Die Welt ist Überfluss: Und so hat sie Henri Matisse gemalt. Das veranschaulicht die erste Retrospektive auf den Meister der klassischen Moderne in der Schweiz seit fast zwanzig Jahren: Die Fondation Beyeler zeigt alle seine Schaffensphasen.
Wie der Werbeslogan einer Reiseagentur klingt der Bildtitel «Überfluss, Ruhe und Genuss». Es ist ein Werk von Henri Matisse, das in neoimpressionistischer Malweise eine Strandszene mit weiblichen Figuren zeigt – ein Ferienbild sozusagen, wie man es sich schöner nicht ausdenken könnte. Das kleine Stück irdischen Paradieses basiert auf einer Impression, die Matisse in einem Sommer am Golf von Saint-Tropez hatte. Auch heute noch mutet die Komposition wie das Idealbild des Mediterranen an, ein für die Ewigkeit festgehaltener Sehnsuchtsort des Südlichen.
Der Süden hatte es dem im Norden geborenen Künstler besonders angetan: Erstmals 1898 hatte er ihn während einer mehrmonatigen Reise nach Korsika in seinen Bann geschlagen. Vegetation, Licht und Farben der Insel verkörperten für den damals noch jungen Maler ein Anderswo und bewirkten vor allem eine Verzauberung, die sein gesamtes Kunstschaffen nachhaltig verändern sollte: «In Ajaccio ist mir der Süden, den ich noch nicht kannte, in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit aufgegangen.»
Es ist diese Pracht und Herrlichkeit, für die Matisse berühmt geworden ist: lebensfrohe Bilder in den für den französischen Meister der klassischen Moderne so typischen Farben von Blau, Rosa und Orange bis zu leuchtendem Grün.
Das zeigt sich auch in einer seiner bekanntesten arkadischen Landschaftskompositionen: dem Gemälde «Le bonheur de vivre» von 1905/6 mit zahlreichen Aktfiguren in einem Garten Eden. Auch dieses Werk entstand unter den Eindrücken des Südens, als sich Matisse im französischen Fischerdorf Collioure nördlich der Pyrenäen aufhielt. Der Titel ist Statement und gleichsam Manifest der gesamten Malerei von Henri Matisse: «Das Lebensglück» gilt überdies als eines der Gründungsbilder des Fauvismus und damit als Auftakt einer künstlerischen Revolution, die die Befreiung der Farbe vom Gegenstand initiierte.
Es bildet das Highlight der berühmten Barnes Collection in Philadelphia und ist zu bedeutend, um hier nicht erwähnt zu werden. Auch wenn es jetzt in der grossen Matisse-Retrospektive der Fondation Beyeler unter den über 70 Werken aus namhaften europäischen und amerikanischen Museen und Sammlungen fehlt. Denn nicht zuletzt hatte dieses Schlüsselwerk Matisse weitere Eindrücke vom Licht des Südens ermöglicht. Mit dem Erlös aus dem Verkauf an Leo und Gertrude Stein konnte er sich seine erste Nordafrikareise finanzieren.
Es folgten Abstecher nach Italien, Spanien, in die USA und selbst in die Südsee. Eine weitere Reise nach Nordafrika brachte Matisse nach Marokko, wo ihn die Intensität des Lichts überraschte: «Welch ein schmelzendes Licht, überhaupt nicht Côte d’Azur, und die Vegetation ist so kräftig wie in der Normandie, aber welche Dekorativität!!!», notierte Matisse dazu.
In Tanger entstehen Landschaftsbilder, ganz anders als die pittoresk-exotischen Gemälde der Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Matisse setzt auf die Möglichkeiten des Dekorativen und feiert die üppige Natur in formal reduzierten Farbkompositionen, als müsste er das explodierende Wachstum der Pflanzenwelt in seinen Bildern bändigen. «Ich war begeistert, einerseits von den hohen Bäumen und dann vom Akanthus, der so üppig wuchs, dass er dadurch ebenso interessant wurde.»
Baudelaire als Pate
Für Matisse war die Welt paradiesischer Überfluss, so hatte er sie auf seinen Reisen gesehen. Und den direkten Ausdruck dafür in seiner Kunst gefunden. Dafür Pate stand ihm das Gedicht «L’Invitation au Voyage» aus Baudelaires berühmter Gedichtsammlung «Les Fleurs du Mal» (1857). Darin lädt der Dichter seine Geliebte ein, ihm nach Arkadien zu folgen und sich in idyllischer Umgebung mit ihm eins zu fühlen.
Zu Baudelaires Lebzeiten gehörte das Gedicht zu seinen bekanntesten. Und wie eine leise Melodie durchzieht es das Œuvre von Matisse. Die drei im Refrain wiederholten Begriffe «luxe», «calme» und «volupté» (Überfluss, Ruhe und Genuss) dienten ihm nicht nur als Titel für sein frühes Sommeridyll oder auch für das geheimnisvolle Grossformat «Le Luxe I» mit drei imposanten weiblichen Aktfiguren in idyllischer Strandlandschaft. Überfluss, Ruhe und Genuss können auch als ästhetische Leitgedanken seines ganzen Schaffens betrachtet werden.
