Der Kreml hofft auf eine Verständigung mit der neuen Führung in Damaskus, auch um die Militärbasen in Syrien zu sichern. Selbst loyale Stimmen üben Kritik.
Der Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Asad muss der russischen Führung und ganz besonders Präsident Wladimir Putin wie ein Albtraum vorkommen. Es ist ein doppeltes Debakel: aussenpolitisch, aber auch wegen der Urangst jedes autoritären Regimes, die sicher geglaubte Macht binnen Tagen oder gar Stunden zusammenbrechen zu sehen. Immerhin, so mag Putin denken, blieb Asad das Schicksal des libyschen Potentaten Muammar al-Ghadhafi erspart, der von einem Mob auf der Strasse getötet wurde.
Asad und seine Familie erhielten «aus humanitären Gründen» Asyl in Russland. Das habe Putin persönlich angeordnet, sagte sein Sprecher am Montag. Hier hatte Asad noch eine Woche davor geheimnisvolle Gespräche mit Putin geführt. Hier soll er aber auch über Wohnungen und Besitz verfügen. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass sein ältester Sohn jüngst an der Moskauer Staatsuniversität in Mathematik promoviert habe.
Politische Beschwichtigungen
Äusserlich gibt sich Russland fast gelassen über den Sturz Asads, dessen wichtigste Stütze es neben Iran in den vergangenen knapp zehn Jahren gewesen war. Der Kreml verweigerte am Wochenende einen Kommentar und verwies auf das Pressecommuniqué des russischen Aussenministeriums vom Sonntag. Dieses ist in mehrfacher Hinsicht kurios: Nicht nur fungierten die Russen als Presseamt des gestürzten syrischen Diktators. Auch die Wortwahl suggeriert, Asad habe aus freien Stücken, «in Gesprächen», die Entscheidung getroffen, die Macht abzugeben und das Land zu verlassen.
Revolution, Sturz, Schmach: Davon ist nicht die Rede, obwohl die Ereignisse der vergangenen anderthalb Wochen nicht nur mehr als ein halbes Jahrhundert Asad-Herrschaft hinwegfegten, sondern auch Russland eine empfindliche Niederlage bereiteten. Mit Häme schauten russische Funktionäre und Propagandisten im Sommer 2021 auf Amerika, als die Taliban mit ihrem Siegeszug bis Kabul den Westen überrumpelten. Jetzt greifen auch gegenüber dem Kreml loyale russische Stimmen zu diesem Vergleich. Sie erinnern an eine Rede Putins vom Dezember 2017 auf einem der Truppenstützpunkte in Syrien. Die russische Armee werde im Land stationiert bleiben. «Und sollten die Terroristen erneut ihre Köpfe heben, werden wir ihnen solche Schläge zufügen, wie sie sie noch nie gesehen haben!»
Gegner Putins aus der Exil-Opposition sehen im Zusammenbruch des syrischen Regimes Hoffnungsschimmer für das eigene Land: «Stabilität» ist oft nur eine Chimäre. Diese nicht neue Erkenntnis bestätigt sich einmal mehr. Selbst Putin-Kritiker aus dem nationalkonservativen Lager machen solche vagen Andeutungen.
Militärbasen sind mehr als Prestigeobjekte
Die russische Führung scheint zu hoffen, dass noch nicht alles verloren ist in Syrien. Bilder und Videos zeigen, wie russische Truppen geordnet aus im Landesinnern befindlichen Stützpunkten abziehen. Für die zentralen Militärbasen an der Küste, den Hafen Tartus und den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim, sowie für die diplomatischen Vertretungen Russlands hätten die neuen Machthaber jedoch Sicherheitsgarantien abgegeben, heisst es. Selbst dem Kreml wohlgesinnte Kommentatoren zweifeln daran, dass darauf Verlass sei. Ist das nur eine Garantie dafür, dass Russland freies Geleit zum Abzug bekommt? Oder kann sich Moskau mit den Islamisten auf eine neue Form der Zusammenarbeit einigen?
Politisch scheint diese Hoffnung zu bestehen. Das hängt aber von sehr vielen Unbekannten ab – noch ist gar nicht klar, wer künftig in Damaskus das Sagen haben wird und wie ein künftiges Verhältnis zu Moskau aussehen könnte. Das räumte auch Putins Sprecher am Montag ein. In seiner Sendung «Nachrichten der Woche» am Sonntagabend betonte Dmitri Kiseljow, einer der führenden Propagandisten des Kremls, Russland sei es in Syrien immer um Befriedung und Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen gegangen. Wichtig zu wissen sei auch, dass Russland nie mit Bodentruppen aktiv gewesen sei. Das entspricht nicht den Tatsachen – das Kontingent war immer klein gewesen, aber es gab es, und zudem begann dort die Perfektionierung des Einsatzes der Privatarmee Wagner mit den privat angeheuerten Kämpfern.
