Die Organisation ist weiter in den palästinensischen Gebieten tätig – und warnt vor einem Kollaps. Was ein Zahlungsstopp der Schweiz bedeuten würde.
Nach mehreren Verzögerungen ist es am Dienstag so weit. Der Ständerat trifft eine Entscheidung mit Tragweite: Soll weiterhin Schweizer Geld an das Uno-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) fliessen? Der Nationalrat hatte bereits im September einem Vorstoss von David Zuberbühler (SVP) zugestimmt. Der Vorwurf: Das Hilfswerk verbreite antisemitisches Schulmaterial, und UNRWA-Mitarbeiter seien bei der Terrorattacke am 7. Oktober beteiligt gewesen. Für 2024 hatte sich das Parlament noch auf einen Mittelweg geeinigt: Es reduzierte die Zahlungen von rund 20 auf 10 Millionen Franken.
Die Abstimmung im Ständerat erfolgt nun unter anderen Rahmenbedingungen als noch im vergangenen Herbst. Denn seit Ende Januar gelten in Israel zwei Gesetze, die die Arbeit des Palästinenserhilfswerks massiv erschweren. Einerseits darf die UNRWA nun nicht mehr auf israelischem Boden arbeiten. Andererseits ist israelischen Staatsbeamten der Kontakt mit Vertretern der UNRWA verboten. Folglich kann die Organisation ihre Tätigkeiten nur noch eingeschränkt ausführen. Welchen Einfluss hätte ein Schweizer Zahlungsstopp überhaupt noch?
Im Westjordanland läuft die Arbeit weiter
Roland Friedrich hat die Auswirkungen der Gesetze zu spüren bekommen: Wie bei allen internationalen Mitarbeitern des Hilfswerks wurde das Visum des UNRWA-Direktors im Westjordanland nicht verlängert. Er ist Ende Januar aus Jerusalem in die jordanische Hauptstadt Amman gezogen. Die Arbeit der UNRWA im Westjordanland leitet er nun aus der Ferne, seine lokalen Beschäftigten sind weiterhin im Dienst.
Das Westjordanland, das Israel seit 1967 militärisch besetzt, ist offiziell kein israelisches Staatsgebiet. Die vom Parlament verabschiedeten Gesetze gelten dort daher nicht, die Arbeit der UNRWA ist auf dem Territorium erlaubt.
«Faktisch ist es so, dass alle Dienstleistungen im Westjordanland ununterbrochen weiterlaufen», sagt Friedrich im Gespräch. Sämtliche 96 Schulen bis auf 10 im Norden des palästinensischen Gebiets seien weiter geöffnet. Die 10 Schulen sind wegen der andauernden israelischen Militäroperationen in der Region geschlossen. Auch die 43 Gesundheitszentren im Westjordanland bieten weiterhin Dienstleistungen an, und die 900 000 Leistungsberechtigten erhalten weiterhin UNRWA-Sozialhilfe.
Im Westjordanland ist die UNRWA für einen Grossteil der öffentlichen Ordnung verantwortlich: von Bildung, Gesundheit bis hin zur Abfallentsorgung in den sogenannten Flüchtlingslagern. Im gesamten Westjordanland gibt es 19 «Flüchtlingslager». Einst standen dort Zelte für jene Palästinenser, die 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskriegs geflohen waren. Heute sind die «Flüchtlingslager» Quartiere mit festen, gedrängten Häusern aus Beton.
Dennoch würden die Gesetze die Arbeit erschweren – nicht nur, weil Friedrich nun seine rund 4000 Beschäftigten nicht mehr vor Ort leiten könne, sagt der Länderchef der Organisation. Gerade das Kontaktverbot gegenüber israelischen Behörden sei einschneidend. Denn nun sei es etwa nicht mehr möglich, bei Militäroperationen mit der israelischen Armee zu kommunizieren, beispielsweise um eine UNRWA-Schule zu evakuieren.
Im Gazastreifen leistet UNRWA humanitäre Hilfe
Weiterhin ist die UNRWA auch im Gazastreifen aktiv und spielte vor allem eine wichtige Rolle bei der Verteilung der Hilfsgüter, die bis vor rund zwei Wochen den Küstenstreifen noch erreichten. Laut dem UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini versorgte die Organisation seit Beginn der Waffenruhe bis zur israelischen Blockade alle 2 Millionen Menschen in dem Küstenstreifen mit Nahrungsmitteln, 60 000 Menschen mit Zelten und baute 40 neue Notunterkünfte auf.
