Donnerstag, November 7

Er leidet an einer als unheilbar geltenden Krankheit und hat das Interesse am Fotografieren verloren. Eine Gelegenheit für letzte Provokationen, aber auch für versöhnliche Worte.

Er hat sich in seiner Karriere als Provokateur vom Dienst immer auch des Todes angenommen. Einen wie Oliviero Toscani, der die grossen Emotionen liebt und braucht, konnte das letzte Thema nicht kaltlassen. Schon gar nicht, weil es damals, weit vor der Covid-Wende, noch tabu war ­– und Tabus zu brechen, gehört zu Toscanis Lebensaufgabe.

Legendär geworden ist seine Kampagne für Benetton mit dem Bild eines an Aids Erkrankten im Sterbebett, umringt von seiner Familie. Oder der erschossene Mafioso, zugedeckt von einem Tuch, unter dem das Blut hervorfliesst. Toscani hat Porträts von zu Tode Verurteilten in amerikanischen Gefängnissen gemacht. Und das blutverschmierte Gesicht eines im Bosnienkrieg Gefallenen aufgenommen. Toscanis radikaler Blick auf den Tod war stets unverstellt, ohne einen Hauch von Milde.

Nun klopft der Tod an seine Tür: Vor rund einem Jahr wurde bei Toscani Amyloidose diagnostiziert, eine seltene Erkrankung, bei der sich abnorme Proteine in Geweben und Organen ansammeln und diese lebensgefährlich schwächen. Die Chancen auf Heilung sind gering. Der 82-Jährige hat innert kurzer Zeit 40 Kilogramm an Gewicht verloren. Er ist auf Krücken und auf den Rollstuhl angewiesen. Sein Atem ist schwer, er spricht langsam, die Zunge schlägt an. Wie viel Zeit ihm noch bleibt, weiss Toscani nicht.

Aussichtslose Situation

Und selbst jetzt nimmt er keine geschmeidigere Haltung ein: «Der Tod gehört zum Leben, basta!», sagt Toscani bei einem Gespräch am Telefon. Er befindet sich auf seinem Landgut in der Toskana. Am Morgen war er zur Kontrolle im Spital, wo er sich einer neuartigen, experimentellen Kur unterzieht. «Ich bin ein Versuchskaninchen», sagt er lachend.

Es passte zum grössten Provokateur der Fotografie, wie er Ende August die Öffentlichkeit über seine Krankheit informierte: durch ein Interview im «Corriere della Sera». Und zwar mit einem Foto als Blickfang, das aus einer seiner Kampagnen hätte stammen können: Ein ausgemergelter, nicht wiederzuerkennender Toscani sitzt in einem grossen Sessel, die Hände vor dem geblähten Bauch gefaltet. Grimmig schaut er in die Kamera. Das Bild hat die Journalistin schnell mit dem Handy gemacht. «Fotografen braucht es heute nicht mehr», sagt Toscani wirsch.

Die Reaktionen auf das Interview erlebte Toscani als überwältigend: «Niemals hätte ich gedacht, dass der Beitrag ein so grosses Echo auslösen wird.» Alle Medien im Land nahmen die Meldung auf, sein Telefon lief heiss. Toscani erhielt viele Zeichen von Mitgefühl. Bewundert wurde, dass er sich so ungefiltert und offen zeigt und ohne einen Hauch von Selbstmitleid über seine aussichtslos erscheinende Situation spricht.

In den Kommentaren der sozialen Netzwerke gab es aber auch viel Häme: «Dein Karma, selber schuld», um nur eine der noch gesitteteren Wortmeldungen zu erwähnen. Die Boshaftigkeit, die ihm da entgegenschlug, kann allerdings nicht gross überraschen. Schliesslich hat sich Toscani zeit seines Lebens viele Feinde geschaffen, weil er sich selbst mit bissigen Kommentaren und scharfen Urteilen nie zurückgehalten hat.

Zum Beispiel nach dem Tod von Silvio Berlusconi: «Ich bin glücklich, dass es ihn nicht mehr gibt – überglücklich!», liess Toscani verlauten, womit er natürlich, wieder einmal, einen grossen Aufschrei verursachte. «Dabei habe ich nur gesagt, was viele dachten.» Berlusconi, findet er, habe das Land ruiniert.

Seine harten Kampagnen für Benetton beschäftigten zahllose Anwälte. Oftmals brauchte es auch nur ein kurzes Interview in einer der grossen Tageszeitungen, damit sich der Fotograf wieder wegen Verleumdung vor Gericht verantworten musste. Toscani war ein dankbarer Interviewpartner. Sein Furor gab immer gute Quotes her.

Noch heute: Erst gerade wieder droht ihm eine Klage von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, weil er sie kürzlich im Fernsehen als Faschistin bezeichnet hat. Wegen seiner Unerschrockenheit, mit der er alle angreift, die in seinem Weltbild die Gegner darstellen, hat er von Kollegen den Übernamen T-Rex erhalten.

