Freitag, Oktober 25

Der Partei des Milliardärs Bidsina Iwanischwili droht erstmals seit zwölf Jahren die Abwahl. Sie setzt deshalb alles auf eine Karte – und schreckt auch vor düsteren Drohungen nicht zurück.

«Die Hälfte der Georgier sind Präsidenten, die andere Hälfte Ministerpräsidenten», sagt Micheil Dalakischwili verschmitzt. Will heissen: Über Politik wird in Georgien überall und von allen gesprochen. Das ist in Dschordschiaschwili, einem Dorf in den Hügeln Zentralgeorgiens, knapp fünfzig Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tbilissi, nicht anders. Zu Sowjetzeiten war hier die Kolchose der wichtigste Betrieb. Von deren Gebäude sind nur die Gerippe geblieben, sie stehen auf verwildertem Grund. Viel Land rundherum liegt brach, obwohl es fruchtbar wäre.

Das hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogar deutsche Siedler angezogen. Das Nachbardorf Asureti hiess einst Elisabethtal. Die protestantische Kirche und ein Strassenzug namens «Schwabenstrasse» mit Überresten von Fachwerkhäusern erinnern an die tragische Geschichte der Kaukasusdeutschen. Stalin hatte sie während des Zweiten Weltkriegs wie alle Deutschen auf dem Gebiet der Sowjetunion nach Zentralasien und Sibirien deportiert.

Abwanderung der Jungen

Dalakischwili ist stellvertretender Ortsvorsteher in Dschordschiaschwili. Er betreibt Landwirtschaft, seine Frau versorgt das Dorf mit frischem Brot. Über das Leben will der 65-Jährige nicht klagen. Vor 25 Jahren, in den in Georgien sehr wilden neunziger Jahren, gab es keine asphaltierte Strasse hierher, der Strom fiel ständig aus. Wer nach Tbilissi aufbrach, riskierte, von Räubern überfallen zu werden. Jetzt sind die Strassen gut, wer arbeiten will, kann arbeiten, es gibt Gas und Strom.

Ein paar Ortschaften weiter ist mit Geldern der Asiatischen Entwicklungsbank ein moderner zweistöckiger Kindergarten gebaut worden, der sich nun langsam mit Leben füllt. Es ist ruhig hier. Vielleicht etwas zu ruhig: Viele Jüngere, die etwas anpacken wollen, haben die Dörfer verlassen, manche auch Georgien, wie einer der drei Söhne Dalakischwilis, der in Belgien lebt.

Raue Töne von Iwanischwili

An diesem Samstag wird in Georgien ein neues Parlament gewählt. In Dschordschiaschwili ist das ein Gesprächsthema, aber abgesehen vom bereits beschrifteten Wahllokal deutet – im Unterschied zur Hauptstadt – äusserlich nichts darauf hin. In Georgien sprechen viele von einer «Schicksalswahl», weil die politische Landschaft seit den Protesten vom Frühjahr gegen das sogenannte Agentengesetz noch polarisierter ist als zuvor. Von der regierenden Partei Georgischer Traum unter Führung des schillernden Geschäftsmanns Bidsina Iwanischwili erklangen in den vergangenen Monaten raue Töne an die Adresse des Westens und der Opposition. Umgekehrt halten auch die USA und die Europäische Union ihre Enttäuschung über die Politik der Regierung nicht zurück.

Der Georgische Traum, der seit 2012 regiert, stilisiert die Wahl zu einer Entscheidung zwischen Krieg und Frieden: Wer die Opposition wähle, riskiere, dass Georgien in einen Krieg mit Russland hineingezogen werde, wie das angeblich die Amerikaner und die Europäer von der Regierung wünschten. Die Partei verdeutlichte das mit einem provozierenden Wahlplakat, das für grosse Empörung sorgte. Es zeigt zerstörte ukrainische Städte und suggeriert, dass das auch Georgien blühen könnte, falls die Opposition an die Macht kommt.

