Kafkas «Brief an den Vater» ist ein Dokument familiärer Spannungen, aber auch ein literarisches Werk über Machtmissbrauch. Nun geht das Manuskript in den Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Ist es eine Sensation oder nicht? Ja, aber eine der stilleren. Seit 1984 liegt Franz Kafkas berühmter «Brief an den Vater» im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Als Dauerleihgabe des Besitzers Thomas Ganske. Diesen Sonntag gab es in Marbach etwas zu feiern: Das Manuskript geht in den Besitz des Archivs über. Eine erkleckliche Anzahl von öffentlichen und privaten Spendern hat den Ankauf eines Textes ermöglicht, der wie kein anderer das Persönliche mit dem Politischen verflochten hat. Der in den Abgrund des Menschlichen schaut und daraus eine Phänomenologie der Macht entwickelt, die in den letzten hundert Jahren nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.
Zu Beginn der Marbacher Festlichkeit ist die Vitrine, in der Kafkas Handschrift liegt, noch mit einem grauen Tuch verhüllt. Die Archiv-Direktorin Sandra Richter wird es später voller Stolz entfernen. Sie sagt auch etwas von der Wucht des ikonischen Briefes und von seiner Wichtigkeit «in schwierigen Zeiten». Am Tag der deutschen Bundestagswahl, aber auch angesichts der globalen Lage bekommt Kafkas Schlüsseltext über die Erscheinungsformen des Autoritären zusätzliche Symbolkraft.
Tyrannei und höllische Energien
Auf 103 Manuskriptseiten hat Franz Kafka im Jahr 1919 dem eigenen Vater die Meinung gesagt. In klarer und gut lesbarer Handschrift verfasst der Sohn in Schelesen nördlich von Prag einen Rechenschaftsbericht, der bis in die Kindheit zurückgeht, aber einen aktuellen Anlass hat.
Kafkas damals jüngster «Heiratsversuch», die Anbahnung einer Ehe mit der jüdischen Kaufmannstochter Julie Wohryzek, ist gescheitert. Nicht zuletzt des Vaters wegen. Die wüsten Ausfälle Hermann Kafkas gegen die Verlobte haben ein Projekt zunichtegemacht, von dem der 36 Jahre alte Schriftsteller sich nicht weniger erwartet hätte als die endliche Emanzipation von der väterlichen Tyrannei. Einer Tyrannei allerdings, die wie ein Perpetuum mobile funktionierte und dabei höllische Energien entwickelte.
Franz Kafka ist williges Opfer eines oft vielleicht sogar unfreiwilligen Täters. Er weiss das und reflektiert diese Lage im Brief gleich mit. Als «Advokatenbrief» hat der Schriftsteller seiner Freundin Milena Jesenská gegenüber die Epistel bezeichnet. Wie im Gerichtssaal wird der Fall der Vater-Sohn-Beziehung aufgerollt, werden Argumente gegeneinander abgewogen. Kafka schreibt strategisch. Nicht wie einer, der nur den eigenen Vater zu überzeugen hätte. Die mit Sprache geleistete Überzeugungsarbeit geht weit über die Beschreibung eines Generationendebakels hinaus, sie wird zum grossen Essay.
Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat den «Brief an den Vater» als «Basistext der literarischen Moderne» bezeichnet, und das ist dieses Schriftstück auf alle Fälle. Privates Dokument und ausgefeilte Kunst. Ein tiefer Blick in psychologische und politische Verhältnisse. Der prototypische Gebieter, den der Schriftsteller hier porträtiert, hat seine Vorgänger und Nachfolger. Und nicht nur weil Letztere gerade weltweit das Sagen haben, ist Kafkas Analyse erschreckend aktuell.
Persönliche Beschädigungen
«Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal. Dabei war Dein Selbstvertrauen so gross, dass Du gar nicht konsequent sein musstest und doch nicht aufhörtest Recht zu haben», heisst es im Brief. Und später: «Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist.»
Franz Kafka reiht in seinem Brief symbolkräftige Bilder missbräuchlich eingesetzter Macht aneinander, erinnert sich an persönliche Beschädigungen und zeigt die Kulminationspunkte des Terrors in der Sprache selbst. «Ich zerreisse Dich wie einen Fisch!» war eine Drohung Hermann Kafkas, in der der behaupteten Nichtswürdigkeit des Sohnes mit einem zum familiären Mittagstisch passenden Gewaltphantasma begegnet wurde.
Bei den Marbacher Feierlichkeiten am Sonntag hielt die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev einen Gastvortrag und erinnerte sich dabei an ihre ersten Erfahrungen mit Kafka-Texten. Hier wurde auf kluge Weise das Universalistische dieses Werkes beschrieben. Sie sei noch ein Kind gewesen, als sie «Die Verwandlung» zum ersten Mal gehört habe. Auch «Vor dem Gesetz» habe der Vater vorgelesen.
Grosse Literatur
Für sie als Kind habe sich die Hilflosigkeit der Figuren nahtlos mit eigenen kindlichen Hilflosigkeitsgefühlen verbunden, aber die Angst des als Erwachsener schreibenden Franz Kafka war eine doppelte: Aus der Hilflosigkeit kommt der Mensch in seinem ganzen Leben nicht heraus. Wer Kafka liest, lernt mit diesem Fazit umzugehen.
Im Jahr 1952 wurde der «Brief an den Vater» zum ersten Mal veröffentlicht. Schon damals wurde die Frage gestellt, an wen er sich tatsächlich richtet. Hätte ihn der Gemischtwarenhändler Hermann Kafka in seiner ganzen Bandbreite verstehen können? Und was, wenn? Viel mehr noch als eine private Mitteilung ist dieses Werk grosse Literatur. Innerfamiliär wurde das Schriftstück einige Jahre herumgetragen. Die Mutter muss schon angesichts des dicken Kuverts erblasst sein, den wahren Adressaten hat es nie erreicht.
Dass der berühmteste Brief der Welt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach seinen möglicherweise endgültigen Zustellungsort gefunden hat, ist in der Tat ein feierliches Ereignis.