Die 17-jährige Russin wird für vier Jahre gesperrt – doch was ist sie wirklich? Täterin oder Opfer?
Es hätte einer der Höhepunkte der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking werden können. Die damals erst 15-jährige Russin Kamila Walijewa glitt in scheinbarer Schwerelosigkeit übers Eis. Mit ihrer Anmut, der Leichtigkeit und ihrer jugendlichen Freude gab sie dem Sport für einen Moment jene Reinheit und Unbeschwertheit zurück, den er gerne für sich beansprucht.
Die Spiele von Peking waren da erst ein paar Tage alt. Und doch erlebten sie bereits einen Moment, der sie rückblickend prägen würde: Die Kür des Teamwettbewerbs im Eiskunstlaufen. Walijewas Auftritt war für das russische Team Gold wert. Zwei Tage währten die russische Freude und die internationale Anerkennung, ehe sie ins Gegenteil umschlugen.
Unmittelbar vor der eigentlichen Siegerehrung hiess es: Stopp, Übungsabbruch. Die Medaillenübergabe wurde ohne Angabe von Gründen auf unbestimmte Zeit verschoben. Schnell schossen die Spekulationen über die Gründe ins Kraut. Mark Adams, der Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees (IOK), sagte am Abend beim täglichen Briefing der Medien, die Medaillen-Übergabe habe wegen «rechtlichen Verwicklungen» verschoben werden müssen. Mehr könne er dazu im Moment nicht sagen.
Schnell tauchten Gerüchte auf, dass der Grund dafür ein positiver Dopingtest sei. Und zwar im russischen Team, in jener Delegation also, die wegen des staatlich orchestrierten Dopings im Umfeld der Winterspiele 2014 in Sotschi auch in Peking ohne Hymne, Flagge und Nationalitätsbezeichnung antreten musste.
Ein Herzmedikament im Körper einer 15-Jährigen
Bald schon war klar: Es ging tatsächlich um Doping. Und es sickerte auch durch, wen der positive Befund betraf: Kamila Walijewa, das Wunderkind, soll im Dezember zuvor an den nationalen Meisterschaften in St. Petersburg positiv auf das Herzmedikament Trimetazidin getestet worden sein. Weil die Läuferin noch minderjährig war, genoss sie eigentlich Jugendschutz – ihr Name hätte nicht bekanntgegeben werden dürfen. Warum sickerte er trotzdem durch? Wegen einer Panne oder vielleicht sogar willentlich? Das alles ist bis heute Teil der Spekulationen, welche den aussergewöhnlichen Fall umranken.
Das internationale Sporttribunal (TAS) entschied an einer eilends einberufenen Sitzung, dass die Eiskunstläuferin vorerst im Wettbewerb bleiben dürfe. Zu viele Fragen blieben offen. Wie war das Herzkreislauf-mittel, das die Sauerstoffaufnahme im Blut, die Energieverwertung und den Kohlehydratstoffwechsel verbessert, in das Blut der kerngesunden Athletin gekommen? Weshalb hatte es so lange gedauert, bis die positiven Resultate gemeldet wurden?
Unter diesen Schatten trat Walijewa eine Woche später als grosse Favoritin zur Kür des Einzelwettbewerbs an und scheiterte grandios. Gleich mehrmals strauchelte sie und griff mit der Hand aufs Eis. Sie beendete den Wettkampf auf Platz 4 und verliess das Eis in Tränen aufgelöst. Lippenleser wollen gemäss der New York Times erkannt haben, wie ihre umstrittene Trainerin Eteri Tutberidse ihr zugeflüstert habe: «Warum hast du uns im Stich gelassen? Warum hast du nicht gekämpft? Erkläre mir, warum?»
Die russische Antidoping-Agentur Rusada, die für die Sanktionierung des positiven Dopingtests von St. Petersburg verantwortlich war, verzichtete auf solche mit dem Hinweis, dass die junge Läuferin nicht für die positive Dopingkontrolle verantwortlich gemacht werden könne. Unter dem Druck der Amerikaner leitete die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada beim Sporttribunal in Lausanne ein Verfahren ein.
Nun sperrte die Wada Walijewa am Montag rückwirkend für vier Jahre und strich sämtliche ihrer Resultate, die sie seit dem Tag des positiven Tests erreicht hatte. Die Internationale Eislauf-Union schrieb darauf die Rangliste des Team-Wettbewerbs von Peking um. Gold geht neu an die USA, Silber an Japan. Den Russinnen bleibt ohne das Resultat ihres jungen Stars immerhin noch Bronze.
Dem russischen Sport den Krieg erklärt
Die letzten Medaillen der Spiele von Peking scheinen damit knapp zwei Jahre nach dem Erlöschen der Olympischen Flamme vergeben. Doch das Hickhack um die Schuld und Unschuld von Kamila Walijewa dürfte damit nicht beendet sein. Das russische Olympische Komitee, das derzeit vom IOK wegen der Annexion ukrainischer Gebiete suspendiert ist, schrieb in einer Medienmitteilung, dem russischen Sport sei der Krieg erklärt worden. Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach am Dienstag von einem politisch motivierten Urteil und kündigte die Fortsetzung des juristischen Kampfes an. «Die Läuferinnen werden für uns immer Olympiasieger bleiben, welche Entscheidungen, selbst ungerechte, getroffen werden.»
In zwei Jahren, gerade rechtzeitig auf die nächsten Winterspiele in Mailand, wird Kamila Walijewa wieder startberechtigt sein. Was bleibt bis dann übrig vom Zauber ihrer Kür von Peking? Ein mittlerweile zwei Jahre dauernder Kampf um Schuld und Unschuld einer jungen Athletin, die damals noch mehr Kind als Frau war. Und eine Karriere, die für immer von einem Makel überschattet bleiben wird.
Walter König, der Präsident von Antidoping Schweiz, sagt: «Ich sehe in der ganzen Angelegenheit nur Verlierer. In erster Linie ist es tragisch, wenn eine so junge Athletin zum Spielball der Weltpolitik wird. Es zeigt, dass man den Schutz der Minderjährigen nicht hoch genug gewichten kann.» Gleichzeitig sagt König aber auch, nur weil die Athletinnen und Athleten minderjährig seien, könnten sie sich nicht ausserhalb der geltenden Regeln bewegen. Das Ganze sei ein Thema, das bestimmt noch vertieft diskutiert werden müsse.