Seit der Absetzung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu gehen die Ermittlungsbehörden mit harter Hand gegen dessen frühere Mitstreiter vor. An den Grundproblemen dürfte es nur wenig ändern.
Die Kathedrale der Streitkräfte ausserhalb Moskaus ist das kurioseste Bauwerk der jüngeren russischen Kirchengeschichte. Das in Tarnfarben gehaltene monumentale Gebäude strotzt vor militärhistorischer und politischer Symbolik, die sich vor allem auf den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland bezieht. Umgeben ist die Kirche vom «Park Patriot», einem Museums- und Ausbildungskomplex, in dem Kinder militärische Trainings durchlaufen können und Kriegsereignisse nachgespielt werden.
Fast jede Woche ein neuer Fall
Die ganze Anlage ist aufs Engste verknüpft mit Sergei Schoigu, bis im Mai während zwölf Jahren Verteidigungsminister Russlands. Er soll die Idee dazu gehabt haben, und er hat sich darin gleichsam verewigt. Nun aber hat der eiserne Besen, mit dem seit Schoigus Abgang im Verteidigungsministerium gefegt wird, auch den «Park Patriot» erreicht und damit Schoigus Erbe. Eine Reihe hoher Funktionäre bis hinauf zu General Pawel Popow, einem der mittlerweile abgesetzten Vizeverteidigungsminister, sollen sich im Zusammenhang mit dem Bau und Unterhalt des Parks bereichert haben. Offiziell dafür verbuchte Aufträge sollen zum Ausbau von Popows Vorstadthaus ausgeführt worden sein. Auch Popows stattliche Zahl an Immobilien an prestigeträchtiger Lage fiel den Ermittlern auf. Der General bestreitet die Vorwürfe.
Durch das Verteidigungsministerium und die Armee schwappt eine für das neuere Russland präzedenzlose Welle von Festnahmen. Manch ein Kommentator fühlte sich an die «Säuberungen» in der Kommunistischen Partei und der Roten Armee zu Zeiten des Diktators Josef Stalin erinnert. Die Analogie hinkt aus vielen Gründen. Bemerkenswert ist das Vorgehen der Ermittlungsbehörden und der für militärische Spionageabwehr zuständigen Einheit des Geheimdienstes FSB jedoch zweifellos. Gegen sechs hohe Offiziere im Generalsrang und vierzehn hohe Funktionäre wird inzwischen wegen Korruption, Betrugs, Veruntreuung und Bereicherung ermittelt.
Fast wöchentlich kommen neue Fälle dazu. Zu Wochenbeginn traf es Generalmajor Waleri Mumindschanow, stellvertretender Kommandant des wiederbelebten Leningrader Militärkreises. Dort und schon davor im Verteidigungsministerium war er für die materielle und technische Ausstattung zuständig gewesen, ein Schlüsselbereich, der zugleich korruptionsanfällig ist. Wie andere Beschuldigte soll er gegen Geld Lieferanten bevorzugt und Vorhaben beschleunigt haben. Zwei weniger hohe Funktionäre von der Abteilung für Spezialprojekte im Verteidigungsministerium wurden Ende der Woche festgenommen; auch ihnen wird Bestechlichkeit vorgeworfen.
Politik und Opportunismus
Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte das Vorgehen der Ermittlungsbehörden zwar eine «planmässige Arbeit zur Korruptionsbekämpfung». Aber angesichts der Tatsache, dass die Vorwürfe meist Jahre zurückreichen und das Gebaren Einzelner der Festgenommenen ganz gewiss seit langem bekannt gewesen war, geht es primär um Politik und Opportunismus. Die Ausgaben für die Armee sind seit dem Angriff auf die Ukraine 2022 um ein Vielfaches gestiegen. Das hat nicht nur neue Begehrlichkeiten geweckt. Der Krieg führte auch die Missstände vor Augen und zugleich die Notwendigkeit, die umfangreichen Finanzmittel effektiver einzusetzen.
Damit betraute Präsident Wladimir Putin den Wirtschaftsfachmann Andrei Belousow, den er im Mai zu Schoigus Nachfolger machte. Kurz davor war mit Timur Iwanow einer der Vizeverteidigungsminister festgenommen worden, der sein Luxusleben keinem in der Elite verheimlicht hatte. Mittlerweile sind zehn von zwölf Vizeministern ausgetauscht worden. Ersetzt wurden sie durch Personen ohne militärischen Hintergrund, aber mit Kenntnissen des Finanzwesens und der Geheimdienste. Zu ihnen gehören Putins Nichte zweiten Grades, Anna Ziwiljowa, und einer der Söhne des früheren Ministerpräsidenten Michail Fradkow. In Teilen geht es deshalb auch um eine neue Verteilung der Pfründen – vom Schoigu-Clan zu neuen, den Geheimdiensten und Putin nahestehenden Kreisen.
Belousow habe ein sehr schweres Erbe angetreten, meinte jüngst der Militärfachmann der regimekritischen Zeitung «Nowaja Gaseta», Waleri Schirjajew, in einem Fernsehinterview. Es reiche nicht, einfach die Geldströme neu zu organisieren. Das Ministerium und die Armee müssten völlig umgebaut werden. Die Ermittlungen gegen Generäle und hohe Funktionäre nennt er eine «palliative Massnahme». Am Grundzustand ändert die Korruptionsbekämpfung nichts. Sie lindert allenfalls für den Moment die gröbsten Verfehlungen – und öffnet Möglichkeiten für ein neues Team.
Was passiert mit Schoigu?
Mit dem Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums gerieten die von Schoigu eingesetzten Funktionäre ins Abseits. Auch mit früher bereits in den Ruhestand Versetzten wie General Dmitri Bulgakow, dem bis 2022 für das Versorgungswesen zuständigen Vizeminister, wird erst jetzt abgerechnet. Ihm werfen die Ermittler offenbar vor, zu überhöhten Preisen Essensrationen für die Soldaten beschafft zu haben, die aber den Nährwerten nicht entsprachen, sowie Firmen und Verwandte begünstigt zu haben. Manche der Festgenommenen beschuldigen einander gegenseitig, um Strafmilderung zu erreichen.
In einigen der Fälle, die offiziell mit Betrugsvorwürfen begründet werden, dürften aber auch andere Motive eine entscheidende Rolle spielen – etwa beim abgesetzten Feldkommandanten Iwan Popow, der scharfe Kritik an der militärischen Führung geäussert hatte. Unklarer ist die Situation um Artjom Gorodilow, einen Oberst, der mit seiner früheren Einheit am Wüten der russischen Truppen in Butscha teilgenommen haben soll und dem jetzt ebenfalls Betrug vorgeworfen wird.
Mit jeder neuen Festnahme richtet sich der Blick auch auf diejenigen ehemaligen Funktionäre, die noch in Freiheit sind. Besonders exponiert ist dabei Ruslan Zalikow, der frühere erste stellvertretende Verteidigungsminister und ein enger Vertrauter Schoigus. Alles läuft darauf hinaus, dass auch Zalikow früher oder später ins Visier der Ermittler gerät. Dann wäre es bis zu Schoigu nicht mehr weit. Dieser muss zwar jetzt mit einem Posten Vorlieb nehmen, der seine Einflussmöglichkeiten stark eingeschränkt hat und ihm kaum sonderlich behagen dürfte. Aber noch scheint er unter der Protektion Putins zu stehen.

