Colin Firth spielt einen Mann, der seine Tochter verloren hat und wissen will, ob Libyen hinter dem Attentat steckte. Oder Iran. Palästinenser? Westliche Geheimdienste? Alles ist denkbar.
Am 21. Dezember 1988, auf dem Weg von London nach New York und 38 Minuten nach dem Start, explodiert der Pan-Am-Flug 103. Das Flugzeug stürzt über der schottischen Kleinstadt Lockerbie ab, alle 259 Passagiere und Besatzungsmitglieder kommen ums Leben, ebenso elf Einwohner. 400 Gramm Plastiksprengstoff waren in einem Koffer detoniert.
Der schlimmste Terrorakt in der Geschichte Grossbritanniens ist bis heute nicht geklärt, trotz umfassendsten Kriminalermittlungen. Wie und wo gelangte die Bombe an Bord? Steckte Libyen, Iran oder Syrien dahinter? Warum wurde eine Warnung der US-Botschaft in Helsinki ignoriert? Waren westliche Geheimdienste involviert? Warum sind wichtige Dokumente weiter unter Verschluss?
Den Wust aus Indizien, Beweisen, Vermutungen, Widersprüchen und Widerrufen, zweifelhaften Zeugenaussagen und falschen Fährten dramaturgisch darzustellen, scheint fast unmöglich. Die Regisseure Otto Bathurst («Peaky Blinders») und Jim Loach stemmen das Unterfangen jedoch.
Sie zeigen die Ereignisse aus der Perspektive von Jim Swire, einem englischen Arzt, der bei dem Anschlag seine 23-jährige Tochter Flora verlor. Die Serie basiert auf Swires Buch («The Lockerbie Bombing: A Father’s Search for Justice») sowie auf 7000 Dokumenten und 70 000 Seiten Recherchematerial, die den Filmmachern zugänglich waren.
Anschlag vor Weihnachten
Drehbuch, Regie, Maske und Bühnenbau sind grandios. «Lockerbie: A Search for Truth» konfrontiert einen mit den komplexen und widersprüchlichen Aspekten, bläht das Wirrwarr aber nicht für dramaturgische Effekte auf. Und es sentimentalisiert nicht das Leid, auch diese Gefahr bringen Verfilmungen ja gerne mit sich. Für Beklemmung sorgen eher die eingebauten Original-TV-Berichte von damals.
Dass sich der Anschlag kurz vor Weihnachten ereignete und an Bord viele junge Passagiere waren, gibt der Tragik eine zusätzliche Dimension. Wer hat unsere Tochter ermordet? Diese Frage beherrscht seit jener Dezembernacht Jim Swires Leben. Er lässt sich zum Sprecher der britischen Hinterbliebenen wählen und richtet sich daheim eine Fahndungszentrale ein; Aktenordner-Stapel, Beweismittel-Boxen und die riesige Pinnwand mit Fotos und Karten ufern im Lauf langer Jahre aus.
Colin Firth («The King’s Speech») spielt diese Figur eindringlich, er oszilliert zwischen Tatendrang und Resignation, die Herkulesaufgabe zermürbt ihn. Drei Jahrzehnte Zweifel und Verzweiflung lassen ihn und seine Frau Jane (Catherine McCormack) zusehends altern, und zwar visuell virtuos – Chapeau vor den Maskenbildnern!
Dramatisch inszenierter Absturz
Gefilmt wurde in Schottland. Das Team hatte die schwierige Aufgabe, bei den Dreharbeiten akkurat und einfühlsam zugleich vorzugehen. So erklärt der Produzent Colin Wratten in einem Statement, dass es viele Betroffene mit Redebedürfnis gegeben habe. Einer erzählte, er bringe es auch nach 35 Jahren nicht fertig, Weihnachten zu feiern.
