Donnerstag, Oktober 3

Die FDP- und die Mitte-Fraktion folgen ihren Präsidenten. Eine Debatte über den Familiennachzug zeigt: Die Migrationskritik ist in Bundesbern Mainstream geworden.

Die Erkenntnis, dass die Zuwanderung auch negative Seiten hat, ist im Schweizer Polit-Establishment angekommen – zumindest im Ständerat. Die bürgerliche Mehrheit in der kleinen Kammer hat sich am Dienstag mit beachtlicher Mehrheit dafür ausgesprochen, auf ein kniffliges Geschäft erst gar nicht einzutreten. Sollen Schweizer Staatsbürger ihre ausländischen Familienangehörigen in die Schweiz holen dürfen?

Was auf den ersten Blick aussieht wie eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, kann auf den zweiten Blick ein weiteres Eingangstor nicht nur ins Land, sondern auch in das hiesige Sozial- und Gesundheitssystem sein. Und weil der Ständerat die Folgen seiner allfälligen Gesetzgebungsarbeit nicht abschätzen kann, hat er das Geschäft unbehandelt an den Nationalrat zurückgereicht. Worum geht es konkret?

FDP-Ständeräte stehen hinter Burkart

Ein theoretisches Fallbeispiel: Eine in der Schweiz eingebürgerte Frau aus Indien kann ihre Eltern nicht einfach so in die Schweiz holen. Wenn die Inderin jedoch anstelle der Schweizer die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hätte und sich dann erst später im Rahmen der Personenfreizügigkeit in der Schweiz niedergelassen hätte, wäre es ohne weiteres möglich, dass ihre Eltern ebenfalls in die Schweiz ziehen.

Diese offenkundige Ungleichbehandlung zwischen Schweizern und EU-Bürgern beim Familiennachzug wollte eine parlamentarische Initiative des vormaligen SP-Nationalrats Angelo Barrile aufheben. Die Linke war stets geschlossen dafür. Und auch die FDP-Fraktion im Nationalrat wollte grossmehrheitlich Hand bieten für eine Lösung, nachdem die Bedingungen für einen Nachzug verschärft worden waren. Die eingebürgerte Inderin hätte – um beim obigen Beispiel zu bleiben – gemäss dem Vorschlag immerhin sicherstellen müssen, dass sie in der Schweiz für ihre Eltern aufkommen kann.

Im Ständerat blieb das Geschäft nun aber chancenlos. Die paradoxe Ausgangslage, dass es EU-Bürger dank der Personenfreizügigkeit leichter haben, ihre Eltern und erwachsenen Kinder (zwischen 18 und 21 Jahre) in die Schweiz zu holen, als Schweizer Staatsbürger, wird von der bürgerlichen Mehrheit nicht bestritten. Weil aber niemand weiss, wie viele Personen über den Familiennachzug zusätzlich in die Schweiz kämen, stellte man sich dagegen. Das Nichteintreten des Ständerats war ein grundsätzliches Misstrauensvotum gegen die Zuwanderung.

Die SVP-Ständerätin Esther Friedli erinnerte daran, dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) keine plausible Prognosen habe abgeben können. Auch das Bundesamt für Justiz (BJ) sei vage geblieben, als es darum ging, Aussagen über erwartbare Szenarien zu machen. So habe das BJ beschwichtigend mitgeteilt, dass es sich bei der Zahl der Personen, die dank der Gesetzesänderung leichter in die Schweiz kommen könnten, um eine vernachlässigbare Grösse handle.

Gleichzeitig handelt es sich bei dieser vernachlässigbaren Zahl von Personen laut BJ aber um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Kurzum: Friedli und ihre bürgerlichen Ständeratskollegen trauen weder dem SEM noch dem BJ, beides Schlüsselämter im Justizdepartement von Bundesrat Beat Jans – dem sie ebenfalls nicht allzu viel zutrauen. Der SVP-Ständerat Pirmin Schwander verlangte vom anwesenden SP-Bundesrat eine «Gesamtschau», welche zu liefern dieser kurzerhand aufschob.

«Die Gesamtschau zur Migration wird Ihnen der Bundesrat liefern, spätestens im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsinitiative, aber wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit dem Verhandlungspaket mit der EU», sagte ein sichtlich verunsicherter Migrationsminister. Jans spürt, dass sich der Wind beim Thema Zuwanderung in diesem Sommer endgültig gedreht hat. Mit Gerhard Pfister und Thierry Burkart haben die Präsidenten der Mitte wie der FDP angekündigt, bei der Zuwanderung die Schraube anzuziehen.

Aus dem Abstimmungsresultat kann man schliessen, dass Burkarts verschärfter Kurs in Sachen Migration zumindest im Ständerat breit abgestützt ist. Mit Ausnahme zweier welscher Ständeräte (Johanna Gapany und Pascal Broulis) sprach sich die FDP-Fraktion klar gegen die Lockerung des Familiennachzugs aus. Und auch die Mitte zeigte sich geschlossen wie sonst selten. Lediglich die Frauen um Isabelle Chassot (dagegen) sowie Marianne Maret und Marianne Binder-Keller (Enthaltungen) scherten aus.

Jositsch zurechtgewiesen

Der Linken war jedes Mittel recht, um die sich abzeichnende Mehrheit zu vereiteln. So wurde Panik gemacht, indem zum Beispiel die Ausführungen des SP-Ständerats Daniel Jositsch den Eindruck erweckten, dass sich mit Schweizern verheiratende Ausländerinnen allfällige Kinder aus einer ersten Ehe nicht mit in die Schweiz nehmen dürften, wenn der Ständerat untätig bliebe. Diese Darstellung wiederum bewog sogar den Mitte-Ständerat Stefan Engler – alles andere als ein Scharfmacher – dazu, korrigierend einzugreifen.

Solange das Kind unmündig sei, dürfe es auch heute schon der Mutter in die Schweiz nachreisen. «Es bekommt eine Aufenthaltsbewilligung, hat sogar noch den Anspruch auf Verlängerung dieser Bewilligung», stellte Engler klar. Die Intervention des Bündners war stellvertretend für die Tonlage in der Migrationskritik im Ständerat. Man will weder Unmensch noch Gutmensch sein. Und auch wenn die Zahlen tatsächlich «vernachlässigbar» sein sollten: Der Entscheid steht für den neuen Realismus in der Schweizer Migrationspolitik.

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