Sonntag, Oktober 6

Die Designbranche folgt derzeit dem Gebot der Gemütlichkeit. Damit Esstischstühle mehr Lounge-Charakter erhalten, wird die Höhe der Sitzfläche um ein paar Zentimeter gesenkt.

Bestimmt ist Ihnen das auch schon einmal passiert. Sie sitzen in einer gemütlichen Runde, im Restaurant oder bei Freunden zu Hause, es wird guter Wein serviert, das Essen schmeckt, die Gespräche würden noch lange kein Ende nehmen – wäre da nicht dieser unbequeme Stuhl! Die Rückenlehne zu steif, die Sitzfläche zu hart und die Armlehne gar nicht erst vorhanden.

Über Erfolg und Misserfolg eines geselligen Dinners entscheiden nicht nur die anwesenden Gäste und das Essen, sondern auch, wo und wie man sitzt. Will heissen: Das Licht darf nicht zu grell sein, die Musik nicht zu laut, das Ambiente nicht zu kalt, das Sitzmöbel nicht zu hart. Purismus verträgt sich schlecht mit Gemütlichkeit, und die gilt derzeit als oberstes Gebot in der Designwelt.

An der letzten Ausgabe der internationalen Möbelmesse Salone del Mobile in Mailand waren viele Entwürfe auffallend weich: runde Formen mit weniger Ecken und Kanten, kuschelige Materialien, dezente Farben. Es geht wieder mehr ums erlebte Wohnen. Ein Zuhause soll sich wohl anfühlen.

Auch auf eingangs beschriebene Problemsituation hat die Branche eine Antwort gefunden. Sie heisst «Low Dining», und gemeint sind Esstische und Stühle, die ein paar Zentimeter tiefer sind als Normgrösse. Diese beträgt bei Stühlen für gewöhnlich, vom Boden zur Sitzfläche gemessen, zwischen 45 und 50 Zentimetern. Bei Low-Dining-Modellen wird sowohl dieses Mass als auch jenes des Tischs um etwa 5 Zentimeter gekürzt. Das klingt erst einmal nach nichts, ist aber doch ziemlich radikal.

Tische und Stühle wurden schon immer so gestaltet, dass sie miteinander funktionieren. Will man einen neuen Stuhl, muss nicht gleich die ganze Esszimmergarnitur erneuert werden. Bei Low Dining ist das anders. Der neue Stuhl wird nicht mehr zum bestehenden Tisch passen. Wohl auch deshalb schreckt manche Möbelmarke noch davor zurück, die neuen Normen anzuwenden.

Bis anhin gibt es erst einzelne Modelle, deren Masse tatsächlich niedriger sind, zum Beispiel das Stuhlmodell «Nana» der italienischen Möbelmanufaktur Freifrau, dessen Sitzfläche lediglich 42 Zentimeter hoch ist. B&B Italia lancierte dieses Jahr zusammen mit Monica Armani den Flair O’ Maxi: eine Weiterentwicklung des Stuhls Flair O’, bei dem die Sitzhöhe von 46 Zentimetern auf 41 Zentimeter gesenkt wurde. Dazu passt der Tisch «Rayan» von Hannes Peer für Minotti, den es entweder in der Ausführung «Dining» oder eben der tieferen Version «Lounge» gibt.

Polster oder kein Polster?

Es sind insbesondere die italienischen Möbelhersteller, die auf viel Polsterung setzen und sich weltweit einen Namen als Sofaspezialisten geschaffen haben. Das lässt sich auch historisch begründen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich nicht nur die verfügbaren Materialien, sondern auch die Bedürfnisse an einen Stuhl. Das Zuhause sollte zu einem Ort der Entspannung werden, folglich musste auch bei Stühlen mehr Komfort her. Designerinnen und Designer verabschiedeten sich von den traditionellen, schweren Holzstühlen und experimentierten mit minimalistischen Entwürfen. Allen voran das amerikanische Designerpaar Charles und Ray Eames, das 1950 den Eames Fiberglass Chair auf den Markt brachte. Die beiden wollten bequeme Möbel schaffen, ohne mit Polster zu arbeiten. Ihr Kunststoffstuhl prägte die Weise, wie Stühle fortan gestaltet und produziert wurden.

Anders war es in Italien, wo die Herstellung von Polstermöbeln schon immer zentral war und zentral geblieben ist, auch bei Stühlen. Viel Arbeit wurde insbesondere aber in Sessel und Sofas investiert. Es ging mehr darum, neue Wege der Polsterung zu finden, wie etwa Gaetano Pesces Entwurf «La Mamma» (1969) zeigt, der «flat pack» verschickt und erst zu Hause «aufgeblasen» wurde. Üppige Sessel, wie etwa der «Soriana» von Cassina gehören bis heute zu den ikonischen Entwürfen des italienischen Möbeldesigns.

Der Tisch wird ans Sofa gestellt

Die neuen Low-Dining-Stühle sind denn auch mehr Sessel als Stuhl. Und sie gleichen sich insofern dem Sofa an, als es rein von den Proportionen her kein Problem ist, einen Low-Dining-Tisch an ein Sofa zu stellen.

Man könnte auch sagen, Low-Dining-Stühle seien die moderne, entstaubte Version der Sessel in englischen Gentlemen’s Clubs des 19. Jahrhunderts. Dass die Klubsessel später auch in so vielen Wohnzimmern standen, ging laut Susanne Graner, Head of Collection & Archive im Vitra Design Museum, mit der Erfindung des Fernsehers einher. Auch das passt heute wieder gut. Nach einem langen Arbeitstag fläzen sich abends viele lieber mit einer Schüssel Pasta oder sonstigem Comfort-Food aufs Sofa, statt sich auf einen harten Holzstuhl zu setzen.

Hinzu kommt, dass die klassische Raumaufteilung in kleinen Wohnungen wegfällt. Die Küche ist gleichzeitig Home-Office, der Garten das zweite Wohnzimmer, und statt dass es ein separates Esszimmer gibt, steht der Esstisch häufig im Wohnzimmer neben dem Sofa. Es liegt nahe, dass sich irgendwann auch optisch eine Angleichung zeigt. Gut zu sehen war das etwa bei der Garteneinrichtung, die immer mehr wie das, was drinnen steht, aussah. Nun kommt mit den breiten tiefen Sesseln ein Trend von draussen nach drinnen.

Vielleicht ist Low Dining mehr noch denn als ein neuer Massstab als eine neue Haltung zu verstehen. Ein niedrigschwelliger Zugang zur Tischkultur, die doch auch mit vielen Regeln einhergeht: aufrechte Sitzposition, Hände (aber nicht die Ellbogen) auf dem Tisch und dann bitte möglichst still sitzen bleiben. Low Dining nimmt das Beste von beidem, die Gemütlichkeit vom Sofa, kombiniert mit den Vorteilen eines Tischs. Denn ganz ehrlich, wirklich bequem war dieses über den Coffee-Table gebeugte Essen ja nun auch nicht.

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