Der Absturz selbst ist beeindruckend inszeniert, mit der nötigen Dramatik und Brutalität. Der Ort der Katastrophe bot seinerzeit entsetzliche Bilder. Einige Crewmitglieder und Passagiere waren angeschnallt aus der zerbrechenden Maschine geschleudert worden, bevor sie einen riesigen Krater in den Acker bohrte. Manche hatten betend die Hände gefaltet. Leichenteile fanden sich noch Tage später in Gärten, auf Bäumen und in Büschen. Die Filmkameras halten aber rote Linien ein, keine Einstellung gerät pietätlos.
Denn auch Worte können das Grauen veranschaulichen. Jane Swire ist mit ihrer Trauer oft allein und Albträumen ausgeliefert. Bei einem Termin mit dem britischen Verkehrsminister zählt sie laut und in Echtzeit die 15 Sekunden rauf, die ihre Tochter Flora beim Fall aus 9000 Meter Höhe in den Tod laut Pathologie bei Bewusstsein erleben musste. Die Szene geht unter die Haut.
Besuch bei Ghadhafi
Seine Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit bringt Jim Swire an Grenzen und in Gefahren. 1990 schmuggelt er erfolgreich eine Bombenattrappe auf einem Flug von London via New York nach Boston als Beweis für die laschen Sicherheitskontrollen mancher Flughäfen. Er reist nach Libyen (gedreht in Marokko), um den Revolutionsführer Muammar al-Ghadhafi um Hilfe bei der Aufklärung zu bitten. Die Serie heroisiert Swire indes nicht, auch aus Rücksicht auf Angehörige, bei denen der heute 88-Jährige schon lange in Verruf ist.
1991 wird Mordanklage erhoben gegen den libyschen Geheimdienstmitarbeiter Abdel Basset Ali al-Megrahi und gegen Lamin Khalifa Fhimah, Chef der Libyan Arab Airlines auf Malta. Da Libyen nur neutralen Boden für die Gerichtsverhandlung akzeptiert, wird damals auf einer ausgedienten niederländischen Militärbasis nahe Utrecht «Camp Zeist» errichtet, ein schottischer Gerichtssaal mit schottischen Richtern und schottischem Personal.
Im Mai 2000 beginnt der Prozess, am 31. Januar 2001 wird Fhimah freigesprochen und Megrahi zu lebenslanger Haft in einem Gefängnis bei Glasgow verurteilt – und 2009 wegen Prostatakrebs begnadigt und entlassen. Auch hier geht die Serie hoch authentisch vor: Der Zeist-Gerichtssaal ist so originalgetreu nachgestellt wie Jim Swires Ohnmachtsanfall bei der Urteilsverkündung.
Steckten Palästinenser dahinter?
Der Brite ist da längst von Megrahis Unschuld überzeugt und davon, dass Iran und die PFLP-GC, eine palästinensische Terrororganisation in Syrien, hinter dem Attentat stecken. Er sieht den Libyer als Bauernopfer einer immer undurchsichtigeren Verschwörung. In der Verfilmung wächst zwischen den beiden Vertrautheit, fast Freundschaft. Swire geht so weit, Megrahi als «271. Opfer» des Anschlags zu bezeichnen. Den einst angesehenen Mediziner entzweit das vollends von anderen Hinterbliebenen.
Man sollte meinen, dass sich das grauenvolle Ereignis ins kollektive Gedächtnis der betroffenen Nationen eingebrannt hat. Von wegen: In der letzten Folge, gut zwanzig Jahre nach dem Absturz, deutet eine britische Kellnerin auf Swires Lockerbie-Gedenkplakette, die er am Revers trägt. «Was ist das?», fragt sie ihn fröhlich.
Diesen Mai soll vor einem US-Bundesgericht in Washington ein Verfahren beginnen gegen Abu Agila Masud, einen anderen beschuldigten Lockerbie-Libyer. Swires Suche nach der Wahrheit ist noch nicht zu Ende.
«Lockerbie: A Search for Truth» läuft auf Sky.