Mittwoch, Januar 15

Kim Min Gi wurde zur Stimme einer Generation, der es gelang, die Gewaltherrschaft der Generäle abzuschütteln. Jetzt ist er 73-jährig gestorben.

«Atschim-Isl» (Morgentau) heisst das Lied, das Mitte der siebziger Jahre unverhofft zum Symbol der südkoreanischen Demokratiebewegung wurde. Der Text ist in schlichter, schöner Sprache geschrieben, man könnte beinahe meinen, es sei ein Gedicht. Als nach den landesweiten Massenprotesten gegen die Militärregierung im Juni 1987 endlich nach fünfzehn Jahren das Verbot des Liedes aufgehoben wurde, erlebten die Menschen dies wie die eigene Befreiung.

Gut drei Jahrzehnte lang war «Atschim-Isl» das bekannteste Lied im ganzen Land und das beliebteste unter den Studenten und Intellektuellen. Ungewöhnlich ist die historische Rolle, die diesem Lied zufiel, da es nichts wirklich Politisches enthält: «Nach langer Nacht ohne Schlaf, wenn sich meine Trauer formt wie Tautropfen auf Gräsern, schöner als die Perlen, steige ich früh auf den Berg und lerne ein kleines Lächeln. Die Sonne steigt rot über den Grabhügeln auf, und die schwere Mittagshitze wird meine Prüfung sein. Dennoch gehe ich hinaus zu dem weiten unwirtlichen Ort, alle meine Trauer hinter mir lassend, geh ich nun hinaus.»

Überall bleibende Spuren

Am 21. Juli ist der Komponist, Sänger und Theaterdirektor Kim Min Gi mit 73 Jahren gestorben. Ganz Südkorea betrauert den Tod einer herausragenden Persönlichkeit. Kims Leben verkörpert wie keines die Zeitgeschichte Koreas und hat überall bleibende Spuren hinterlassen.

Dass er, ohne es je zu beabsichtigen, noch jung zu einer öffentlichen Person wurde, verdankt er dem Lied. 1970 komponierte er es als junger Kunststudent, sang es dann Gitarre spielend und brachte es ein Jahr später mit einigen anderen Liedern auf Schallplatte heraus. Unverwechselbar ist seine tiefe Stimme, die ruhig und melancholisch dahinfliesst.

김민기(Gim Min Gi) - 아침이슬(Morning dew) Kor-Eng sub

Obwohl Kim «Morgentau» nur vor einem kleinen privaten Publikum sang, verbreitete sich das Lied rasch unter den Studenten, die lange die Demokratiebewegung anführten. Von da an wird sein Leben ganz unter dem Zeichen dieser Komposition stehen. Schon 1972 wurde er kurzzeitig verhaftet, und der Verkauf seiner Schallplatten wurde verboten. 1975 kommt das Lied offiziell auf den Index.

Die jungen Menschen erkannten sich vor allem in den letzten zwei Zeilen selber. Denn sie trotzten Kälte und Hitze und zogen immer wieder hinaus auf die Plätze, um mit einer Mischung aus Wut und Trauer gegen die Polizeigewalt und die Tränengasgranaten anzukämpfen.

Damals regierte Präsident Park Jung Hee, ein ehemaliger General, Korea mit eiserner Hand und liess jede Regung des Widerstandes gegen seine Politik unterdrücken. Park war 1961 dank einem Militärputsch an die Macht gekommen. Als er 1979 von seinem eigenen Geheimdienstchef erschossen wurde, putschte ein anderer General gegen den zivilen Übergangspräsidenten. Damit wurde der Wunsch der Bevölkerung nach Demokratie erneut zunichtegemacht. Es begannen weitere finstere Jahre der Militärdiktatur, deren Gewaltherrschaft die Bevölkerung aber nicht länger hinzunehmen bereit war. Unter zähem Kampf gewann die Demokratiebewegung allmählich die Oberhand und besiegelte 1993 mit der direkten Wahl eines zivilen Präsidenten endgültig das Ende der Tyrannei.