An der Abschlusskundgebung des Georgischen Traums am Mittwochabend im Zentrum Tbilissis, zu der die Partei aus dem ganzen Land Leute in Bussen herbringen liess, warnt Iwanischwili vor «pseudoliberalem Faschismus» und «ausländischen Agenten», die Georgiens Souveränität unterhöhlten und dem Land die eigenen Traditionen und Werte wegnehmen wollten. Zugleich sprechen sich alle Redner der Partei dafür aus, mit «Würde und unter Wahrung der Souveränität» den Kurs nach Europa fortzusetzen.

Die Opposition jedoch sieht das Land an der Weggabelung von Demokratie und autoritärer Herrschaft, vor der Entscheidung für Europa oder Russland. Ihre wichtigsten Parteien, darunter als stärkste Gruppierung die Vereinigte Nationalbewegung des inhaftierten früheren Präsidenten Micheil Saakaschwili, haben sich zu vier Wahlplattformen vereint. Beide Seiten werfen einander vor, das gesellschaftliche Klima zu vergiften.

Insel des Friedens

Micheil Dalakischwili scheint die Botschaft der Regierung verinnerlicht zu haben. Rund um Georgien herrsche Krieg, sagt er am Tisch in seinem Haus und zählt die Konfliktherde von der Ukraine bis zum Nahen Osten auf; nur in Georgien sei es friedlich geblieben. Deshalb laute das wichtigste Ziel der Wahl «Frieden». Nur dann sei eine weitere Entwicklung im Land möglich. Diese sieht er vor allem in der Lage Georgiens als Transitland zwischen Asien und Europa. Die Wirtschaft wächst, überall im Land wird gebaut.

Aber Dalakischwili relativiert auch: Ein Sieg der Opposition bedeute nicht automatisch Krieg. Der Landwirt gibt sich pragmatisch. Er macht auch eines deutlich: Um Europa gehe es doch eigentlich gar nicht. «Niemand bestreitet, dass Europa uns wichtig ist. Georgien war immer nach Europa ausgerichtet.» In Russland sieht er den Besetzer georgischen Territoriums in den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien, wie die Mehrheit der Georgier.

Bloss wolle er nicht akzeptieren, dass andere Länder Georgien diktierten, wie es sich zu verhalten habe. Das betreffe die westlichen Sanktionen gegen Russland und die Frage, ob Georgien eine zweite Front gegen Russland eröffnen solle. «Die Russen stehen vierzig Kilometer vor Tbilissi. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit Panzern kämen. Wer würde uns dann helfen? Frankreich? Belgien?», fragt er.

Ausrichtung nach Europa

Das sieht auch der Politologe Mamuka Areschidse in Tbilissi so. Er sagt, Russland sei nicht zu vertrauen. Zur Ausrichtung nach Westen habe Georgien keine Alternative – im Norden befinde sich das aggressive Russland, im Süden hätten immer schon Länder kulturell und territorial über Georgien herrschen wollen. Zugleich aber sei Georgien gezwungen, geopolitische Realitäten anzuerkennen. Dazu gehört für ihn der Handel mit Russland. Diesen aufzugeben, würde den Tod des Landes bedeuten.

Die Opposition wehrt sich gegen die Dichotomie von «Krieg» und «Frieden». Alexandre Crevaux-Asatiani, französisch-amerikanischer Georgier und stellvertretender aussenpolitischer Sprecher der Vereinigten Nationalbewegung, der stärksten Oppositionspartei, hält das für ein geschicktes Manöver der Regierung. Sie versuche damit von den Themen abzulenken, die die Wähler im Grunde viel mehr beschäftigten – Wirtschaftswachstum, Inflation, Verbesserung der Lebensverhältnisse. Gerade mit Russland gebe es doch gar keine Stabilität und keinen Frieden, das zeigten alle Länder, die sich an Moskau angelehnt hätten.

Die Abgeordnete Salome Samadaschwili, Vertreterin der Plattform «Starkes Georgien», Mitglied der eher linksliberalen Partei Lelo und einstige Botschafterin Georgiens bei der EU, weist auch den Vorwurf zurück, bei einer Machtübernahme der Opposition werde der Handel mit Russland eingestellt. Firmen, die unter westlichen Sanktionen stünden, dürften dann keine staatlichen Aufträge mehr bekommen. Sie ist zuversichtlich, dass die Friedensrhetorik des Georgischen Traums nur ein beschränktes Publikum anspricht. Ihre Plattform sieht sie als eine dritte Kraft in der zwischen Iwanischwili- und Saakaschwili-Anhängern gespaltenen Politik.

