Sonntag, September 8

In den Anfängen von Marco Odermatts Karriere war Reusser noch Rennsportchef von Stöckli. Er erinnert sich an dessen damalige Sonderbehandlung – und sagt, was die Wege von Odermatt und Gut-Behrami heute für den Verband bedeuten.

Walter Reusser, wie war Ihre erste Begegnung mit Marco Odermatt?

Unser erster Austausch fand nach den Junioren-WM in Sotschi 2016 statt, als er mit Michael Schiendorfer zu Stöckli kam, um seinen Vertrag zu erneuern. Ich dachte für mich: Jetzt muss dieser junge «Giel» schon einen Manager haben, das ist doch nicht nötig. In der Saison darauf habe ich ihn dann zum ersten Mal Ski fahren gesehen.

Sahen Sie damals schon, dass er etwas Besonderes ist, überragend werden kann?

Mir fiel auf, wie er innert kurzer Zeit den Speed der besten Athleten erreichte. Vor diesen Junioren-WM hatten die Schweizer keine so gute Juniorenmannschaft. Um ihre FIS-Punktebilanz zu verbessern, fuhren sie in den USA Nor-Am-Rennen. Dort reüssierte Marco sofort, er konnte diese Pace aufnehmen und an den Junioren-WM umsetzen, an denen er Gold und Bronze gewann. Das hat mich beeindruckt. Für mich war das immer ein Zeichen dafür, wie viel Potenzial ein Athlet hat. Dass er sich nicht herantasten muss, sondern bald den Grund-Speed der anderen hat.

Wie schnell hat man bei Stöckli versucht, mit ihm etwas aufzubauen?

Als man das Gefühl hatte, der habe wirklich Potenzial. Wir hatten die Strategie, nicht die meisten Athleten oder die teuren ganz vorne zu haben, sondern die Jungen an die Spitze zu bringen. Doch durch die FIS- und Europacup-Rennen haben die Jungen immer wieder einen anderen Pool-Servicemann, dazu kommen die Reisen – darin liegt ein hohes Risiko für Verletzungen und Verzettelung. Ich fand: Marco bringt so viel, er ist so ein natürlicher Skifahrer, strahlt so viel Freude aus. Wenn wir alle daran glauben, dass er einmal gut wird, müssen wir auch etwas dafür tun. So haben wir ihm nach jenen Junioren-WM Chris Lödler als Servicemann zur Seite gestellt. Das fanden alle wahnsinnig.

Welche Vorteile brachte das?

Chris ist nicht nur ein guter Servicemann, sondern war auch ein guter Trainer. In den vielen Stunden im Auto haben sie viel über das Skifahrerische geredet, die Taktik, das Risikomanagement. Bei welchem Rennen geht man ans Limit, bei welchem ist es nicht so schlimm, mal nicht zu reüssieren? Dort fing dieses Zusammenspiel an: Marco entwickelte seine Technik, und wir haben die Ski dann auch in diese Richtung entwickelt.

Das war also aussergewöhnlich früh, dass er Einfluss nahm auf die Materialentwicklung?

Aussergewöhnlich ist eher, dass ein 20-Jähriger schon einen Servicemann hat. Ein Pool-Servicemann hat noch zwei, drei andere Athleten, als Skifirma bist du da natürlich weiter weg von diesem Athleten. Wir nutzten jeden Montag nach Trainings oder Rennen, um mit Chris zu analysieren und zu reden, sprachen über Marcos Perspektiven und sein Feedback. Wir nahmen auch schon früh Einfluss, weil er immer sehr klar sagte, was er spürt, und mit diesen Feedbacks und den Videos haben wir gute Erkenntnisse erhalten.

2019 wechselten Sie von Stöckli zu Swiss Ski. Was tut der Verband, um Odermatt besonders zu unterstützen? Um welche Details geht es auf diesem Niveau noch?

Wichtig ist, dass wir ihm die Zeit und die individuelle Planung lassen. Er kommt im Sommer dann ins Schneetraining zurück, wenn er das Gefühl hat, er sei bereit. Nicht nur der Körper braucht Erholungszeit, auch der Kopf. Dann ist für uns das Wichtigste, dass wir immer beste Bedingungen schaffen. Egal, ob es nur um einen Tag zwischen zwei Rennen geht, damit er das Skigefühl oder die Sicherheit bekommt. Die Trainings müssen qualitativ auf Weltklasseniveau sein. Davon profitieren auch seine Kollegen.

Beansprucht er gar nichts nur für sich selber?

Es kann sein, dass er einmal einen Tag Riesenslalomtraining braucht, weil er gerade von einer Abfahrt kommt und die Kollegen schon drei Tage lang trainiert haben. Dann wartet der Staff noch auf Marco, damit er seinen Tag bekommt. So kann es Unterschiede geben. Aber er ist ein dankbarer Athlet: Er will in der Mannschaft trainieren. Das zeigt, dass es nicht nur all die Individualteams braucht, sondern eine saubere Organisation, eine gute Struktur, damit jeder Athlet das bekommt, was er benötigt. Für den Staff bedeutet das viele Doppeleinsätze, aber das stellt die Qualität sicher.

Ist Odermatt der Vorzeigeathlet für den Verbandsweg?