Für Russland wäre der Erhalt der Militärbasen weit mehr als eine Prestigesache. Sie erst ermöglichen die Operationen auf dem afrikanischen Kontinent – in Libyen, in der Sahelzone und in Zentralafrika. Auch für die russische Präsenz im Mittelmeer ist Tartus wichtig, weil der Bosporus seit dem Grossangriff auf die Ukraine für Kriegsschiffe gesperrt ist und Russland kaum noch über Ausweichmöglichkeiten in einem «warmen» Meer verfügt.
Schonungslose Kritik
Harte Kritik an der russischen Syrien-Politik der vergangenen Jahre kommt gerade auch vonseiten derer, die Russlands Grossmachtträumen besonders zugeneigt sind. Voller Bitternis und Wut blicken manche der Militärkorrespondenten auf die Ereignisse und zählen die Fehler und Versäumnisse der Führung auf. Viel zu lange habe man an dem morschen, korrupten Asad-Regime festgehalten, das den Bürgern keine Perspektiven habe geben können und für das verständlicherweise niemand mehr sein Leben habe hingeben wollen.
Auch habe man sich und die russische Bevölkerung von der eigenen Propaganda einlullen lassen. Immer wieder mache Russland den Fehler, auf im Volk unbeliebte, korrupte Politiker zu setzen, die am Ende Russlands Interessen nicht zu vertreten imstande seien – was dann auch das Ansehen Russlands in diesen Ländern schwäche, schreiben sie. Die Militärbloggerin Anastasia Kaschewarowa weist darauf hin, wie viel in Syrien von der Privatarmee Wagner abgehängt habe und wie fahrlässig es gewesen sei, diese nur wegen der Kränkung durch die Prigoschin-Rebellion zu zerschlagen. Das Ansehen Russlands als Sicherheitsgarant, als starker Akteur, sehen manche Kommentatoren gerade in den Ländern, die gerne als «globaler Süden» bezeichnet werden, in Gefahr. Für diese, aber auch im Verhältnis zum Westen gelte, dass nur Stärke zähle.
Es gibt aber auch diejenigen, die sich mit Vergangenheitsbewältigung nicht lange aufhalten wollen. «Nun denn, verlieren wir die Basen in Syrien. Sei es so. Was bringt es jetzt, sich die Haare zu raufen? Dafür haben wir an der Hauptfront mehr Leute und mehr Flugzeuge», schreibt der Propagandist und Politiker Andrei Medwedew. Auch Kiseljow wendet sich dem Krieg gegen die Ukraine zu: «Natürlich lassen uns die Ereignisse in Syrien nicht gleichgültig. Aber das Wichtigste für uns ist, natürlich, die Sicherheit von Russland selbst. Das, was derzeit in der Zone der ‹Spezialoperation› geschieht.»
Blick auf die Ukraine
Die russische Niederlage in Syrien schwächt zwar die Position gegenüber dem neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump und dessen Bestrebungen, einen Frieden in der Ukraine zu erzwingen. Zugleich dürfte sie in Russland das Gefühl auslösen, der Schmach jetzt erst recht etwas entgegenzusetzen und bei den Forderungen gegenüber der Ukraine und dem Westen hart zu bleiben.
Ruslan Puchow, ein führender Militärexperte, hielt in der Zeitung «Kommersant» nüchtern fest, Russland habe seine Möglichkeiten von Anfang an überschätzt. Es sei nicht in der Lage gewesen, Asad wirklich gänzlich zum Sieg zu verhelfen, und habe nicht den nötigen Schluss daraus gezogen, die Übung dann zu beenden. Russland fehle es an militärischer Macht, ausserhalb der ehemaligen Sowjetunion einzugreifen. «Man darf auf der internationalen Bühne bluffen, aber nicht selbst an den Bluff glauben.»
Puchows zweite Lehre enthält eine Botschaft, die gewiss auch an den Feldzug gegen die Ukraine gerichtet ist: Nur rasche militärische Erfolge brächten einen Sieg, und dieser müsse schnell politisch abgesichert werden, um nicht zum Verlust zu werden. Jeder zu lange dauernde Krieg werde zur aufgeschobenen Niederlage.
Eine solche wünscht sich in Russland niemand, und Grossmachtphantasien stossen auf sehr viel Anklang. Dem Einsatz in Syrien trauern aber gewiss nur wenige nach.