Der französische Schriftsteller Louis Aragon meinte gar, «L’Invitation au Voyage» sei eigens für Matisse geschrieben worden. Viele der Zeilen in Baudelaires Gedicht schien Matisse in seinen Gemälden denn auch bildlich umsetzen zu wollen: Von «seltenen Blüten» und «reichen Decken», die Baudelaire beschwört, zeugen seine Interieur-Bilder und Stillleben. Die «Pracht des Orients» wiederum scheint in seinen zahlreichen Darstellungen von Odalisken auf. Es sind Bilder von luxuriöser Präsenz und Ruhe – sich selber genügende Werke, die im Ornament aufgehen.
In Baudelaire sah Matisse denn auch nicht so sehr einen morbiden Poeten der Décadence, sondern vielmehr einen Dichter der Moderne. Ihn interessierte weniger der von der Schwarzen Romantik geprägte Literat als der Vertreter des L’art pour l’art – einer Kunst, die in erster Linie der Kunst an sich verpflichtet ist.
Mit der Schere zeichnen
Matisse wurde oft mit dem Etikett eines «peintre du bonheur» bedacht. Tatsächlich waren seine vorwiegenden Themen die Schönheit, der Luxus, die Harmonie und Ruhe sowie der Traum und die Seligkeit. Nicht zuletzt kann diese Ausrichtung auch als Protest gegen das Elend der Welt gesehen werden.
Die positive Weltsicht von Matisse wurde schon früh durch Exuberanz geprägt. 1869 wurde er in eine traditionsreiche Familie von Webern hineingeboren, die seit mehr als 300 Jahren ihrem Handwerk nachgingen. Als Kind prägten ihn die Farben der Stoffe, die Materialfülle und der Reichtum der dekorativen Muster, die ihn umgaben.
Matisse brach ein Rechtsstudium ab und entschied sich für eine Künstlerkarriere. In Paris bot sich ihm die Gelegenheit, als Schüler im Atelier des Symbolisten Gustave Moreau aufgenommen zu werden. Beim studienmässigen Kopieren der grossen Meister im Louvre war er besonders von der Fülle an Lebensmitteln und vom Reichtum des Geschirrs in Jan Davidszoon de Heems Stillleben angetan.
Von solcher Üppigkeit sind seine Atelieransichten geprägt, die vor allem auch von Kunstgegenständen und Erinnerungsstücken seiner Reisen zeugen. Matisse ging vom Überfluss und nicht vom Mangel aus. Ökonomische Zwänge stellten aber auch für ihn Herausforderungen dar.
Als junger Maler verkaufte er nur wenige seiner damals noch recht konventionellen Bilder. Beinahe hätte er die Malerei wieder aufgegeben: «Eines Tages hatte ich gerade eines dieser Stillleben fertig. […] Ich wusste, wenn ich es ablieferte, würde ich das Geld bekommen, das ich so dringend brauchte. Ich war in Versuchung, es abzuliefern, aber ich wusste, dass es mein künstlerischer Tod sein würde, wenn ich es täte. Rückblickend ist mir klar, dass es Mut verlangte, dieses Bild zu zerstören, besonders da der Metzger und der Bäcker die Hand aufhielten und auf Geld warteten. Aber ich vernichtete es. Ich rechne meine Emanzipierung von diesem Tag an.»
Dann kam der Sommer 1904 in Saint-Tropez, und alles veränderte sich. Von da an scheint Matisse sich entschieden zu haben, in seiner Kunst nur noch das Glück des Lebens zu feiern. Und dies ganz im Sinn eines L’art pour l’art, wie es Baudelaire imaginierte. Die Poesie habe keinen anderen Zweck als sich selbst, war dieser überzeugt: «Sie kann keinen anderen haben, und kein Gedicht wird je so gross, so edel, so wahrhaft seines Namens würdig sein wie das Gedicht, das einzig um des Vergnügens willen, ein Gedicht zu schreiben, geschrieben wurde.»
Diese Definition trifft auch auf das Werk von Matisse zu – eine Kunst, die schliesslich im reinen Ornament ihre Vollendung fand. In seinen späten Scherenschnitt-Kompositionen – insbesondere der ikonischen «Nu bleu»-Serie – befreite er nicht nur den weiblichen Akt aus seiner ihn einschliessenden Umgebung zu einer autonomen und beinahe abstrakten Bildsprache. Der ganzen überbordenden Entfaltung der Welt liess er nun gleichsam ihren freien Lauf in wuchernden Scherenschnitt-Bildern voller Akrobaten, Tanzenden, Badenden und Masken, mit Blumen- und Pflanzenmotiven.
«Es besteht keine Kluft zwischen meinen früheren Bildern und meinen Schnittarbeiten», erklärte Matisse zu seinem kühnen Spätwerk: «Ich habe lediglich durch grössere Absolutheit und durch grössere Abstraktion eine auf das Wesentliche reduzierte Form erreicht.» Mit dem letzten Kapitel seiner langen Kunstreise ist Matisse sozusagen zum Universellen vorgedrungen.
«Matisse – Einladung zur Reise», Fondation Beyeler, Riehen, bis 26. Januar 2025. Katalog Fr. 62.50.