Michael Ambühl sprach mit Rabbinern, Bauern und Hoteliers. Er sagt: «Das Problem ist, dass sich eine äusserlich leicht erkennbare Gästegruppe zur gleichen Zeit in einem kleinem Ort wie Davos aufhält.»

Herr Ambühl, im Februar schrieb das Davoser Bergrestaurant Pischa in einem Aushang, dass es keine Schlitten an jüdische Gäste mehr vermiete. Wie will man verhindern, dass es erneut zu solch einem Vorfall kommt?

Man kann nicht garantieren, dass ein solcher Vorfall nie mehr vorkommt. Aber es ist ähnlich wie im Strassenverkehr. Mit Massnahmen und Regeln kann man die Wahrscheinlichkeit für Unfälle stark senken. In Davos geht es darum, mit einem Massnahmenpaket solche Vorfälle wie bei der Bergbahn Pischa zu vermeiden oder zumindest unwahrscheinlicher zu machen.

Und wie soll das konkret funktionieren?

Eine der zehn Massnahmen unserer Task-Force betrifft Leitlinien zuhanden der Tourismusbetriebe. Darin wird festgehalten, dass Regeln für Gäste «erga omnes» sein sollen, so wie man sie auch aus der Wirtschaftsdiplomatie kennt. Also Regeln, die für alle und nicht nur für Einzelne gelten. Statt die jüdischen Gäste namentlich zu nennen, hätten die Schlittenverleiher zum Beispiel ein Pfand einführen können, das alle bezahlen müssen. Dann wäre ein Fall wie Pischa wohl nicht passiert.

Warum sollte ein Vermittlungsprojekt zwischen jüdischen Feriengruppen und Einheimischen nun funktionieren, wenn es jahrelang nicht geklappt hat?

Weil wir ein neues Vorgehen gewählt haben. Es handelt sich um einen gesamtheitlichen Ansatz mit mehreren Massnahmen, die sich an verschiedene Adressaten richten: Touristiker und Einheimische sowie in- und ausländische Gäste. Darüber hinaus bauen wir das Likrat-Projekt aus, in dem jüdische Erwachsene zwischen der Bevölkerung und den ausländischen jüdischen Gästen vermitteln. Zusätzlich informieren wir die ausländischen Gäste schon vor der Hinreise. Und schliesslich werden zum ersten Mal Rabbiner eine beratende Funktion einnehmen.

Ende August vor einem Jahr war das Likrat-Vermittlungsprojekt tot. Der Tourismusdirektor Reto Branschi stieg frustriert aus. Wie haben Sie es geschafft, ihn zurück an den Tisch zu bringen?

Meines Wissens hat das Projekt angesichts der 3000 bis 4000 ausländischen jüdischen Gäste in Davos zu wenig gebracht. Es war mit zwei bis drei Likrat-Vermittler vor Ort zu klein. Nun wird das Projekt ausgebaut. Diesen Sommer werden rund ein Dutzend sogenannte Likratinos an verschiedenen neuralgischen Standorten zum Einsatz kommen: zum Beispiel bei den Bahnstationen oder am See. Das sind jüngere Jüdinnen und Juden, darunter auch orthodoxe, die während der Hauptferienzeit von Mitte August bis Anfang September in Davos zwischen der einheimischen Bevölkerung und den ausländischen jüdischen Gästegruppen vermitteln.

Ein Szenario für diesen Sommer: Eine jüdische Grossfamilie mit zehn Personen setzt sich in ein Davoser Lokal und bestellt ein Glas Wasser für die ganze Gruppe. Wie soll sich die Wirtin verhalten?

Sie sollte sich so verhalten, wie sie es auch bei anderen Gästegruppen tun würde. Die Wirtin muss den Gästen erklären, dass, wenn sie die Infrastruktur des Restaurants benutzen möchten, sie auch etwas konsumieren müssen. Ein Glas Wasser reicht nicht.

Und wenn sich die Gäste dadurch diskriminiert fühlen? Wie sollen sie sich verhalten?

Die Gäste können den Konflikt einfach lösen, indem sie etwas konsumieren oder beschliessen, die Infrastruktur des Restaurants nicht in Anspruch zu nehmen. Sollte die Situation eskalieren, könnten sie sich an einen Vermittler des Likrat-Projekts wenden. Die Likratinos könnten der Gruppe zum Beispiel erklären, dass das Verhalten der Wirtin nicht gegen sie gerichtet sei.

