Jahrzehntelang standen Münzen und Noten für Stabilität, Sicherheit und Freiheit. Doch für jüngere Generationen ist Bargeld vor allem unflexibel und lästig. Die Kultur des Bezahlens verändert sich.
Neben dem Fussballklub ist den Baslerinnen und Baslern kaum etwas so lieb und heilig wie ihr «Drämmli». Vor zwei Wochen allerdings sorgten die Basler Verkehrsbetriebe (BVB) und der Tarifverbund Nordwestschweiz (TNW) für mächtig Ärger: Ab 2027, wenn rund 500 Ticketautomaten ersetzt werden müssen, ist in ihrem Verkehrsgebiet endgültig Schluss mit Bargeld: Die neuen Geräte werden althergebrachtes Münz nicht mehr annehmen.
In den Kommentarspalten der lokalen Medien hagelte es Kritik: Einmal mehr werde über den Kopf der Bürger hinweg entschieden, ärgerten sich die Leserinnen und Leser. Der Schritt sei «total respektlos gegenüber älteren Personen» und jenen, die keine Debitkarten besässen. Ausgerechnet jetzt, wo das Bargeld in der Bundesverfassung verankert werden solle, setzten die BVB auf bargeldloses Bezahlen. Tatsächlich hatte der Nationalrat fast zeitgleich mit dem umstrittenen Basler Entscheid einen Verfassungsartikel gutgeheissen, wonach Münzen und Banknoten immer in genügender Menge verfügbar sein müssen.
Die Revision ist Ausdruck eines wachsenden Unbehagens über den immer rascheren Rückzug des Bargelds aus dem Alltag. Vor zwei Jahren lancierte ein Komitee um den St. Galler SVP-Nationalrat Lukas Reimann eine Volksinitiative für den Erhalt des Bargeldes. Die Befürworter befürchten eine vollständige Abschaffung des Bargelds. Dies könnte zu mehr Überwachung und Abhängigkeit von elektronischen Systemen führen, befürchten sie.
Twinten wird zur Volkskultur
Doch auch wenn die Politik den Initianten nun entgegenkommt: Der Trend zur praktisch bargeldlosen Schweiz scheint nicht mehr aufzuhalten. Zu bequem ist es, mit dem Smartphone den passenden Betrag sekundenschnell zu überweisen. In einer neuen Umfrage der Schweizerischen Nationalbank (SNB) geben zwar 95 Prozent der Befragten an, auch in Zukunft nicht auf Bargeld verzichten zu wollen. Doch kaum stehen die Schweizerinnen und Schweizer an der Kasse, halten sie – Treueschwur hin oder her – routiniert ihre Karte oder ihr Smartphone an das digitale Lesegerät.
Beim täglichen Bezahlen im Supermarkt, am Schalter oder am Automaten hat die Debitkarte (35 Prozent aller Transaktionen) das Bargeld (30 Prozent) als meistgenutztes Zahlungsmittel mittlerweile uneinholbar abgelöst. Bezahl-Apps wie Twint und Apple Pay holen mit 18 Prozent rasch auf, auf dem vierten Rang folgt die Kreditkarte. Heute werden 67 Prozent der Zahlungen mit bargeldlosen Zahlungsmitteln getätigt – nur 30 Prozent in Cash. Vor acht Jahren war das Verhältnis noch genau umgekehrt. So erstaunt es nicht, dass Twint bereits zum zweiten Mal in Folge zum beliebtesten Unternehmen der Schweiz gewählt wurde – noch vor Marken-Urgesteinen wie Zweifel, Ricola oder Migros.
Die Corona-Pandemie, während deren vom Bezahlen mit Münzen und Banknoten abgeraten wurde, hat Twint und anderen digitalen Bezahl-Apps einen enormen Schub verliehen. Zwischen 2019 und dem Ende der Pandemie im Jahre 2022 hat sich die Zahl der Transaktionen mehr als verzehnfacht, von 37 auf 386 Millionen. 2024 waren es bereits 773 Millionen. Dies spiegelt sich auch im Notenumlauf wider: Seit 2022 weist die Schweizerische Nationalbank (SNB) einen sinkenden Notenumlauf aus.
Wie stark der beliebteste Bezahldienst die Schweizer Lebensart prägt, zeigt sich auch im alltäglichen Sprachgebrauch: Während Begriffe wie «Fünfliber» oder «Batzen» langsam aus der Mode kommen, ist das Verb twinten, twinter, twintare oder twintar als Synonym für das Bezahlen mit dem Smartphone umgangssprachlich längst in allen Landesteilen verankert. Man kann es auch direkter ausdrücken: Alle lieben Bargeld, aber immer weniger nutzen es.
