Montag, September 30

Hinter Hecken und Baumreihen hat es auf dem Üetliberg erstaunlich viele Häuser. Wie kann das sein?

In den sechziger Jahren tut Heinz Blass etwas, das keiner seiner Freunde und Kollegen verstehen kann: Er verkauft sein Auto und zieht auf einen Berg.

Es ist die Zeit des ungetrübten Wachstumsglaubens. Eigenheim und Autobesitz gelten unangefochten als Statussymbole. Blass ist respektierter Rechtsanwalt in der Stadt Zürich.

Und nun kauft er ein Haus, das niemand haben will. Es liegt direkt auf dem Grat des Üetlibergs. Zwanzig Minuten dauert der Fussmarsch bis zur nächsten Bahnstation. Hier gilt absolutes Fahrverbot.

«Man hat zu ihm gesagt: ‹Du spinnst, da hochzugehen›», erzählt sein Sohn Fortunat Blass heute.

Doch Heinz Blass lässt sich nicht beirren. Er praktiziert fortan zu Hause als Anwalt, über dem Wald und den Häusern der Stadt. Zweimal in der Woche kommt eine Sekretärin von Uitikon her hoch.

Noch heute wohnt Fortunat Blass hier. Den Blick auf Prime Tower und Zürichsee kann er auch aus seiner Sauna mit Holzofen geniessen. Keine zwanzig Meter entfernt verläuft ein viel genutzter Wanderweg. Doch kaum jemand bemerkt das Haus, das hinter einer Wand aus Grün versteckt ist.

Ein gutes Dutzend solcher Häuser gibt es auf dem Üetliberg. Sie stehen mitten im Wald und damit an Orten, an denen das Bauen heute streng verboten ist.

Wie ist das möglich?

Sehnsucht nach dem Berg – und sei es auch ein kleiner

Die Geschichte beginnt mit einer Sehnsucht – der Sehnsucht nach Berg und Natur. Sie kommt im 19. Jahrhundert in ganz Europa auf, als Gegenbewegung zu Industrialisierung und Verstädterung.

Plötzlich ist es chic, sich zur Sommerfrische in die Höhe zu bewegen. Nur: In Zürich sind die Alpen weit weg. Es gibt 1876 noch keine Gotthardbahn, es gibt kaum Bergbahnen.

So wird der Üetliberg, eher Höhenzug als Berg, zum alpinen Ausflugsziel verklärt.

Investoren bauen Hotels. Sie erschliessen den Üetliberg mit einer Bahn. Und mit der Bahn kommen die Häuser. Um Bauzonen oder Waldabstände brauchen sich Bauherren damals nicht zu kümmern.

Der Bahningenieur persönlich baut gleich mehrere «Chalets». Das Krankenheim Neumünster in Zürich, aus dem später das Spital Zollikerberg hervorgehen wird, lässt auf dem Grat Erholungshäuser für die Schwestern bauen. Die Häuser, längst in Privatbesitz, sind heute noch von der Stadt aus gut sichtbar.

Zwar endet der erste Üetliberg-Boom schon nach zwei Jahrzehnten, weil ab den 1890er Jahren anderswo in der Schweiz Bahnen in Betrieb gehen, die auf «richtige» Berge führen, auf den Pilatus oder die Rigi. Bald locken somit weit mondänere Orte als der brave Zürcher Hausberg. Neue «Chalets» auf dem Üetliberg werden keine mehr gebaut. Aber die Häuser bleiben bestehen, als Ferienhäuser von Zürcher Bürgern.

Das Haus, in dem Fortunat Blass heute wohnt, war einst die Sommerresidenz eines Textilmillionärs. Deshalb hat es acht Zimmer. Der Mann brauchte Platz für seine Angestellten.

Eine grosse Wohnhalle zeugt vom einstigen Luxus. Der unverstellte Blick geht auf sanfte Hügel. Auf dieser Seite geht er Richtung Freiamt. In jedem Zimmer hatte es eine Klingel, wie in einem Hotel.

Der Textilmillionär muss das Haus aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. 1964 kauft es das Ehepaar Blass, 1965 kommt Fortunat Blass zur Welt.

