Donnerstag, Oktober 31

Neugeborene Sterne futtern, saugen und spucken wie ein Baby. Einen gewichtigen Unterschied gibt es jedoch. Sie werden mit der Zeit kleiner statt grösser.

«Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.» (Hermann Hesse)

Eltern von Babys wissen, dass es zwar zeitraubend, aber auch sehr unterhaltsam sein kann, die Kleinen zu füttern. Lange nicht alles, was auf den Löffel kommt, landet auch im Bauch der Kleinen. Schon der Weg zum Mund hat seine Tücken, denn ungestüme Bewegungen lassen den Brei an Orte fliegen, für die er nicht bestimmt war. Und auch von dem, was im Mund verschwindet, kommt ein Teil wieder heraus.

Trotz dieser eher chaotischen Nahrungsaufnahme wachsen die Kleinen rasch.

Ganz ähnlich läuft es bei Babysternen. Sie futtern Materie aus ihrer Umgebung und spucken einen Teil davon wieder aus. Allerdings sind sie in ihrem Verhalten noch um einiges rabiater als Babys. Und es geht bei ihrer Geburt ebenfalls ziemlich chaotisch zu und her.

Sterngeburten sind selten

Sterngeburten sind selten und finden nur im Dunkeln statt. Sie geschehen in grossen interstellaren Wolken aus Gas und Staub, und auch da müssen ganz besondere Bedingungen erfüllt sein: Es muss extrem kalt sein, und es muss sich an der Stelle etwas mehr Materie versammelt haben als sonst in der Wolke. Die Anforderungen sind dermassen hoch, dass in unserer ganzen Milchstrasse jährlich höchstens eine Handvoll neuer Sterne entstehen können.

Nach der Geburt ist der Stern noch einige Zeit eingebettet in seine dunkle Wolke, doch dann strampelt er sich frei und wird sichtbar. Man nennt diese Sterne T-Tauri-Sterne nach dem Prototyp T Tauri im Sternbild des Stiers. T-Tauri-Sterne sind Babysterne, die erstmals sichtbar geworden sind. Man könnte sagen, dass diese Sternbabys mit ihrer Geburt das Licht der Welt erblickt hätten, doch eigentlich ist es gerade umgekehrt: Es ist die Welt, die das Licht dieser neuen Sterne zum ersten Mal erblickt. Ihre Lichtstrahlen künden von einer neuen Existenz, die Äonen überdauern wird.

Der Stern T Tauri ist erstmals 1852 dem Engländer John Russell Hind aufgefallen. Er bemerkte, dass er auf den damaligen Sternkarten nicht verzeichnet war, vermutlich weil der Stern in seiner Helligkeit stark schwankte und zu schwach war, als die Karte erstellt wurde. Auf den ersten Blick schien er ein normaler Stern zu sein. Seine wahre Natur wurde erst 1947, also fast hundert Jahre später, von Viktor Ambartsumian (1908–1996) erkannt.

Ambartsumian war ein bekannter sowjetischer Astrophysiker und Professor an der staatlichen Universität Erewan in der damaligen Sowjetrepublik Armenien. Im Westen wurde die Idee, dass es sich bei T Tauri um einen neugeborenen Stern handelt, vorerst skeptisch aufgenommen. Man dachte, dass die Ära der aktiven Sternbildung im Universum schon lange vorbei sei.

Ein Loblied auf Stalin

Es war die Zeit des aufkommenden Kalten Krieges, und so bekam die Diskussion schnell eine politische Komponente. Ambartsumian schrieb: «Zweifellos wird die fortschrittliche sowjetische Wissenschaft, inspiriert durch das Genie des grossen Stalin, alle Schwierigkeiten auf dem Weg der kosmogonischen Untersuchungen überwinden und die wichtigsten Gesetze der Entstehung und Entwicklung der Sterne klären.»

