Donnerstag, November 13

Ausgerechnet der Hauptverantwortliche des Terrorangriffs vom 7. Oktober wird der neue Politbüro-Chef der Hamas. Damit radikalisiert sich die palästinensische Terrorgruppe weiter – und begibt sich in die Hände Irans.

Der neue Chef der Hamas heisst Yahya Sinwar. Das verkündete die palästinensische Terrorgruppe in einer Pressemitteilung am Dienstagabend. Der Shura-Rat habe sich nach langen Beratungen darauf verständigt, dem bisherigen Gaza-Chef der Organisation das höchste Amt zu übertragen, hiess es darin. Eine offizielle Wahl steht noch aus, doch gibt es wenig Zweifel, dass dabei Sinwar bestätigt wird. Er folgt auf den vor einer Woche bei einem israelischen Anschlag in Teheran getöteten Politbüro-Chef Ismail Haniya, der die Hamas seit 2017 angeführt hatte.

Mit Sinwar entscheidet sich die Hamas für einen Vertreter ihres ultraradikalen Flügels. Der 61-Jährige war bisher der Hamas-Chef für den Gazastreifen und gilt als Hauptverantwortlicher für das Massaker vom 7. Oktober, bei dem die Hamas in Israel rund 1200 Menschen ermordet hatte. Der Terrorangriff hat eine israelische Gegenoffensive im Küstenstreifen mit heute knapp 40 000 Toten ausgelöst. Auch droht er den Nahen Osten in einen Krieg zwischen Israel und Iran zu stürzen.

Sinwar gilt als skrupellos und brutal. Der 1962 in Khan Yunis im Gazastreifen geborene Hamas-Funktionär begann seine Karriere in der islamistischen Bewegung in den achtziger Jahren. Als Chef der internen Sicherheitsabteilung ordnete er die Ermordung angeblicher Kollaborateure an. Dafür sass er mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustauschs 2011 stieg Sinwar schnell auf und wurde 2017 Gaza-Chef.

Eine Zäsur in der Geschichte der Hamas

Sinwars Ernennung zum Politbüro-Chef markiert eine Zäsur in der Geschichte der Hamas. Seit den neunziger Jahren hatte die Terrortruppe immer darauf geachtet, einen Exilfunktionär in die höchste Position zu wählen. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Organisation auch dann funktioniert, wenn ihre Basis in Gaza angegriffen wird. Nun scheinen solche Überlegungen keine Rolle mehr zu spielen.

Stattdessen konzentriert sich die Macht jetzt auch offiziell auf Sinwar und seine Kampfgenossen aus dem Umfeld der Kassam-Brigaden – des bewaffneten Arms der Hamas. Allerdings hatten diese radikalen Kräfte auch schon vorher das Sagen. So war die Exilführung um den vergangene Woche getöteten Politbüro-Chef Haniya und dessen Vorgänger Khaled Mashal offenbar von Sinwar nicht vorab über den Angriff vom 7. Oktober informiert worden.

Auch bei den Geiselverhandlungen der vergangenen Monate hatte Sinwar stets das letzte Wort gehabt. Im Gegensatz zu den als Kontakten dienenden Exilkadern in Doha gab er sich extrem hartnäckig. Auch deshalb sind die Gespräche bisher zu keinem Abschluss gekommen. In Zukunft werden die Verhandlungen vermutlich noch schwerer werden.

Ein altbekanntes Prinzip

Die Ernennung Sinwars ist ein klares Signal an Israel, dass die Hamas trotz ihren Verlusten in Gaza und dem unermesslichen Leid der Zivilbevölkerung im Küstenstreifen bereit ist, weiter zu kämpfen. Zudem scheint sich ein Prinzip zu bestätigen, welches die Israeli bereits aus der Vergangenheit kennen: Einmal mehr hat die Tötung eines radikalen Gegners einen noch radikaleren Nachfolger zutage gefördert.

Die Hamas hingegen verabschiedet sich mit der Wahl von ihrem Prinzip der kollektiven Führung. Sie begibt sich nun vollends in die Hände jenes Mannes, der sie von Gaza aus ins Verderben geführt hat. Denn mit seinem brutalen Angriff auf Israel hat die Organisation nicht nur ihre Basis im Küstenstreifen verloren. Sie gilt längst auch in vielen arabischen Ländern als Paria. Diesen Status hat sie mit der Wahl Sinwars weiter zementiert.

Dafür kettet sie sich an ihren einzigen verbliebenen Verbündeten, Iran. Sinwar galt schon vor dem 7. Oktober als Vertreter des Hamas-Flügels, der voll auf die Allianz mit Teheran setzte. Dass die Iraner der Hamas in Gaza bisher kaum zu Hilfe gekommen sind, scheint diesen Flügel nicht davon abzuhalten, noch stärker auf die von Iran angeführte «Achse des Widerstands» zu setzen, zu der auch die libanesische Hizbullah-Miliz gehört.

Kampftruppe von Teherans Gnaden?

Auch deshalb soll die Wahl Sinwars nicht ohne Gegenwehr über die Bühne gegangen sein. So gab es innerhalb der Hamas in der letzten Woche offenbar heftige Flügelkämpfe. Der ehemalige Hamas-Chef Khaled Mashal – der als Gegner Irans gilt und die Hamas fast 20 Jahre lang angeführt hatte – soll versucht haben, eine Ernennung Sinwars zu verhindern. Allerdings konnte sich Mashal, der über gute Beziehungen zu den Golfstaaten verfügt, nicht durchsetzen.

Offenbar machten auch Iran und der Hizbullah ihren Einfluss innerhalb der Hamas geltend, um die Wahl eines ihnen genehmen Kandidaten sicherzustellen. Zwar waren weder der Hizbullah noch Teheran erfreut über den nicht abgesprochenen Angriff am 7. Oktober. Eine Niederlage der Hamas, der als sunnitisch-palästinensischer Gruppe innerhalb des iranischen Milizensystems auch symbolisch grosse Bedeutung zukommt, hätte Irans Führung aber kaum hingenommen.

Sollte Sinwar tatsächlich auf Betreiben Teherans zum Chef der Hamas gewählt worden sein, dann würde dies bedeuten, dass die Hamas durch den zehnmonatigen Krieg im Gazastreifen nicht nur einen Grossteil ihrer militärischen Kapazitäten verloren hat – sondern bis zu einem gewissen Grad auch ihre Unabhängigkeit. Aus dem religiös-nationalistischen Ableger der Muslimbrüder droht damit eine dezimierte Kampforganisation von Teherans Gnaden zu werden, deren dem Tode geweihter Chef in Gaza im Bunker sitzt.

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