Dabei hatte das Bargeld in der Schweiz über seine wirtschaftliche Funktion hinaus lange Zeit eine besondere kulturgeschichtliche Bedeutung. Nur zwei Jahre nach der Gründung des Bundesstaates wurde der Schweizerfranken im Mai 1850 offizielles Zahlungsmittel. Auf Anraten des Basler Bankiers und Finanzexperten Johann Jakob Speiser orientierte sich die neue Schweizer Währung am französischen Franc, dem sie sogar im Verhältnis 1:1 nachgebildet wurde. Der Schweizerfranken wurde in der Folge nie ernsthaft angetastet, während andere Institutionen wie die Schweizer Armee an der Urne zur Disposition standen. Damit gehört der Franken neben dem britischen Pfund zu den ältesten noch existierenden europäischen Währungen.
Auch äusserlich hat sich der Einfränkler seit 175 Jahren wenig verändert, während von der weichen Lira bis zur harten D-Mark viele andere Währungen längst unwiederbringlich untergegangen sind. In der Schweiz wird der harte Franken in unsicheren Zeiten erst recht zum Identitätsmerkmal. Er steht für wirtschaftliche Sicherheit und ist Sinnbild für Schweizer Tugenden wie Sparsamkeit und Eigenverantwortung.
Jugendlohn statt Sparbüchlein
In den 1970er Jahren versuchten die Banken die Kinder ihrer Kunden mit der Abgabe von Sparkässeli frühzeitig an den Umgang mit Geld zu gewöhnen und an sich zu binden. Marketing verband sich dabei ganz harmonisch mit erzieherischem Kalkül: Wer sein Geld sorgsam zur Seite legt und sicher aufbewahrt, hat später mehr vom Leben. Verdichtet wird die helvetische Liebe zum Kleingeld im Kinderreim: «Hüt en Rappe, morn en Rappe, git e schöni Zipfelchappe». So wurde dem Nachwuchs die Spar- und Schuldenbremsen-Mentalität von klein auf Münze für Münze eingetrichtert.
Doch heute wächst eine Generation heran, für die Bargeld nicht mehr fassbare Verlässlichkeit und Sicherheit bedeutet, sondern Umständlichkeit, Ballast und mangelnde Flexibilität. Bis ins Primarschulalter ist Bargeld für Kinder zwar nach wie vor das wichtigste Zahlungsmittel. Anhand der einzelnen Münzen und Scheine lernen sie den Wert des Geldes zu erfassen. Doch danach ist das traditionelle Sackgeld in vielen Familien passé. Bezahlt wird stattdessen ein «Jugendlohn», monatlich per Dauerauftrag diskret überwiesen auf das Bankkonto. So propagieren es Finanzinstitute und Jugendberatungsstellen, um frühzeitig den Umgang mit dem bargeldlosen Zahlungsverkehr zu erlernen.
Der globale Onlinehandel, der für die nach 2010 geborene Generation Alpha von Kindesbeinen an mindestens so selbstverständlich ist wie das Einkaufen in der Stadt, beschleunigt den Wandel. Weil sich mit Cash in der neuen Shopping-Welt längst nicht mehr alle Wünsche erfüllen lassen, schränkt es vor allem ein. Die Datenspur, die mit jedem bargeldlos bezahlten Einkauf länger wird, stört in einer von Social Media geprägten Gesellschaft kaum noch. So verkehrt sich der besondere Wert, der über Jahrhunderte mit Scheinen und Münzen verbunden war, sukzessive in sein Gegenteil. Bargeld hat im Alltag fast nur noch Nachteile.
Das gilt teilweise auch für die Anbieter. Zwar verlangen die Finanzdienstleister für jede bargeldlose Transaktion eine Gebühr, weshalb viele Läden und Restaurants diese Option lange ungern anboten. Doch auch Cash ist teuer: Ein Papier des Finanzdienstleisters SIX bezifferte die Kosten für die Bargeldinfrastruktur im Detailhandel vor einigen Jahren auf 1,3 Milliarden Franken. Und gemäss einer Studie der Deutschen Bundesbank belaufen sich die Kosten für jede Bargeldtransaktion umgerechnet auf knapp 23 Rappen (24 Cent). Je mehr Kunden bargeldlos bezahlen, desto stärker fallen diese Kosten ins Gewicht.
Signifikante Reduktion der Betriebskosten
Die hohen Kosten waren denn auch einer der Hauptgründe, weshalb die Familie Wiesner Gastronomie AG per Ende 2023 komplett auf bargeldlosen Betrieb umgestellt hat. «Wir sparen pro Jahr rund 50 000 Franken an administrativen Kosten», sagt Daniel Schwarz, der Mediensprecher des Unternehmens, das schweizweit 28 Restaurants betreibt. Der Entscheid sorgte in den Medien für viele Schlagzeilen, bei den Gästen löste die Umstellung aber kaum Proteste aus. Schwarz führt dies darauf zurück, dass sich die betroffenen Restaurants in einem städtischen Umfeld befinden und vorwiegend von einem jungen Publikum besucht werden. «Bei einem Landgasthof sieht das wahrscheinlich ganz anders aus», sagt Schwarz.