Eine Familie, die im Wald wohnt, ist zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich. «Meine Eltern haben jeden meiner Lehrer zum Abendessen bei uns eingeladen», sagt Fortunat Blass. Auch, um ihnen klarzumachen, dass die Kinder vom Üetliberg ab und zu nicht zum Unterricht erscheinen würden. Nämlich dann, wenn der Zug einmal ausfalle.

Was Blass von seiner Kindheit erzählt, klingt sehr dörflich. Die vier Kinder des Kochs im «Uto Kulm» waren seine Spielkameraden. Der Vorstand des Bahnhofs der Üetliberg-Endstation hatte eine Tochter, die er ebenfalls kannte. In einem der ehemaligen Schwesternhäuser wohnten ebenfalls zwei Kinder. Mit dem Sohn einer Bauernfamilie, die in der Nähe wohnte, ist er bis heute befreundet.

Auch seine inzwischen erwachsenen Söhne sind zur Hälfte hier, zur Hälfte unten in der Stadt aufgewachsen, bei Blass’ Ex-Frau. Blass war während seines Agronomiestudiums in die Stadt hinabgezogen und für fünfzehn Jahre geblieben. Dann kehrte er auf den Berg zurück. Und blieb.

Wie bei Schneewittchen

Nicht weit entfernt liegt das Haus von Christian Thomas und seiner Frau Lucretia Lendi. In einem Wanderführer aus dem Jahre 1881 wird es so beschrieben: «Es sieht aus, wie wenn es die Zwerge für Schneewittchen gebaut hätten.»

Auch heute wirkt das Haus putzig: Schrägdach, Balkon und eine Fassade mit Verzierungen, die zeigen, dass es sich um ein Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert handelt. Davor ein halbwilder Blumen- und Gemüsegarten.

Im Wanderführer steht: «Ein kleines Sommerhaus im Berneroberländerstyl, das Chalet Frey, erhebt sich gleichsam auf einer luftigen Bergzinne.» Ein Schwarz-Weiss-Bild von damals zeigt, dass das Haus als repräsentativer Bau an der Waldstrasse stand. Heute wachsen zwischen dem Wanderweg und dem Haus Büsche und Bäume.

Auch dieses Haus bemerkt kaum einer, der hier entlangwandert.

Als Christian Thomas das Haus 1979 zum ersten Mal betritt, gleicht es einer Bruchbude. Es hat einer kranken, pflegebedürftigen Frau gehört. Die Stadt Zürich lässt es öffentlich versteigern, um die Schulden der Frau zu decken. Thomas hat das Glück, den Zuschlag zu erhalten.

Der Zeitpunkt ist im Rückblick gesehen äusserst günstig. Die Ära der Nachkriegszeit, in der kaum jemand auf dem Üetliberg wohnen wollte, geht zu Ende. Handänderungen sind selten geworden. Wer ein Haus hat, behält es, wenn er kann.

Doch zunächst ist der Kauf mit viel Arbeit verbunden. Christian Thomas kramt ein Fotoalbum hervor: Bilder aus den Anfangsjahren. Sie zeigen zugemüllte Zimmer, abbruchreife Balkone. Und einen damals jungen Christian Thomas neben einem Bagger, der die neue Kanalisation gräbt.

Erst vor drei Jahren hat er eine umfassende energetische Sanierung mit Umbau abgeschlossen. Heute ist das einstige Chalet aus dem Jahr 1876 ein Haus mit modernem Komfort. Das Grün der wilden Natur in den Fenstern ist ungewohnt nah. Bei klarem Wetter sind in der Ferne die Alpen zu sehen.

Christian Thomas, von Haus aus Architekt, kennt die Geschichte der verschiedenen Häuser und ihrer Bewohner auf dem Üetliberg. Da gibt es das Landgut mit eigener Seilbahn in Besitz der Hoteliersfamilie Roulet (Baur au Lac). Oder ein Haus mit Pool inmitten des Waldes.

Die heutigen Wohnhäuser sind als Sommerhäuser im 19. Jahrhundert entstanden und können heute ganzjährig bewohnt werden, wenn sie seither saniert oder neu gebaut worden sind. Bereits ab 1900 versuchte der Kanton, das Bauen auf dem Üetliberg einzuschränken. Eine gesetzliche Grundlage hatte er damals nicht. Deshalb kaufte er Bauernhöfe in der Gegend auf. So verhinderte er weitere neue Hausbauten.

