Mittwoch, Oktober 9

Seit Jahren weisen Kritiker auf Missstände in Schweizer Gefängnissen hin. Vor allem die Untersuchungshaft sei «grundrechtswidrig» und steigere die Suizidgefahr, sagen sie. Kommen jetzt Reformen?

Es gibt in der Schweiz einen Verein, der zählt, wie viele Häftlinge in Schweizer Gefängnissen, in Polizeigewahrsam oder im Massnahmenvollzug gestorben sind. Der Verein Humanrights.ch veröffentlicht diese Todesfälle auf seiner Website und vermerkt neben dem Datum jeder Meldung die Todesursache. Wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind, schreibt der Verein da: «Suizid», oder konkreter: «Erhängt» oder «Sprung aus Fenster».

Die Universität Lausanne zählt im Auftrag des Europarates diese Todesfälle ebenfalls. Allerdings nicht nur in der Schweiz, sondern in 45 Mitgliedsstaaten. In Deutschland, Frankreich, Serbien, dem autoritären Aserbaidschan. Doch abgesehen von Lettland verzeichnet die Schweiz im Strafvollzug die höchste Suizidrate.

2022 nahmen sich im Durchschnitt der Mitgliedsländer von 10 000 Insassen eines Landes 7,1 Personen das Leben. In der Schweiz waren es 20,2. In absoluten Zahlen bedeutet das: Von 17 Personen, die im Strafvollzug verstarben, nahmen sich 13 nachweislich selbst das Leben. Schon 2021 zählte die Statistik des Europarates die Schweiz zu den Ländern mit «sehr hoher» Sterblichkeitsrate im Strafvollzug.

Im selben Jahr protestierten in der Justizvollzugsanstalt Thorberg 80 Häftlinge mit einem Brief gegen die Haftbedingungen. Einer dieser Häftlinge, der in Untersuchungshaft sass, umwickelte sich mit Papier und zündete sich an. Er überlebte.

Systemwechsel «dringend angezeigt»

Seit Jahren gibt es in der Schweizer Öffentlichkeit Kritik am Strafvollzug. Insbesondere die Bedingungen in Untersuchungshaft, dem Status mit den weitgehendsten Einschränkungen, kritisieren Menschenrechtsorganisationen im Jahresrhythmus. Zusammengefasst lautet die Kritik: Zwangsmassnahmengerichte ordneten die Untersuchungshaft zu oft und zu lange an.

2014 kritisierte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF), eine Organisation, die mit gesetzlichem Auftrag die Haftbedingungen in Schweizer Gefängnissen kontrolliert, die Bedingungen in der Untersuchungshaft. Sie schrieb, «Zelleneinschlüsse» von mehr als 20 Stunden am Tag seien «grundrechtswidrig» und die Untersuchungshaft sei eine Zwangsmassnahme und keine Strafe. Ein Systemwechsel sei deshalb «dringend angezeigt».

Livia Schmid vom Verein Humanrights.ch sagt: «Das Haftregime während der Untersuchungshaft ist in den meisten Anstalten untragbar.» Wie die NKVF verweist auch Schmid auf die Isolation der Inhaftierten in ihren Zellen, die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten mit Angehörigen. Zudem, so Schmid, seien die Strafgerichte angeblich überlastet, weshalb sich die Untersuchungshaft immer weiter verlängere.

Die Untersuchungshaft ist laut Schmid mit einer enormen psychischen Belastung verbunden. Für viele sei die Verhaftung ein Schock, hinzu kämen Isolation vom sozialen Umfeld, Zukunftsängste, Schamgefühle. All das könne zu einer Haftpsychose führen und das Suizidrisiko steigern. Schmid sagt: «Wenn wir Menschen in dieser Situation 23 Stunden in eine Zelle sperren, richten wir viel Schaden an, und doch machen wir unsere Gesellschaft nicht sicherer.»

Alternativen und Reformen

Schmid empfiehlt deshalb, Inhaftierten mehr Kontakt zu den Angehörigen und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Zudem seien bei geringfügigeren Verdachtsmomenten auch Alternativen zur Untersuchungshaft wie Electronic Monitoring denkbar, also die digitale Überwachung der Verdächtigen.

Grundsätzlich kritisiert Schmid den fehlenden politischen Willen, an den Bedingungen der Untersuchungshaft etwas zu ändern. Doch eine politische Lösung ist kompliziert. Die gesetzlichen Grundlagen der Untersuchungshaft sind kantonal geregelt. Die NKVF empfahl deshalb bereits 2014, «schweizweit gültige Richtlinien für den Vollzug der Untersuchungshaft zu erlassen».

Im Herbst 2023 hat sich die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) eingehend mit der Kritik an der Untersuchungshaft befasst. In einem entsprechenden Bericht gibt sie der Kritik der NKVF weitgehend recht und bringt die Idee eines Phasenmodells auf.

Nach diesem Modell soll sich in einer ersten Phase von maximal 30 Tagen entscheiden, ob eine Person sich selbst oder andere gefährdet oder ob Verdunkelungsgefahr besteht. Trifft das nicht zu und erweist sich eine Person als «gruppentauglich», treten in der zweiten Phase Lockerungen in Kraft.

Das bedeutet für die Insassen eine längere Öffnung ihrer Zellen und Gruppenvollzug, also Kontakt zu Mitinhaftierten. Sobald der Stand einer Strafuntersuchung es zulässt, beginnt Phase drei. Insassen haben die Möglichkeit, zu arbeiten, an Bildungsprogrammen teilzunehmen. Zudem werden die Kontaktbeschränkungen nach aussen gelockert.

Dieses Phasenmodell beruht auf Empfehlungen und ist rechtlich nicht verbindlich. Es liegt an den einzelnen Vollzugsanstalten, es umzusetzen. Laut der KKJPD haben beispielsweise gewisse Anstalten im Kanton Zürich in den letzten Jahren und Monaten bereits Reformen umgesetzt.

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