Auch die Basler Verkehrsbetriebe erklären, der Verzicht auf Bargeld bei den Ticketautomaten führe zu einer «signifikanten Reduktion der bisherigen Betriebskosten». Die negativen Reaktionen der Kunden auf diese Entwicklung seien gerechtfertigt, sagte der Ökonom Beat Kappeler kürzlich in einem Interview mit der NZZ. «Der öffentliche Verkehr hat ein faktisches Monopol – natürlich kann sich jeder Mensch im Taxi herumfahren lassen, doch für die meisten dürfte das keine Alternative sein. Deshalb geht es nicht an, dass der öffentliche Verkehr aus dem Bargeld aussteigt und die Kunden zwingt, das auch zu tun.»
Nicht nur an den Billettautomaten wird das Bezahlen mit Bargeld immer seltener möglich sein. Auch bei den Angeboten in und um die Bahnhöfe wird zunehmend auf rein digitale Lösungen gesetzt. So funktionieren die neuen Toiletten im Bahnhof Biel bargeldlos. Der Zugang zum WC ist nur noch mit einer Bankkarte, Twint oder einem anderen digitalen Zahlungsmittel möglich. Bis Ende 2025 werden die SBB in ihren Bahnhöfen keine Münzschliessfächer mehr anbieten. Die blauen Schliessfächer werden digitalisiert und mit einem QR-Code versehen, über den bezahlt werden kann. Die Reisenden benötigen dafür ein Smartphone und müssen ihre E-Mail-Adresse und ihre Mobiltelefonnummer angeben.
Selbst in Bereichen, in denen die Übergabe von Münzen bildlich für Spendenbereitschaft steht, wird «cashless» zur Normalität: Trinkgeld per Kreditkarte ist zwar nervig, aber vielerorts Standard. In Kirchen wird inzwischen mit QR-Code statt mit Klingelbeutel gespendet. Und wer in Zürich einem Bettler schulterzuckend zu verstehen gibt, kein Bargeld zu haben, muss mit der Antwort rechnen: «Chasch au twinte.» So verändert sich nicht nur die Art des Geldtransfers, sondern die gesamte Kultur des Bezahlens und Spendens.
Kein Münz für die Toilette
Geradlinig verläuft dieser Wandel allerdings nicht: Der Schweizer Konsumentenschutz wehrt sich gegen Einschränkungen des Service public. Nicht nur die Fahrten, sondern auch weitere Dienstleistungen wie Schliessfächer und Toiletten müssten weiterhin für alle zugänglich sein, fordert er. Die SBB müssten die Privatsphäre der Kundinnen und Kunden respektieren und eine anonyme Nutzung ihrer Dienstleistungen ermöglichen. «Wer mit dem Handy oder der Kreditkarte zahlt, muss zudem sicher sein können, dass die SBB aus den persönlichen Daten keinen Profit schlagen», schreibt der Konsumentenschutz.
Bezeichnenderweise sprechen sich in einer SNB-Umfrage wieder mehr Menschen für die Beibehaltung von Bargeld aus als 2022 – selbst wenn sie es selber kaum nutzen. Die Zahl der Befragten, die eine Abschaffung befürworten, nimmt ab. Das lässt sich auch mit der generellen Stimmungslage erklären: In unsicheren Zeiten nimmt die Bedeutung von Bargeld zu. So hat die Zivilschutzbehörde von Schweden, das als Vorreiter auf dem Weg zur bargeldlosen Gesellschaft galt, eine Broschüre unter dem Titel «Wenn die Krise oder der Krieg kommt» verteilt. Die Möglichkeit, Zahlungen auf verschiedene Arten zu tätigen, verbessere die Krisenvorsorge, schreibt sie und rät: «Sie sollten gelegentlich Bargeld verwenden.»
Denn Bargeld hat viele Vorteile, die es zu einer Alternative zu digitalen Währungen und Zahlungsmitteln machen. Bargeld ist einfach. Es funktioniert ohne Strom und ohne Smartphone oder andere Endgeräte, auch nach möglichen Cyberangriffen. Bargeld ist anonym. Ein Vorteil, der angesichts zunehmender Überwachungstendenzen immer wichtiger wird. Bargeld schränkt auch die Möglichkeiten von Negativzinsen ein: Als die Banken von ihren Kunden Gebühren dafür verlangten, dass sie ihr Geld annehmen, hatten die Kunden eine Alternative: Sie konnten ihr Geld abheben und als Bargeld aufbewahren – der gute alte Fünfliber schlug für einmal das Smartphone.