Für die Wirtin ist das ein regelrechter Drahtseilakt.

«Drahtseilakt» finde ich ein zu dramatisches Bild. Aber der historische Kontext macht alle Beteiligten sensibler für die Thematik. Man kann verstehen, dass jüdische Gäste einen unterschwelligen oder gar offenen Antisemitismus vermuten könnten. Und man kann auch verstehen, dass es für eine Wirtin eine heikle Situation sein kann.

Der Deal-Maker

nay. Michael Ambühl (72) hat für die Schweiz die Bilateralen II als Chefunterhändler mit der EU verhandelt. Der gebürtige Berner und ausgebildete Mathematiker war 31 Jahre lang Mitglied des diplomatischen Dienstes. 2013 trat er eine Professur für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement an der ETH Zürich an. 2022 verliess er die Hochschule und gründete zusammen mit Nora Meier ein Büro für Verhandlungsberatung in Zürich.

Im Rahmen des Pilotprojekts soll auch die Geschichte der Juden in Davos aufgearbeitet werden. Wie kann die historische Perspektive helfen, die aktuellen Probleme zu lösen?

Es ist eine Massnahme, die erlaubt, der Bevölkerung die jüdische Kultur und die jüdische Geschichte noch näher zu bringen. Davos hatte bereits im 19. Jahrhundert viele jüdische Ärzte und Patienten in den Höhenkliniken. Daraus ist über die Jahre eine Infrastruktur für diese Gäste gewachsen. Deshalb besuchen jüdische Menschen aus der ganzen Welt noch heute gerne Davos.

Um dem Problem auf den Grund zu gehen, sprachen Sie mit Rabbinern, Gästegruppen, Bauern oder Hoteliers. Was konnten Sie aus diesen Gesprächen lernen?

Das Problem besteht darin, dass sich eine äusserlich leicht erkennbare Gästegruppe zur gleichen Zeit in einem kleinen Ort wie Davos aufhält. Wegen der kulturellen Unterschiede kann es zu Missverständnissen kommen. Unseren Gesprächen konnten wir entnehmen, dass Rabbiner in orthodoxen Gemeinschaften eine entscheidende Rolle spielen. Ich bin froh, ist es gelungen, Rabbiner einbeziehen zu dürfen. Sie können von Fall zu Fall für eine beratende Unterstützung hinzugezogen werden.

Was konnten Sie von den Einheimischen, im Speziellen von den Bauern lernen?

Bei der Landwirtschaft geht es vor allem darum, der Natur Sorge zu tragen und zum Beispiel nicht durch landwirtschaftlich bestellte Wiesen zu laufen. Das ist allerdings nicht eine kulturspezifische Frage, sondern betrifft alle Gäste.

Aber wie schafft man es, die orthodoxen jüdischen Gäste aus dem Ausland zu informieren?

Wir haben auch mit der israelischen Botschafterin in Bern gesprochen. Sie ist bereit, uns zu unterstützen, um potenzielle Gäste möglichst schon vor der Hinreise über hiesige Sitten und Gebräuche zu informieren. Die orthodoxe Gemeinschaft ist nicht leicht erreichbar. Diese Menschen bleiben oft unter sich und benutzen in der Regel kein Internet. Sie orientieren sich über ihre spezifischen Informationskanäle. Die israelische Botschaft wird uns helfen, die Informationen in die orthodoxen Gemeinden zu tragen.

Wie konnten Sie die Erfahrungen aus Ihrer langjährigen diplomatischen Karriere für die Arbeit in Davos nutzen?

Jeder Konflikt ist anders, die Vergleichbarkeit daher limitiert. Einige abstrakte Gemeinsamkeiten gibt es trotzdem. Zunächst muss man die Parteien überzeugen, dass es sich lohnen könnte, an einen Verhandlungstisch zu kommen, weil es Perspektiven für Lösungen gibt. Sodann muss man versuchen, einen iterativen Prozess zu etablieren, in dem sich die Parteien ohne Gesichtsverlust annähern können. Und schliesslich muss das Resultat der Gespräche in eine angemessene Form gegossen werden, will heissen: in eine Vereinbarung, der alle Seiten zustimmen können.

Wie geht das Projekt nun für Sie weiter?

Unser Mandat ist zu einem Ende gekommen. Wir werden lediglich noch über den Sommer ein Monitoring durchführen, um zu analysieren, was gut gelaufen ist und was man für die kommenden Saisons verbessern könnte.

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