Mit Kosmogonie ist hier die Herkunft und das Werden der Sterne gemeint. Was auffällt, ist der Hinweis auf Stalin und die überlegene sowjetische Wissenschaft. Regierungstreue zu demonstrieren, war damals gerade für Intellektuelle überlebenswichtig. Nur allzu leicht konnte man in Ungnade fallen und ins Straflager verbannt werden, was einigen von Ambartsumians Freunden widerfahren ist. Und viele von ihnen kehrten nicht mehr zurück.

Allerdings war Ambartsumian auch ein überzeugter Kommunist und viele Jahre Mitglied des obersten Sowjets. Vielleicht glaubte er wirklich an die Überlegenheit der sowjetischen Wissenschaft. So abwegig wäre das auch nicht gewesen, denn nur wenige Jahre später demonstrierte der erste piepsende Sputnik ihre Fähigkeiten und erschütterte damit die westliche Welt.

Im Westen fand die Idee, dass T Tauri ein Babystern sei, erst Mitte der 1950er Jahre mehr Anklang. Es verdichteten sich die Hinweise, dass Viktor Ambartsumian recht gehabt hatte. Einer dieser Hinweise war, dass man in den T-Tauri-Sternen viel Lithium fand. Das war ungewöhnlich, denn in normalen Sternen kommt das Element praktisch nicht vor, da es vom Kernreaktor in ihrem Inneren in andere Elemente umgeformt wird. Das viele Lithium bedeutete, dass in den T-Tauri-Sternen die Kernfusion noch gar nicht eingesetzt haben konnte. Sie sind dafür in ihrer Mitte noch zu wenig heiss und beziehen ihre Energie aus einer anderen Quelle, nämlich aus der Gravitationskontraktion. Indem sie sich zusammenziehen, heizen sie sich auf.

Heute wissen wir, dass T Tauri nur etwa 3 Millionen Jahre alt ist. Für menschliche Massstäbe ist das ein unendlich langer Zeitraum, doch im Vergleich zur Lebenserwartung der Sterne ist es eine sehr kurze Zeit. Umgelegt auf ein Menschenleben wäre T Tauri gerade eine Woche alt. Der Babystern liegt 460 Lichtjahre von uns entfernt am Rand einer Dunkelwolke, die die Sternbilder Auriga und Stier durchzieht. Und T Tauri ist nicht der Einzige seiner Art in dieser Gegend. Die Taurus-Auriga-Dunkelwolken sind eine ausgedehnte Sternenbrutstätte, in der sich Hunderte Babysterne befinden.

Obwohl T-Tauri-Sterne auf den ersten Blick wie ganz gewöhnliche Sterne aussehen, hat sich gezeigt, dass sie systematisch grösser sind als normale Sterne mit der gleichen Temperatur. Das passt zum Bild, dass sie auf dem Weg sind, sich zusammenzuziehen, bis sie die Grösse eines normalen Sterns erreichen. Im Gegensatz zu Menschen schrumpfen Babysterne zu ihrer erwachsenen Grösse. Sie legen aber trotzdem an Gewicht zu, denn sie werden in dieser Zeit kräftig gefüttert.

Wie sich T-Tauri-Sterne ernähren

T-Tauri-Sterne sind umgeben von einer ausgedehnten, flachen Scheibe aus Gas, Eis und Staub. Das ist typisch für ganz junge Sterne. Die Scheibe ist meistens etwas grösser als unser Sonnensystem und wird nach aussen dicker.

Gas und Staub in der Scheibe rotieren um den T-Tauri-Stern und driften langsam nach innen. Der Stern hat ein starkes Magnetfeld, das in seiner unmittelbaren Umgebung alle Materieströme kontrolliert. Es geht da ziemlich stürmisch und chaotisch zu. Kommt neues Material aus der Scheibe in den Bereich dieses Magnetfeldes, können im Wesentlichen zwei Dinge geschehen.

Ein Teil des Materials wird entlang des Magnetfelds wie in einer Röhre an die Oberfläche des Sterns geleitet. Das Magnetfeld ist quasi der Löffel des Babysterns. Der junge Stern futtert Material und legt an Gewicht zu. Dort, wo der Strom auf die Sternoberfläche trifft, wird es sehr heiss, es wird ein Lichtspektakel produziert, das je nach der herunterprasselnden Materiemenge zu den erratischen Helligkeitsschwankungen von T Tauri beiträgt. Der Babystern flackert, je nach Appetit. Wenn er viel futtert, leuchtet er heller, wenn er auf Diät geht, weniger hell.