Ein Mann des Volkes

Dass «Atschim-Isl» überall auftauchte, wo sich der Widerstand formierte, wurde Kim zum Verhängnis. Nicht nur standen seine sämtlichen Schallplatten auf der Zensurliste, der Geheimdienst überwachte ihn ständig. Er fand keine Arbeit und konnte sich auch nirgends länger aufhalten. Er arbeitete als Bergmann, Bauer und in den Fabriken. Mit Blick auf die schwierige Lage der Arbeiter, die schlecht bezahlt und weitgehend rechtlos waren, komponierte er ein heute nicht minder bekanntes Lied «Sangroksu» (Immergrüner Baum) für deren Hochzeitsfeier. Er wusste, dass sie sich kaum eine richtige Hochzeit leisten konnten.

In den Nachtstunden gab Kim Arbeitern Unterricht und schrieb auch ein Theaterstück für sie. Viele Jahre suchte er möglichst unauffällig zu leben, es gingen sogar Gerüchte um, er sei gestorben. Untätig war er keineswegs. Er komponierte, schrieb Theaterstücke und half anderen, Kulturprojekte zu realisieren.

In einem seiner seltenen Interviews erzählte er auf die Frage, was «Atschim-Isl» für ihn bedeute, von einem Erlebnis, das er im Juni 1987 in Seoul hatte. Damals fand die grösste Demonstration in der koreanischen Geschichte statt, aus Anlass des gewaltsamen Todes eines jungen Studenten während eines Polizeiverhörs. Mehr als eine Million Menschen hatte sich zum Protest gegen die Gewaltherrschaft der Militärs im Zentrum von Seoul versammelt. Er sei, so Kim, mittendrin gestanden und habe gehört, wie die Menschen sein Lied intonierten, immer wieder. Nun erst habe er gewusst, dass das Lied nicht mehr ihm gehöre, sondern den Menschen. Seitdem habe er es selber nie mehr gesungen.

Demokratischer Wendepunkt

Die Demonstrationen vom Juli 1987 gelten als demokratischer Wendepunkt. Danach entspannte sich die politische Lage zusehends, und die Koreaner konnten freier atmen. 1991 gründete Kim das erste Privattheater, das seinen Namen verdiente, und führte es 33 Jahre lang. Es hiess Hakchon, was «Lern-Acker» bedeutet. Um Geld dafür zu beschaffen, nahm er 1993 im Studio neue Schallplatten auf.

Als Sänger habe er sich nie angesehen, sagte Kim, da er vor einem grossen Publikum nicht auftreten könne. Er hat alle Angebote, öffentlich zu singen, stets abgelehnt. Sein Theater jedoch entwickelte sich zu einer Lernstätte für junge Frauen und Männer, von denen viele später zu Stars in Film und Fernsehen wurden. Auch bekannte Sänger debütierten auf seiner Bühne. Den grössten Bühnenhit landete Kim mit dem Musical «Linie 1», einer koreanischen Adaptation des Stücks von Volker Ludwig, der das Grips-Theater in Berlin gegründet hatte. 2008 konnte man die 4000. Aufführung feiern. Später aber setzte es Kim ab, weil er lieber Theater für Kinder machen wollte. Er war als Pionier auf vielen Feldern unterwegs.

Was Kim speziell machte, war seine Persönlichkeit. Schweigsam, scheu und bescheiden hat er sich selbst stets als «Hinten-Stehender» bezeichnet. Er war es, der vielen anderen die Möglichkeit verschaffte, vorne zu stehen. Politisch liess er sich nie vereinnahmen und engagierte sich stattdessen für biologische Landwirtschaft, Waisenheime, Schulen und Kulturprojekte. Allüren und Posen waren Kim fremd. Entsprechend war das Begräbnis ganz schlicht. Ganz Korea verneigte sich vor seinem Leben und Schaffen.

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