschrumpft sein.
2. Die Klage über die Prämienlast ist übertrieben
Ein Teil des Unbehagens über den Zustand der Mittelstands geht auf die wachsenden Krankenkassenprämien zurück. Tatsächlich hat die durchschnittliche Prämie für die obligatorische Krankenversicherung seit 1997 um 158 Prozent zugenommen, wie die Initianten der Prämienentlastungsinitiative korrekt festhalten.
Doch in dieser Zeit haben sich auch die Löhne und Einkommen der Haushalte erhöht. Für die Betroffenheit der Menschen relevanter ist deshalb die Frage, welchen Anteil ihres Einkommens sie für die Krankenkassenprämien ausgeben.
Vergleichbare Daten gibt es ab 2006 auf Basis der jährlichen Haushaltsbudgeterhebungen des BfS. Im Jahr 2006 wendete der durchschnittliche Haushalt (Mittelwert) 5,6 Prozent seines Bruttoeinkommens für die obligatorischen Krankenkassenprämien auf. In den Jahren 2021 bis 2023 sind es rund 7 Prozent gewesen. Auf etwas höhere Werte kommt man, wenn man den Anteil am verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen) betrachtet. Hier ist die Belastung von 7 auf 9 Prozent gestiegen.
Der typische Mittelschicht-Haushalt wendet also heute tatsächlich deutlich mehr für die Krankenkassenprämien auf als noch vor zwei Jahrzehnten. Dennoch kann man kaum von einer «Explosion» sprechen. Der Durchschnittshaushalt zahlt gegenwärtig weniger als den Schwellenwert von 10 Prozent des verfügbaren Einkommens, den die Prämienentlastungsinitiative als tragbar definiert.
Warum die Prämienlast weniger stark gestiegen ist, als oft beklagt wird, zeigt ein Rechenbeispiel. Die durchschnittliche Krankenkassenprämie hat sich zwischen 1996 und 2022 von 128 auf 314 Franken pro Monat erhöht. Das ist eine Zunahme von 186 Franken – oder dramatisch wirkenden 150 Prozent.
Doch die Löhne sind noch viel stärker gewachsen. So stieg der mittlere Lohn (die Hälfte der Erwerbstätigen verdient mehr, die andere Hälfte weniger) laut den Lohnstrukturerhebungen des BfS von 5057 Franken brutto pro Monat im Jahr 1996 auf 6788 Franken im Jahr 2022.
Das absolute Lohnplus betrug also 1731 Franken (+34 Prozent). Davon gingen 186 Franken pro Person für höhere Krankenkassenprämien weg. Dem Durchschnittsverdiener aus dem Mittelstand blieb also viel Geld für andere Dinge übrig.
Weshalb zeigen die Initianten auf ihren Abstimmungsplakaten denn eine Lohnsteigerung von lediglich 12 Prozent? Es handelt sich dabei um die Entwicklung der Reallöhne. Doch das ist ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen: Bei den Löhnen die allgemeine Teuerung herauszurechnen und bei den Krankenkassenprämien nicht, ist unredlich. Zudem bieten Prozentvergleiche ein verzerrtes Bild, wenn die Ausgangsbasis so unterschiedlich ist wie bei den Löhnen und den Prämien.
3. Konstante Ausgaben fürs Wohnen
Neben den Prämien machen sich viele Schweizerinnen und Schweizer Sorgen über die steigenden Mieten. Die Mittelschicht könne sich bald keine bezahlbare Wohnung mehr leisten, heisst es oft.
Doch auch hier zeigen die Daten ein anderes Bild: Die Ausgaben fürs Wohnen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten erstaunlich stabil geblieben. Der Schweizer Durchschnittshaushalt (Mittelwert) gab zwischen 2006 und 2023 rund 15 Prozent seines Bruttoeinkommens für Wohnen und Energie aus. Während der 2010er Jahre sank die Belastung. Erst ab 2022 hat sie wieder zugenommen.
Wie kommt dieses kontraintuitive Resultat zustande? Zum einen wird in der öffentlichen Debatte meist nur auf die sogenannten Angebotsmieten geblickt. Sie werden von Personen bezahlt, die eine neue Wohnung beziehen. Die Angebotsmieten sind vor allem in den Grossstädten stark gestiegen.
Ein grosser Teil der Mieter wohnt jedoch schon länger in ihren Wohnungen. Sie zahlen sogenannte Bestandesmieten. Diese sind in den 2010er Jahren leicht gesunken, weil der hypothekarische Referenzzinssatz, an die sie regulatorisch gekoppelt sind, zurückgegangen ist. Insgesamt hat dies die Wohnkostenbelastung für die Mieterhaushalte gedämpft. Erst mit der erstmaligen Erhöhung des Referenzzinssatzes ab 2023 sind die Bestandesmieten wieder gestiegen.
Zum andern wohnen 36 Prozent der Schweizer Haushalte in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus. Sie zahlen also keine Miete, sondern Hypothekarzinsen plus Nebenkosten und Energie. Wegen der tiefen Zinsen dürften die Wohnkosten der Personen mit Wohneigentum in den 2010er Jahren zurückgegangen sein (gesonderte Zahlen dazu liegen nicht vor). Über alle Mieter- und Eigentümer-Haushalte hinweg sind die Wohnkosten im Durchschnitt stabil geblieben.