Erwartungen an die EU

«In Georgien ist jede Wahl eine Schicksalswahl», sagt der Politologe Tornike Scharaschenidse. Russlands Soft Power hält er für gering. Der Georgische Traum profitiere vor allem davon, dass er für Frieden eintrete und immer wieder das Gespenst der Rückkehr Saakaschwilis an die Wand male. Auch diese Karte spielt der Georgische Traum gekonnt. Der Musikproduzent und Gastrounternehmer Lascha Baslandse ist ein Beispiel dafür. Beim Gespräch im Wahlkampfstab der Regierungspartei erzählt er von seinem Trauma – der Inhaftierung in den berüchtigten Gefängnissen am Ende der Herrschaft Saakaschwilis. Diese Willkür und Brutalität dürften seine Kinder nie erleben, sagt er. Mit seiner Biografie will er auch widerlegen, dass der Georgische Traum gegen Europa und für Russland sei. Er verlor als Kind seine Heimat im nun von Russland kontrollierten Abchasien und wuchs unter anderem in Italien auf.

Auch der Politologe Scharaschenidse kann sich nicht vorstellen, dass der Georgische Traum von der Integration nach Europa Abstand nehme – die Politiker wollten von den Fördergeldern profitieren. Er sieht ebenso die EU in der Pflicht. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl und der Volksabstimmung in der Moldau müssten ein Weckruf für die Politik Brüssels gegenüber Georgien sein. Die EU könne nicht länger die Moldau zum Modellfall machen und Georgiens Ambitionen zurückweisen – in Georgien sei der Wunsch nach Integration in Europa viel tiefer verankert als dort. Scharaschenidse hofft, dass die EU bei einem als fair empfundenen Wahlsieg des Georgischen Traums die Schärfe in der Rhetorik zurücknehmen werde. Eine Isolierung Georgiens nach dem Muster Weissrusslands sei unmöglich.

Gerade auf eine solch starke Reaktion des Westens aber hofft Crevaux-Asatiani von der Nationalbewegung. Georgien müsse komplett isoliert werden, sollte die Regierungspartei erneut gewinnen. Das Szenario schreckt viele Wähler auf. Besonders die Schengen-Visafreiheit wollen sie auf keinen Fall verlieren.

Wie ernst sind die Drohungen?

Für den Oppositionspolitiker ist klar, dass ein gegnerischer Sieg nur bei massiven Wahlfälschungen möglich wäre. Bereits jetzt gebe es viele Anzeichen für Manipulationen. Völlig konträr sind auch die Meinungsumfragen. Während eine vom regierungsnahen Fernsehsender Imedi verbreitete Umfrage dem Georgischen Traum gar eine Zweidrittelmehrheit zuspricht, gehen andere Umfragen davon aus, dass der Traum zwar stärkste Partei wird, aber die Opposition insgesamt eine Mehrheit bekommt. Erstmals wird das ganze Parlament nach dem Proporzwahlrecht gewählt.

Was Iwanischwili zu seinem Furor über den angeblich kriegslüsternen und dekadenten Westen und zu seinen wüsten Drohungen mit einem Verbot von Oppositionsparteien antreibt, ist Gegenstand heftiger Debatten. Dasselbe gilt für die Frage, wie ernst ihm mit all dem überhaupt ist. Ist es nur Wahlkampfrhetorik, um die von der langen Regierungszeit ermüdeten Wähler noch einmal zu mobilisieren? Steckt doch mehr russischer Einfluss dahinter? Vielen Georgiern zeigte Iwanischwili mit seinen jüngsten Auftritten und Interviews einen Realitätsverlust sowie eine Fixierung auf das eigene Geld und auf das Festhalten an der Macht. Auch die Härte gegenüber Andersdenkenden ist unübersehbar. Zu meinen, die EU kümmere das nicht, dürfte eine fatale Illusion sein.

Es sieht alles danach aus, als stünden Georgien heisse Tage bevor. Weder der Georgische Traum noch die hochmotivierte junge Generation, die im Frühjahr wochenlang protestiert hatte, werden klein beigeben.

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