Mittwoch, Februar 5

Der Kreml versucht von seinem Versagen bei der Terrorabwehr abzulenken und bleibt auf die Ukraine fixiert. In Wirklichkeit legt die Moskauer Tragödie schonungslos offen, wie falsch das Putin-Regime die Prioritäten beim Schutz des eigenen Landes setzt.

Terrorangriffe sind immer verabscheuungswürdig, ganz unabhängig davon, ob sie sich gegen freiheitliche westliche Gesellschaften richten oder gegen Ziele in autoritären Staaten wie jetzt in Russland. Das kaltblütig verübte Massaker gegen Menschen jeden Alters im Konzerthaus Crocus City Hall am Rand von Moskau lässt einen erschauern. Zu den mehr als 130 Toten kommen mindestens so viele Verletzte hinzu und wohl Hunderte von Opfern, die ein lebenslanges Trauma mit sich tragen werden. Bei allem Unverständnis für die Gleichgültigkeit der russischen Bevölkerung gegenüber den Verbrechen ihres Staates im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist klar, dass die Betroffenen uneingeschränktes, weltweites Mitgefühl verdienen.

Lange schien es, dass die Terrororganisation Islamischer Staat nach dem Untergang ihres syrisch-irakischen «Kalifats» im Jahr 2017 entscheidend geschwächt wurde. Ihre Anhänger vermochten in Europa nur noch mit kleineren Anschlägen Aufsehen zu erregen. Das Blutbad in Moskau ruft nun in Erinnerung, dass die Gefahr nicht gebannt ist. Die im Bekennerschreiben gewählten Worte – es gelte, wahllos möglichst viele «Christen» niederzumetzeln – deutet an, dass auch Westeuropa wieder zum Ziel einer Grossattacke werden kann.

Ein «starkes» Regime zeigt Schwachstellen

Im Westen wird die Terror-Bedrohung bis zu einem gewissen Grad hingenommen, weil sie unvermeidbar ist in einer freiheitlichen Gesellschaft, die mit gutem Grund eine lückenlose Überwachung durch die Behörden ablehnt. In Polizeistaaten wie Russland stellt sich die Herausforderung jedoch anders dar. Das Putin-Regime versucht seine Herrschaft mit der Behauptung zu legitimieren, dass es die Bevölkerung wirksam vor allen äusseren und inneren «Feinden» schütze. Zu diesem Zweck beansprucht es absolute Macht. Ein diktatorischer Führerstaat kann nur glaubwürdig sein, wenn sich sein gigantischer Sicherheitsapparat als leistungsfähig erweist. Stattdessen zeigt sich jetzt ein eklatantes Versagen.

Nicht nur hatten die Behörden offenbar keine Kenntnis von der Terrorzelle, die am Freitagabend zuschlug. Präsident Putin hat auch amerikanische Warnungen vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff in den Wind geschlagen. Die Informationen der Amerikaner waren sehr konkret und bezogen sich unter anderem auf die Gefahr von Anschlägen gegen Konzerte. Statt dies ernst zu nehmen, tat der Kremlchef die Warnungen vor wenigen Tagen als westliche «Provokation» ab und behauptete groteskerweise, Washington wolle damit die russische Gesellschaft einschüchtern und destabilisieren. Skandalös ist auch die lange Wartezeit, bis die Sicherheitskräfte endlich zum Sturm auf die unmittelbar neben Regierungsgebäuden der Provinz Moskau gelegenen Konzerthalle ansetzten.

Putin und seine engste Umgebung scheinen von den Ereignissen völlig überrumpelt worden zu sein. Nach dem Anschlag brauchte der Präsident 19 Stunden, bis er sich erstmals öffentlich zum Geschehen äusserte. Auffallend war dabei, wie er mit keinem Wort auf die Bedrohung durch den Islamischen Staat Khorasan einging, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Bekennerschreiben dieser Terrorgruppe längst vorlag und zahlreiche Hinweise auf ein islamistisches Motiv hindeuten.

Stattdessen konstruierte der Staatschef auf zynische Weise eine andere «Spur». Er erhob die Anschuldigung, dass die Attentäter Hintermänner in der Ukraine gehabt und mit deren Hilfe in das Nachbarland zu fliehen versucht hätten. Mit seiner Formulierung, es sei ein «Fenster» für den Übertritt über die militärische Front vereinbart worden, unterstellte Putin eine direkte Verwicklung der ukrainischen Sicherheitskräfte.

Verkehrte Prioritäten im Kreml

Dieses Propaganda-Manöver ist allzu durchsichtig. Putin will offenkundig von seinem Versagen bei der Terrorabwehr ablenken und die Tragödie nutzen, um die Bevölkerung noch stärker gegen die Ukraine aufzuhetzen. Es gibt keinerlei Beweise, die eine ukrainische Verantwortung für die Bluttat zeigen würden.

Nüchtern betrachtet, liegt die Sachlage völlig anders. Der Anschlag hat nichts mit der Ukraine oder dem Westen zu tun. Die Täter waren allem Anschein nach Islamisten mit Wurzeln in der zentralasiatischen Republik Tadschikistan. Russlands Regime hat die Terrorgefahr falsch eingeschätzt, mindestens einen der ausländischen Verdächtigen unerkannt aus der Türkei einreisen lassen und während des Attentats inkompetent gehandelt. Das Propaganda-Selbstbild von Putin als dem erfolgreichen Beschützer Russlands wird dadurch entlarvt.

Mehr noch: Das Massaker vom Freitagabend unterstreicht, wo die wahren Bedrohungen Russlands lauern. Die Kampfansage des IS-K ist eine ernstzunehmende Herausforderung, zumal in Russland Millionen von Muslimen und Gastarbeitern aus zentralasiatischen Ländern leben, unter denen die Terroristen Anhänger rekrutieren können. Die Ukraine dagegen ist eine vom Putin-Regime von A bis Z erfundene Bedrohung.

Für den Krieg gegen das Nachbarland gab es nie auch nur den geringsten sicherheitspolitischen Grund; dieser Feldzug lässt sich einzig durch den Machtwahn der alternden Kreml-Clique erklären. Putin setzt die Prioritäten daher völlig verkehrt. Dies unterstreicht, wie sehr Russland eine Führung fehlt, der die Sicherheit des Landes und der eigenen Bevölkerung ein echtes Anliegen ist.

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