Ein anderer Teil des Scheibenmaterials, das in die Fänge des Sternmagnetfeldes kommt, wird senkrecht zur Scheibe herausgeschleudert. Es bildet sich ein Jet, also ein stark gebündelter Materiestrom. Der Jet ist nicht gleichmässig, sondern besteht aus einer Folge von Materieklumpen, die hintereinander herfliegen. Es sieht so aus, als ob ein Babystern jedes Mal, wenn er einen Bissen aus der Scheibe bekommt, einen Teil davon wie ein Geschoss in eine andere Richtung wegspucken würde.

Wie der Jet genau gestartet und gebündelt wird, ist eines der ungelösten Rätsel der heutigen Astrophysik. Die Startrampe ist sicher nahe beim Stern oder in der innersten Region der Scheibe. Wichtig ist auch die Scheibe selbst. Ohne Scheibe gibt es keinen Jet, oder im übertragenen Sinn: ohne Futterquelle keine Spucke.

Die Spucke der Babysterne ist ziemlich schnell unterwegs – sie kann mehrere hundert Kilometer pro Sekunde erreichen. Sie geht in beide Richtungen senkrecht zur Scheibe weg, und ihre Spur ist meist mehrere Lichtjahre lang. Dort, wo sie auf Umgebungsmaterial trifft, bildet sich eine Schockwelle.

Sie spucken Materie, um nicht zu zerreissen

Warum genau Babysterne Jets ins All hinausschiessen, ist eine offene Frage. Es ist aber gut möglich, dass sie ohne die Jets gar nicht richtig gedeihen könnten. Wenn sich ihre Nahrungsquelle – also die Scheibe – zu schnell dreht, kann kein Material auf den Stern zukommen. Und selbst wenn der Stern Material aufnimmt, müsste er immer schneller rotieren und schliesslich aufbrechen. Physikalisch gesprochen geht es um die Erhaltung des Drehimpulses – analog zur Eiskunstläuferin, die ihre Arme anzieht und sich damit schneller dreht. Damit der junge Stern nicht zerrissen wird, muss das Stern-Scheibe-System an Drehimpuls verlieren. Dafür sorgen die Jets, und zwar genau dort, wo es am nötigsten ist, nämlich in der Nähe des Sterns.

Das wilde Futtern und Spucken dauert einige Millionen Jahre. Mit der Zeit werden die Babys etwas ruhiger, und ihre Essgewohnheiten ändern sich. Schliesslich erreichen sie ihr Normalgewicht, und der Jet verschwindet. Auch die Scheibe, aus der sie sich ernährt haben, verändert sich. Sie wird dünner, und in ihr öffnen sich Lücken, in denen Planeten entstehen. Das Schrumpfen des T-Tauri-Sterns geht weiter, bis er sich in etwa 100 Millionen Jahren zu erwachsenen Dimensionen verkleinert hat und als normaler Stern den Kernreaktor in seiner Mitte zünden kann. Umgelegt auf ein Menschenalter wäre er dann allerdings erst etwa einjährig.

Zum Autor: Hansruedi Schild ist pensionierter Astrophysiker. Er hat an der ETH Zürich promoviert und später an Sternwarten wie dem Observatoire de Genève und dem Royal Greenwich Observatory die Welt der Sterne erforscht. Jetzt als Pensionär betrachtet er den Sternenhimmel gelegentlich immer noch, aber mit etwas bescheideneren Mitteln, nämlich einem leichten Feldstecher.

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Sterngeschichten

Sterne sind nicht nur hübsche Lichtpunkte am Abendhimmel. Viele von ihnen haben eine eigene Geschichte, einen eigenen Charakter, sogar fast schon eine eigene Persönlichkeit. Davon ist in unserer Serie «Sterngeschichten» die Rede.

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