Wenn einer ein Individualteam mit fünf, sechs Leuten hat und immer alles nur auf ihn abgestimmt ist, dann kannst du nicht sagen: Wir sind nun fünfzehn Athleten und machen alle dasselbe. Das wird nicht funktionieren. So kann man nicht konkurrenzfähig sein gegenüber anderen Teams, die kleiner und agiler sind. Deswegen sind wir dazu gezwungen, für jeden Athleten die beste Ausgangslage zu schaffen. Dass er individuell oder in kleinen Gruppen trainieren kann, wenn es nötig ist, aber eben auch die Grösse des Verbandes nutzen kann, in dem wir eine andere Kraft haben, etwa bei der Präparierung von Trainingspisten, bei den Ressourcen. Die hundert Leute im Staff können etwas bewirken, etwa auf der Diavolezza, wo wir vom Netzaufstellen bis zum Bewässern alles selber machen.

Mit Lara Gut-Behrami und Marco Odermatt fahren die beiden erfolgreichsten Athleten dieses Winters für Swiss Ski, aber ihre Wege und auch ihr heutiges Setting sind völlig anders. Hat der Verband auch von Gut-Behramis Weg etwas lernen oder profitieren können?

Im Detail kann ich nicht sagen, was früher gelaufen ist, als es Diskussionen gab, ob sie integriert sei oder nicht. Seit ich bei Swiss Ski bin, gab es dieses Thema nicht mehr. Mich interessiert, was der einzelne Athlet braucht. Lara wollte nicht unbedingt ein Einzelteam. Für sie ist es wichtig, welche Vorbereitung sie in welcher Disziplin macht, welche Rennen sie fährt. Also müssen wir ein Team haben, das dem Bedarf der Athletin gerecht wird. Vielleicht hatte man in der Vergangenheit das Gefühl, sie müsse mit den anderen trainieren. Wenn man drei Tage Abfahrtstraining geplant hatte und sie sagte, sie brauche eher Super-G, damit sie sich auf der Abfahrt wohlfühle, konnte man das nicht zur Verfügung stellen. Heute haben wir einen genügend grossen Staff, damit wir das organisieren können. Dieser Mindset-Wechsel war für mich eine natürliche Optimierung.

Kann man von den beiden Karrieren irgendetwas herausnehmen und auf andere übertragen?

Etwas finde ich ganz wichtig: Die Athleten gehören nicht den Trainern. Dieses Mindset ist uns extrem tief drin. Trainer aus dem Ausland sagen, sie hätten noch nie ein solches «Zusammen» gesehen. Zum Beispiel zwischen Elite und Nachwuchsmannschaften oder Frauen und Männern. Wenn Lara mit den Männern in Chile Abfahrt trainierte und Feuz gleichzeitig in Zermatt mit den Frauen, ist das überhaupt kein Problem mehr. Das hätte man sich früher nicht vorstellen können.

Nun sieht es aber so aus, dass Gut-Behramis Trainer Alejo Hervas mit einem Wechsel ins Männerteam von Odermatt liebäugelt. Das wäre für diese interne Harmonie dann eher Gift.

Wie die Athleten nicht den Trainern gehören, gehören die Trainer nicht den Athleten. Darum ist es auch normal, dass es nach einer gewissen Zeit Wünsche nach Veränderung gibt. Wenn diese Veränderung innerhalb des Teams stattfindet, also zwischen den Frauen und den Männern oder auch vom Nachwuchs in die Elite, dann spricht man das auf der Stufe Sport sauber ab. Wir hatten mit Alejo Gespräche auf nächste Woche geplant und dann die Information an Lara. Das hat nun so nicht funktioniert und das tut mir insbesondere für Lara leid. Es ist sicher sehr suboptimal, dass das nun vor den letzten Rennen rausgekommen ist.

Gut-Behrami und Odermatt sind für einen Drittel der Schweizer Punkte verantwortlich. Wie beurteilen Sie die Lage, wenn Sie diese beiden abziehen?

Wir haben kürzlich eine Auswertung vorgenommen, wie gross der Anteil eines jeden einzelnen Athleten am Gesamtkuchen ist. Natürlich hat Marco in diesem Diagramm einen sehr hohen Balken. Aber man vergisst vielfach, dass man auch für 200 Punkte zehnmal in die Top 15 fahren muss. Es sieht aus, als würden diese anderen Athleten einen sehr kleinen Beitrag leisten, denn der Abstand von Marco mit seinen fast 2000 Punkten zu Loïc Meillard mit seinen fast 1000 sieht wahnsinnig gross aus. Aber Loïc ist die Nummer 2 der Welt! Es mag passieren, dass Marco und Lara einmal ausfallen, dann gewinnen wir den Nationencup halt nicht. Aber letztes Jahr hätten wir den Nationencup auch ohne Marco gewonnen. Das zeigt, dass es unglaublich ist, was Marco und Lara leisten. Und nicht, was die anderen nicht leisten. Ich will damit aber nicht sagen, dass wir die beiden ersetzen können. Dafür sind sie als Menschen und Athleten zu aussergewöhnlich.

Vorher hatte man mit Feuz einen Teamleader, der erfahren, älter, gesetzt war. Odermatt muss das relativ früh schultern. Ist das auch eine Belastung?

Ich glaube nicht. Er ist ein sehr offener Athlet, ausserdem steht er für die Kultur der heutigen Jungen. Manchmal höre ich Schauergeschichten von vor 20 oder 30 Jahren, als die älteren Fahrer die Jungen oft hereingelegt oder ausgenutzt haben, das ist heute nicht mehr so. Die haben ein grosses Selbstvertrauen und sagen: Ich bin da, weil ich es verdient habe und gut Ski fahren kann. Und wenn du mir keine Tipps gibst, finde ich meinen Weg selber. Die wollen nicht zuerst drei Jahre hintenanstehen. Marco zelebriert das extrem. Das Alter ist hier weniger entscheidend als die menschliche Reife.

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