Der Moment der Wahrheit scheint den Tyrannosaurus nur noch radikaler zu machen, auch in Bezug auf sich selber. Längere Zeit ans Bett gefesselt, mit dem Tod vor Augen, habe er viel Gelegenheit zum Nachdenken. Heute sagt er: «Das Schöne an meiner Situation ist, dass dich Vaterland, Familie und Besitz nicht mehr interessieren!» Diese Dinge seien der Ruin der Menschheit, weil sie Ungleichheit und Ungerechtigkeit schafften.

Selbst die Lust am Fotografieren ist ihm vergangen, und zwar gänzlich. «Ich habe mich von allem befreit – ist das nicht wunderbar?»

Grillierte Schwäne

Ganz uneitel ist Toscani aber dann doch nicht. Er freut sich riesig über den Erfolg, den die Ausstellung über sein Gesamtwerk im Zürcher Museum für Gestaltung hat. Weil der Andrang so gross ist, wurde sie bis Januar 2025 verlängert. Bis jetzt wurden 40 000 Besucher gezählt.

Kürzlich hat Oliviero Toscani die Strapazen auf sich genommen, nach Zürich zu reisen. Die Verantwortlichen des Museums haben für ihn und seine Familie, die ihn begleitete, einen Bus organisiert, in dem der italienische Patient liegend mitfahren konnte. Es sei ein schönes Erlebnis gewesen, denselben Weg nochmals zurückzulegen, den er früher so viele Male genommen habe.

Toscani kam als 19-Jähriger nach Zürich, wo er von 1961 bis 1965 die Fotoklasse der Kunstgewerbeschule absolvierte. Die Fotografie befand sich damals in grossem Umbruch: Der Fokus verschob sich vom Objekt zum Menschen und zu den Themen, die damals die Menschen aufzuwühlen begannen: Krieg, Rassendiskriminierung, gesellschaftliche Ungleichheiten. Auch das Fernsehen, das damals aufkam, stellte die Fotografie vor neue Herausforderungen.

Die Ausbildung in Zürich war die Basis für Toscanis erfolgreiche Laufbahn. Hier lernte er unter anderem Fototechnik, Komposition und visuelles Argumentieren. In Zürich erlebte er auch zum ersten Mal, wie die Öffentlichkeit durch eine gezielte Provokation aufgerüttelt werden kann. Toscani hatte die Polizei an den Zürichsee begleitet, wo sie altersschwache und kranke Schwäne tötete. Das brachte ihn auf die Idee, ein Barbecue am Bellevue zu organisieren, bei dem Landsleute, die als Gastarbeiter in Containern lebten, einen der Schwäne grillierten.

Toscanis wollte Aufmerksamkeit schaffen, um auf die schwierigen Konditionen hinzuweisen, in denen seine Landsleute leben mussten. Sein Kalkül ging auf: Die Meldung von den Schwäne verspeisenden Italienern verursachte einen Aufschrei. Danach nahmen einige Medien die Aktion zum Anlass, um auf die Lebenssituation der italienischen Gastarbeiter einzugehen. «Die Italiener wurden von den Schweizern so würdelos behandelt, wie wir es heute in Italien mit den Migranten machen», sagt Toscani.

Was ihn selber betrifft, hat er allerdings nur positive Worte: «Die Schweiz war sehr grosszügig zu mir.» Toscani kam nach Zürich, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, und durfte die Kunstgewerbeschule gratis besuchen.

An einem der Abende neulich in Zürich trat Toscani im Rollstuhl an einem Podiumsgespräch mit dem Kurator Christian Brändle auf. Vor rund 250 Zuschauern im Museum für Gestaltung ging er nochmals alle wichtigen Stationen seiner Karriere durch und sparte auch nicht mit Giftpfeilen – etwa, was die sozialen Netzwerke betrifft. Für Toscani steht fest, dass jeder, der sie benutze, ein Idiot sei.

Am Ende des etwas mehr als eine Stunde dauernden Gesprächs, zu dem sich auch einige seiner Kollegen aus seiner Jugendzeit in Zürich eingefunden hatten, war Toscani sichtlich gezeichnet. Auf die Fragen aus dem Publikum wusste er nicht mehr richtig zu antworten.

Der Besuch in Zürich habe ihm viel Energie gegeben und auch Lust, weiterzuleben, sagt Toscani. Besonders freut er sich, dass sich mit der Ausstellung im Museum für Gestaltung der Kreis seines Schaffens schliesst, der 63 Jahre zuvor an derselben Stelle seinen Anfang nahm. Jetzt findet Toscani sogar versöhnliche Worte: «Am Ende bin ich sehr privilegiert, selbst im Unheil!»

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