Freitag, März 14

Der 36-Jährige will nochmals an den Olympischen Spielen teilnehmen. Die Geschichte seiner Rückkehr ist auch die Geschichte seines Rücktritts.

Manchmal malt sich Iouri Podladtchikov einen Snowboard-Run in der Halfpipe aus. Sein Kopf spult dann ein Video ab. Er sieht dann, wie er sich von den steilen vereisten Wänden meterhoch in die Luft katapultiert, dort dreht er Schrauben und Salti. Podladtchikov landet jedes Mal sicher. Das Video spielt an den Olympischen Spielen im kommenden Februar in Mailand und Cortina d’Ampezzo.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Podladtchikov sagt: «Das Video von meinem letzten Run an einem Grossanlass, an das sich viele erinnern könnten, fehlt mir noch. Ich will, dass es gut wird.» Deshalb ist er zurück im Spitzensport, das Comeback hat er vor zwei Monaten angekündigt, seither hat er zwei Wettkämpfe absolviert. Die Geschichte von Podladtchikovs Rückkehr ist gleichzeitig die seines Rücktritts.

Podladtchikov, 36 Jahre alt, ist 2020 schon einmal zurückgetreten. Zuvor war er jahrelang die prägende Figur der Schweizer Snowboard-Szene. Podladtchikov war Weltmeister, gewann Weltcups, gehörte an den prestigeträchtigen X-Games in den USA zu den Stars. 2014, an den Olympischen Spielen in Russland, dem Heimatland seiner Eltern, errang er die Goldmedaille – das war sein grosses Ziel; in Sotschi erlebte er den totalen Triumph, bezwang den Dominator Shaun White, der ihn zuvor oft überflügelt hatte. Doch nach dem Olympiasieg warfen Verletzungen Podladtchikov immer wieder zurück, er verletzte sich am Kreuzband, an der Achillessehne oder am Kopf. All die Rückschläge zwangen ihn zum Rücktritt.

Iouri Podladtchikov's Scores 94.75 To Win Halfpipe Gold | Sochi 2014 Winter Olympics

«Vielleicht fahre ich auch einfach weiter»

Podladtchikov sagt heute: «Nach den Spielen in Sotschi bin ich auf dem Snowboard noch einmal besser geworden, doch ich konnte das nie zeigen, weil ich ständig verletzt war.» Auch darum entschloss er sich zur Rückkehr, die viele überrascht hat. Vor Olympia in Sotschi 2014 titelte die NZZ: «Du fliegst nur einmal», angelehnt an den Yolo-Flip, einen von Podladtchikov erfundenen Sprung – einen rückwärts angefahrenen Doppelsalto mit vierfacher Schraube. Yolo steht für «You only live once», du lebst nur einmal. Und jetzt? Kommt Podladtchikov noch einmal ins Fliegen?

Podladtchikov erzählt der NZZ die Geschichte seiner Rückkehr in Zürich. Er kommt gerade von einem Arzttermin, am gleichen Nachmittag steht eine MRI-Untersuchung an. Das rechte Knie fühlt sich instabil an; 2017 riss dort das Kreuzband. Wenige Tage nach dem Gespräch gibt Podladtchikov bekannt, dass er sich während eines Trainings die gleiche Verletzung erneut zugezogen hat. Fliegt Podladtchikov überhaupt noch einmal?

An den Abbruch des Comebacks, den zweiten Rücktritt, denkt er noch nicht. Podladtchikov weiss, dass schwierige Entscheidungen bevorstehen, soll er operieren oder die Verletzung konservativ behandeln? Er sagt, das Knie schmerze kaum und schliesslich sei er vor zwei Wochen mit dieser Verletzung in Calgary Sechster an einem Weltcup-Wettkampf geworden: «Vielleicht trainiere ich auch einfach weiter», sagt er.

«Auch wenn die Rückkehr vielleicht total verzweifelt wirkt»

Solche Aussagen mögen fahrlässig klingen, doch der Gedanke an eine erfolgreiche Rückkehr hat Podladtchikov in den vergangenen fünf Jahren nie losgelassen; Zeit zum Nachdenken, zum Abwägen aller Risiken, blieb genug. Zwar widmete er sich nach dem Rücktritt anderen Projekten, studierte in New York Fotografie und in Zürich Fine Arts, zurzeit schreibt er die Masterarbeit in Philosophie.

