In der Türkei sinkt die Geburtenrate. Präsident Erdogan will den Trend stoppen. Mindestens drei Kinder pro Frau sollen es sein, um die Gesellschaft jung und die Wirtschaft stark zu halten. Doch viele Türkinnen haben andere Pläne.

Die Fussballer treten mit einer Botschaft aufs Spielfeld: «Eine natürliche Geburt ist normal», steht auf einem Banner, das die Sportler des türkischen Teams Sivasspor halten, und: «Ein Kaiserschnitt ist unnatürlich, sofern er nicht medizinisch notwendig ist.» Darunter das Logo des Gesundheitsministeriums. Kurz darauf verbietet die Regierung geplante Kaiserschnitte in Privatkliniken. Präsident Recep Tayyip Erdogan macht Kaiserschnitte mitverantwortlich dafür, dass Frauen in der Türkei immer weniger Kinder bekommen. Die Türkei steuere auf einen Albtraum zu, sagt er wiederholt.

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Eine alternde Bevölkerung belastet Renten- und Gesundheitssysteme, weil immer weniger Menschen einzahlen. Das gefährdet die Tragfähigkeit von Volkswirtschaften und passiert weltweit: in Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Südkorea, Kanada und Brasilien. Erdogan hält den Geburtenrückgang für «eine weitaus ernstere Bedrohung als einen Krieg». 2025 soll deshalb das «Jahr der Familie» werden. Erdogan rät Frauen, mindestens drei Kinder zu bekommen. In der Realität bekommen Türkinnen im Schnitt 1,5 Kinder. Um die Bevölkerung stabil zu halten, wären 2,1 nötig.

Kinder und Karriere schliessen sich oft aus

Günay Yildirim hat sich gegen eigene Kinder entschieden. Die 32-jährige KI-Entwicklerin lebt allein in der Hauptstadt Ankara. Ihren echten Namen möchte sie aus Angst vor beruflichen Nachteilen nicht in der Zeitung lesen. Sie habe immer gewusst, dass sie keine Mutter werden wolle, erzählt sie am Telefon: «Ich liebe meine Freiheit.» Ihre berufliche Entwicklung sei ihr wichtig, und beides – Karriere und Kinder – gehe nicht. «Nicht hier, in der Türkei», sagt sie. Das Gesetz diskriminiere Frauen. Der bezahlte Mutterschutz beträgt sechzehn Wochen: acht Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt. Väter bekommen im öffentlichen Dienst zehn Tage bezahlten Urlaub, in der Privatwirtschaft fünf.

Günay Yildirim ist Single. Sie datet zwar, hatte aber bisher kaum ernsthafte Beziehungen. «Ich will niemanden, der konservativ denkt. Aber von diesen gibt es viele», sagt sie. Selbst Männer, die sich für modern hielten, erwarteten oft, dass die Frau sich ums Kind kümmere, so Yildirim. Sie erklärt: «Sie glauben an eine besondere Bindung zwischen Mutter und Kind, die der Vater nicht hat.» Daher seien Frauen im Beruf benachteiligt, weil sie beides leisten sollten: arbeiten und Kinder betreuen. Von Männern hingegen erwarte niemand, dass sie sich um irgendetwas kümmerten – ausser um ihren Job.

Fremdbetreuung für die Kleinsten ist die Ausnahme

Was für Günay Yildirim eine theoretische Überlegung bleibt, ist für andere Frauen tägliche Realität – der Versuch, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Die 29-jährige Seyma ist in den Job zurückgekehrt, als ihr Sohn neun Monate alt war. Sie schilderte ihre Erfahrungen kürzlich in der Zeitung «Hürriyet». Wenn sie und ihr Mann auf der Arbeit sind, passt ihre Mutter auf den Zweijährigen auf.

In der Türkei besucht laut Zahlen der OECD weniger als ein Prozent der unter Dreijährigen eine Kita, bei den Vierjährigen ist knapp ein Drittel in Fremdbetreuung. Staatliche Angebote, die kostenlos sind, stellen die Ausnahme dar. In der Regel müssen Eltern für Verpflegung, Reinigung und Materialien selbst aufkommen. Private Kitas verlangen noch höhere Beiträge: In Online-Foren berichten Eltern aus Ankara und Istanbul von Monatsbeiträgen zwischen umgerechnet 170 und 330 Euro – in einem Land, in dem der Mindestlohn bei rund 500 Euro liegt.

Seymas Tag ist eng von morgens bis abends durchgetaktet. Sie wache um sechs Uhr auf, räume auf, starte die Wäsche und bereite das Essen für ihren Sohn vor. Während der Kleine aufstehe, ihr Mann ihn wasche und anziehe, mache sie sich fertig und stelle den Trockner an. Kurz darauf komme die Oma des Jungen, Seyma und ihr Mann schmierten sich Brote und verliessen das Haus bis zum Abend. Seyma sagt in dem Artikel, dass es nicht schwer sei, zu arbeiten, sondern dass es schwer sei, eine berufstätige Mutter zu sein. Sie sei müde. Ob sie ein weiteres Kind bekommen wolle, bleibt offen.