4. Die Kaufkraft hat jüngst gelitten
Es gibt einen Punkt, bei dem die Klagen über ein Zurückfallen des Mittelstands berechtigt sind. Die durchschnittlichen Reallöhne sind zwischen 2021 und 2023 drei Jahre in Folge gesunken. Das geht aus dem Lohnindex des BfS hervor. Der typische Mittelschicht-Haushalt hat also in den letzten Jahren an Kaufkraft verloren.
Der Hauptgrund dafür war die aufflammende Inflation in den Jahren 2022 und 2023, in denen die Teuerung in der Schweiz zeitweise auf 3,5 Prozent stieg. In vielen Branchen sind die Löhne nicht genügend erhöht worden, um die Inflation wettzumachen.
Dennoch sollte die Lage nicht dramatisiert werden. Von 2000 bis 2020 hatten die durchschnittlichen Reallöhne deutlich zugenommen. Es wäre auch erstaunlich gewesen, wenn sich die Pandemie sowie der Ukraine-Krieg mit den darauffolgenden Teuerungsschüben nicht auf die Schweiz ausgewirkt hätten. Trotz der schwierigen Weltlage ist die Bevölkerung relativ glimpflich davongekommen.
Ferner sollte es von nun an wieder nach oben gehen: Laut den Prognosen der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) werden die Reallöhne in den Jahren 2024 und 2025 wieder steigen.
5. Die Kaufkraft ist viel höher als in den Nachbarländern
In der Nabelschau mag der jüngste Rückgang der Kaufkraft beklagenswert erscheinen. Doch die Schweiz bleibt eine Wohlstandsinsel in Europa. Hierzulande kann man sich mit einem Durchschnittslohn immer noch deutlich mehr leisten als in den Nachbarländern – selbst wenn die unterschiedlichen Preisniveaus berücksichtigt werden.
Die Kaufkraft des Schweizer Durchschnittslohns lag laut OECD-Daten im Jahr 2022 um 14 Prozent höher als in Österreich und um 24 Prozent höher als in Deutschland. Kaum tauschen würden die Schweizer mit dem italienischen Durchschnittsverdiener wollen, denn sie können sich 63 Prozent mehr leisten als er, und in Italien stagniert die Kaufkraft seit langem. Im Gegensatz dazu haben die Schweizer seit der Jahrtausendwende an Kaufkraft gewonnen und ihren Vorsprung gegenüber den Nachbarländern gehalten.
6. Keine zunehmende Kluft zwischen Reich und Arm
Viele Menschen blicken nicht nur auf den eigenen Wohlstand, sondern vergleichen sich mit anderen. Die Ungleichheit sei in der Schweiz grösser geworden, wurde in den vergangenen Jahren oft kritisiert. Dabei mögen hohe Managerlöhne eine Rolle gespielt haben.
Doch die Wahrnehmung einer wachsenden Kluft deckt sich nicht mit den Daten. Die Löhne in der Schweiz sind in den letzten Jahrzehnten über alle Einkommensklassen hinweg relativ gleichmässig gestiegen.
Laut der jüngsten Lohnstrukturerhebung des BfS nahmen von 2008 bis 2022 die Löhne der am besten bezahlten 10 Prozent der Arbeitnehmer um 13,5 Prozent zu. In der Mitte war die Lohnsteigerung mit 11,5 Prozent etwas geringer. Am meisten legten die Löhne der am schlechtesten bezahlten 10 Prozent zu, mit einem Plus von 14,3 Prozent.
Die Debatte über Ungleichheit dürfte vor allem von der amerikanischen Perspektive beeinflusst sein. In den USA ist die Kluft zwischen Arm und Reich tatsächlich aufgegangen. Die Topverdiener (oberstes Prozent) vereinnahmen heute rund 20 Prozent der gesamten Einkommen in der amerikanischen Wirtschaft. Das ist doppelt so viel wie noch 1980.
Im Gegensatz dazu hat die Einkommensungleichheit in der Schweiz nicht zugenommen. Der Anteil der Topverdiener an den Gesamteinkommen schwankt seit Jahrzehnten rund um 10 Prozent. Auch wenn die Wahrnehmung der Bevölkerung eine andere ist: In der Schweiz herrschen keine amerikanischen Verhältnisse.
7. Der Mittelstand ist zufrieden mit dem Leben
Materieller Wohlstand ist wichtig. Aber am Ende ist für viele Menschen entscheidend, ob sie ein gutes Leben führen können. Das hängt von vielen weiteren Faktoren ab wie dem Ausmass persönlicher Freiheiten oder der Qualität sozialer Kontakte.
Ein breites Mass für Wohlfahrt ist die Lebenszufriedenheit. Sie wird in der Schweiz regelmässig in repräsentativen Umfragen erhoben.
Von 2007 bis 2022 hat nur eine Gruppe in der Schweiz signifikant an Lebenszufriedenheit eingebüsst: Es ist der einkommensärmste Teil der Bevölkerung. Bei der unteren Mittelschicht ist die Lebenszufriedenheit geringfügig, aber nicht signifikant zurückgegangen.
Hingegen sind die mittlere und die obere Mittelschicht sowie die Einkommensstarken seit 15 Jahren fast unverändert zufrieden mit dem Leben. Mit Werten von über 8 – auf einer Skala von 0 (gar nicht zufrieden) bis 10 (vollumfänglich zufrieden) – liegt ihre Lebenszufriedenheit hoch.
Insgesamt deutet nichts auf einen Niedergang der Schweizer Mittelschicht hin. Dem Mittelstand geht es gut. Er macht einen breiten und stabilen Teil der Bevölkerung aus. Er ist im internationalen Vergleich enorm kaufkräftig. Und er erfreut sich einer hohen Lebenszufriedenheit.