«In Gaza haben wir dasselbe gemacht wie vorher, nur in noch grösserem Ausmass», sagt Roland Friedrich. Teilweise hätten Hilfsgüter ein neues Label bekommen müssen, bevor sie den Gazastreifen erreicht hätten, doch das sei die einzige Auswirkung der Knesset-Gesetze gewesen.
UNRWA weist Terrorvorwurf zurück
Den Vorwurf der Terrorunterstützung weist die UNRWA zurück. Zwölf Mitarbeiter, die sich gemäss Israel mutmasslich am Massaker beteiligt haben, seien sofort entlassen worden. Gemäss israelischen Behörden sollen Hunderte UNRWA-Mitarbeiter Mitglieder von palästinensischen Terrororganisationen sein. Die Uno leitete interne Untersuchungen ein, in deren Folge im August weitere neun Mitarbeiter entlassen wurden.
Bei den betreffenden Personen «könnten Beweise darauf hindeuten – wenn diese authentifiziert und bestätigt werden –, dass die UNRWA-Mitarbeiter möglicherweise an den Angriffen am 7. Oktober beteiligt gewesen waren», sagte der UNRWA-Chef Philippe Lazzarini nach dem Ende der Ermittlungen. Einzelfälle deuten darauf hin, dass einige Mitarbeiter tatsächlich am Terrorangriff des 7. Oktober beteiligt waren: So hat etwa der UNRWA-Mitarbeiter Faisal Naami mit hoher Wahrscheinlichkeit die Leiche eines getöteten Israelis in den Gazastreifen verschleppt, wie eine Untersuchung der «Washington Post» zeigt.
Die Vorwürfe und Hinweise haben Auswirkungen – Zahlungen von wichtigen Geberländern, etwa den USA, wurden eingestellt. Die finanzielle Situation der UNRWA ist prekär. Man hangele sich von Monat zu Monat, sagte Lazzarini Anfang März. «Wir benötigen dringend zusätzliche finanzielle Unterstützung, wenn die Organisation überleben soll.»
Ohne UNRWA könnte Migrationsdruck zunehmen
Sollte die UNRWA implodieren, könnte das weitreichende Konsequenzen für den Nahen Osten wie auch mittelbar für Europa haben. Im Westjordanland ist die UNRWA der zweitgrösste Arbeitgeber, gleichzeitig kümmert sie sich um die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und Libanon. Gemäss dem Mandat wird der Flüchtlingsstatus vererbt.
Eine Region, die vor gewaltigen Umwälzungen steht, könnte in weitere Instabilität rutschen, wenn die 6 Millionen registrierten «Flüchtlinge» nicht mehr versorgt werden können. Obwohl der Status der «Flüchtlinge» – teilweise Nachkommen von palästinensischen Flüchtlingen in der dritten Generation – zweifelhaft ist, würden sie ihn bei einem Kollaps der UNRWA nach internationalem Recht nicht verlieren.
Sollte etwa eine andere Organisation wie das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Aufgabe der UNRWA übernehmen, würde sich einiges verändern. Im Gegensatz zur UNRWA hat das Uno-Flüchtlingshilfswerk etwa ein Mandat, schutzbedürftige Flüchtlinge umzusiedeln. Durch einen Wegfall der UNRWA-Leistungen könnten sich nicht nur Armut und Radikalisierung vor Ort ausbreiten, sondern auch der Migrationsdruck auf Europa zunehmen.
Sollte die Schweiz sich für ein Ende der Zahlungen an die UNRWA entscheiden, wäre das ein weiterer Sargnagel für das kriselnde Palästinenserhilfswerk. Doch im Vergleich zu den grössten Gebern USA und Deutschland bleibt der Beitrag der Schweiz gering. Die 20 Millionen Franken machten im Jahr 2023 noch nicht einmal 2 Prozent des gesamten UNRWA-Budgets in Höhe von 1,46 Milliarden Dollar aus.