Ein Spezialfall sind die über zwanzig Vereinshütten, die während des Ersten Weltkriegs an der steilen Üetlibergflanke entstanden sind. Sie boten den Leuten in düsteren Kriegszeiten Abwechslung. Manche der Hütten haben bis heute überdauert. Mit Wohnhäusern haben sie allerdings wenig gemein. 1922 verbot der Regierungsrat den Bau neuer Hütten.

Ab 1972, mit dem Gewässerschutzgesetz, war das Bauen generell nur noch in Bauzonen möglich. 1982 kamen mit dem kantonalen Planungs- und Baugesetz Vorgaben zum Waldabstand hinzu. Neue Gebäude können jetzt nur noch im öffentlichen Interesse erstellt werden.

Die neuen Vorgaben werden von den alten Häusern auf dem Üetliberg alle nicht eingehalten. Aber es gilt die sogenannte Besitzstandswahrung: Was gebaut ist, wird belassen.

An die Welt «unten» muss man sich jedes Mal gewöhnen

Kompliziert wird es, wenn man etwas ändern will – zumal manche Häuser in einer Freihalte- oder einer Landwirtschaftszone und wieder andere in der Zone für öffentliche Bauten stehen. Die Vorgaben von Bund, Kanton und Gemeinde werden zunehmend strenger.

Christian Thomas ist Vorstandsmitglied des Fussgängervereins Zürich. Da passt es, dass er in einem Haus wohnt, das einen zwanzigminütigen Fussmarsch vom nächsten Bahnhof entfernt liegt. Er sei «eigentlich ein Faultier», seine Wohnlage habe aber das bewusste Zufussgehen für ihn zum Alltagsritual gemacht, sagt er. Wenn der letzte Zug gefahren ist, geht er den steilen Weg vom Albisgütli hinauf. Und geniesst den stillen, dunklen Wald.

Für seine Ehefrau Lucretia Lendi, von Beruf klassische Sängerin und Gesangslehrerin, ist der steile Weg am Tag eine «willkommene Herausforderung», nachts hingegen zieht sie den beleuchteten Weg vom Bahnhof Üetliberg nach Hause vor.

Lendi hatte erst lange gezögert, bis sie 2007 auf den Berg zu ihrem Partner zog. Inzwischen fühlt sie sich auf dem Berg wohl, und es sei für sie oft seltsam, wieder «hinunter» zu gehen, sagt sie. Unten – das ist dort, wo es wärmer ist als auf 800 Meter über Meer. «Und wenn ich in der Halle des Hauptbahnhofs ankomme, muss ich mich jedes Mal erst wieder an die vielen Menschen gewöhnen», sagt sie.

Es gibt Dinge, die die Bewohnerinnen und Bewohner des Üetlibergs stören. Zum Beispiel, dass der Kanton seit über einem Jahr nicht in der Lage ist, den Wanderweg zwischen Kulm und Sattel zu sichern. Dort drohen Felsen abzubrechen. Ein Ärgernis sind Biker, von denen einige wenig Rücksicht auf Mensch und Natur nehmen.

Ab und zu ist es laut im vermeintlich stillen Wald, weil ein Wirt eine Party organisiert oder ein Bergbesucher seine Musikbox laufen lässt. Wobei Fortunat Blass betont, er sehe dies erst als Problem, wenn es sich häufe.

In Kauf nehmen müssen die Bergbewohner den Wind, der auf dem Berg meistens weht. Und jeden Ausflug und jeden Besuch von Gästen gilt es zu organisieren – das ist viel aufwendiger, als wenn man direkt in der Stadt leben würde. Immerhin dürfen Anwohner unterdessen zu ihren Liegenschaften hinfahren. Für alle anderen gilt noch immer Fahrverbot.

Dafür lebt man buchstäblich im Grünen. Man hat den Blick auf die Stadt. Ihre Lichter in der Nacht. Dachs, Fuchs oder Eichhörnchen, die durch den Garten streifen. Im Winter Raureif, der die Bäume weiss verzuckert. Und das Privileg, zugleich in der Natur und in der Stadt zu leben.

Wer einmal oben ist, will nicht mehr so schnell herunter.

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