Vor zwei Jahren stand er während des Winters nur einmal auf dem Snowboard und fuhr nie in der Halfpipe – eine Ausstellung seiner Kunst, Bilder, Fotos, Skulpturen war wichtiger. Doch Podladtchikov zog es immer wieder zum Sport zurück, er war bei den Schweizer Snowboardern als Skateboard-Coach engagiert. «Mein altes Team hat mich immer wieder zurückgezogen», sagt er.

Er habe in seinem Leben viele andere Sachen bewältigen wollen, die Ausbildung in Fotografie in New York, das Studium in Kunst und Philosophie. Podladtchikov überlegt sich genau, was Priorität hat in «seiner Welt». «Kunst und Philosophie standen in den vergangenen Jahren an erster Stelle. Doch das ist abgeschlossen, und ich habe Lust und Zeit für das Projekt Olympia 2026.»

Podladtchikov spricht oft in Bildern, zieht Parallelen zwischen Sport, Kunst, Philosophie und Musik. Dann sagt er zum Beispiel: «Ich bin auf der letzten Seite meines Buchs. Doch wenn ich den Schluss nicht ändere, würde ich es selbst nicht noch einmal lesen wollen.» Seine Sportkarriere habe für ihn einen grösseren Wert, wenn er sie so zu Ende bringe, wie er es wolle. Deshalb ist für ihn eines klar: «Ich habe für mich entschieden, dass, noch einmal an Olympia teilzunehmen, ein schöner Abschluss meiner Sportkarriere wäre.» An diesem Ziel hält er fest, trotz Verletzung: «Auch wenn die Rückkehr für manche total verzweifelt wirkt.»

Podladtchikov sagt, es gebe immer Ausflüchte, vernünftig zu handeln und nicht in den Spitzensport zurückzukehren. Die Angst vor einer neuerlichen Verletzung, der Respekt vor der Hochrisikosportart Halfpipe, die Furcht davor, noch einmal mit dem Kopf auf die vereiste Halfpipe zu knallen – beim letzten Mal hat Podladtchikov dabei eine Hirnblutung erlitten. Er sagt: «Mir sind die Ausreden ausgegangen. Und ich habe erst nach der Rückkehr gemerkt, worauf ich fünf Jahre lang verzichtet habe.»

Sport, Kunst und Philosophie geben ihm viel

Noch beherrscht er nicht alle Sprünge aus seinem einstigen Trick-Repertoire. Doch im Kopf stimme es, sagt Podladtchikov: «Das ist im Sport das A und O. Wenn der mentale Zustand stimmt, dann kannst du viel erreichen, auch wenn du nicht topfit bist. Zumindest wenn jemand wie ich das halbe Leben auf dem Snowboard gestanden hat.»

Dass er schlecht vorbereitet in die Saison gestartet sei, verneint er. Podladtchikov ist zu 60 Prozent als Privattrainer einer jungen Snowboarderin aus Indonesien angestellt; er sei in diesem Winter auf so viele Schneetage gekommen wie fast noch nie zuvor. «Das ist auch etwas wert. Aber klar fahre ich noch nicht auf dem Niveau wie vor dem ersten Rücktritt.» Doch er wisse genau, welche Tricks er noch immer blind beherrsche und welche Sprünge mehr Trainingsaufwand brauchten.

Um den Entscheid zum Comeback zu verdeutlichen, greift Podladtchikov wieder zu einem Bild. Er sagt: «Wenn ich im Studium lange Texte lese, die mir viel bedeuten, fühlt sich das ähnlich an wie in der Luft mit dem Snowboard.» Er fühlt sich dann frei, lebendiger, aktiver. «Ich nehme solche Dinge mit allen Sinnen wahr.»

Podladtchikov sagt, er fühle sich zehn Jahre jünger, seit er in den Spitzensport zurückgekehrt sei. Das mag wie ein Klischee klingen, doch ihm ist das egal. Er sagt: «Snowboarden gibt mir ein sattes Lebensgefühl. Es ist verrückt, was die vergangenen drei oder vier Monate mit mir gemacht haben.»

Exit mobile version