Anreize für mehr Kinder

Erdogans Regierung hat sich einiges einfallen lassen, um kinderlose Frauen wie Günay Yildirim und Mütter wie Seyma zu mehr Nachwuchs zu bewegen: zinslose Darlehen für Verheiratete, Babyprämien, Neuregelungen für Mutterschaftsurlaub, bessere Betreuung. Es geht um Familienförderung, doch die Massnahmen könnten Frauen auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Das wäre gut für die Wirtschaft und ist daher ein erklärtes Ziel von Finanzminister Mehmet Simsek.

Nur 36 Prozent der Frauen über 15 Jahre sind erwerbstätig. Simsek sieht ein Problem darin, dass es zu wenige Teilzeitmöglichkeiten gibt. Eine Langzeitstudie, die 2018 in der Fachzeitschrift «Demographic Research» veröffentlicht wurde, ergab: In der Türkei bekommen berufstätige Frauen seltener Kinder oder entscheiden sich gegen ein weiteres. Und Frauen mit Kindern nehmen seltener eine Erwerbsarbeit auf. Die Autorinnen sprechen von «Rolleninkompatibilität».

Führt also eine bessere Vereinbarkeit zu mehr Kindern? Der Blick in andere Länder stimmt skeptisch. Auch in Staaten mit längerer Elternzeit, flächendeckender Betreuung und weniger Geschlechterungleichheit sind die Geburtenraten niedrig. In Schweden 1,45 pro Frau, in Norwegen 1,41, in Dänemark 1,47. Die Soziologin Alice Evans vom King’s College London sieht einen anderen Grund für global sinkende Geburtenraten: veränderte Lebensentwürfe. Sie schreibt in ihrem Substack-Blog, dass der grosse Wandel nicht kinderlose Paare, sondern die Zunahme von Singles sei.

Die Heiratsrate in der Türkei ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten um 20 Prozent gesunken. «Stellen Sie sich eine junge Frau im konservativen Konya vor, deren Instagram-Feed mit weltreisenden Influencerinnen gefüllt ist», schreibt Evans in Anspielung auf eine Stadt südlich von Ankara. Junge Frauen sähen Alternativen zu traditionellen Rollenbildern und entwickelten andere Vorstellungen von Freiheit, Partnerschaft und Zukunft als die Männer in ihrem Umfeld. Und wenn sie diese nicht mit einem Mann leben könnten, so Evans, dann blieben sie lieber allein. Frauen wie Günay Yildirim stellen die alten Muster infrage und geraten damit zunehmend in Konflikt mit den Erwartungen von oben.

Weibliche Lebensentwürfe im Wandel

Offiziell dreht sich die Debatte um sinkende Geburtenraten. Doch in Wahrheit verhandelt die Türkei etwas Grundsätzlicheres: wie schwer individuelle Freiheit in einem System wiegt, das den Wandel weiblicher Lebensentwürfe politisch zurückdrehen will und sich dabei auf das Gemeinwohl beruft.

Evans nennt den Rückgang der Geburtenrate «die grösste wirtschaftliche Krise unserer Zeit». Doch bis jetzt sind es vor allem nationalistische Politiker, die das Thema für sich beanspruchen. Dazu gehören Donald Trump in den USA, Viktor Orban in Ungarn, Giorgia Meloni in Italien, Erdogan in der Türkei. Ihnen wird vorgeworfen, Frauen mit ideologisch motivierter Familienpolitik zu bevormunden und queere Lebensentwürfe zu marginalisieren. Sie glaube der Regierung kein Wort, wenn sie über Frauen rede, sagt Günay Yildirim. «Das sind Frauenfeinde.»

In der Vergangenheit sagte Erdogan, der Islam sehe für Frauen die Rolle als Mutter vor, Abtreibung sei Mord, Gleichstellung widernatürlich und LGBTQ+ eine «perverse Ideologie». Dass er Frauen nun vorzuschreiben versucht, wie sie zu gebären haben, stiess auf heftige Kritik. Studien zeigen, dass Frauen nach einem Kaiserschnitt seltener und später erneut schwanger werden. Die Kaiserschnittrate in der Türkei ist mit 60 Prozent höher als in anderen Ländern.

Einer der Sivasspor-Fussballer, der Albaner Rey Manaj, distanzierte sich nachträglich von dem Banner, das er getragen hatte. Er habe nicht gewusst, was der türkische Schriftzug bedeute, schrieb er auf Instagram. «Ich entschuldige mich bei allen Frauen», so Manaj. «Euer Körper – eure Entscheidung.»

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