Montag, Oktober 21

Denis Schmihal bezeichnet die jüngste Verstimmung über einen chinesisch-brasilianischen Friedensplan als «Missverständnis». Er warnt aber gleichzeitig vor russischen Manipulationsversuchen.

Sie wurden am vergangenen Mittwoch vom Bundesrat in Bern erwartet, blieben aber in Kiew. Weshalb?

Weil Präsident Wolodimir Selenski den Siegesplan für die Ukraine und unsere Partner verkündet hat. Wir wollten unsere Geschlossenheit demonstrieren, deshalb sind wir alle gemeinsam aufgetreten: das Parlament, die Regierung, der Präsident und alle anderen Behörden des Staates. Zuvor hatte der Präsident mit mir als Ministerpräsidenten und allen Fraktionspräsidenten über die Details des Plans informiert. Wir einigten uns auf die Unterstützung des Plans. Es war ein historisches Ereignis, das erst einen Tag vorher angekündigt worden war. Ich blieb deshalb am Mittwochnachmittag in Kiew, reiste aber unmittelbar danach ab, um hierher in die Schweiz zu kommen.

Jüngst gab es aber eine diplomatische Irritation: Die Schweiz hat eine chinesisch-brasilianische Friedensinitiative unterstützt, welche die territoriale Integrität nicht als Bedingung nennt. Die Ukraine hat dagegen protestiert.

Zuerst will ich festhalten, dass die Ukraine der Schweiz sehr dankbar ist, dass sie die Bürgenstock-Konferenz organisiert hat und die Friedensformel von Präsident Selenski unterstützt. Darüber habe ich mich am Donnerstag mit der Bundespräsidentin sowie mit Bundesrat Cassis unterhalten. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass die Schweiz den Weg zum Frieden auf der Basis der Uno-Charta und des Völkerrechts unterstützt. Russland versucht aber, gewisse Länder von einer eigenen Formel zu überzeugen, die eine Kapitulation der Ukraine und der demokratischen Welt bedeuten würde. Ohne unsere Friedensformel, die wir als Opfer der Aggression formuliert haben, kann es keinen Frieden geben. Alles andere wäre eine Kapitulation unserer Partner vor der russischen Aggression.

Noch einmal: Die Schweiz unterstützt auch einen alternativen Friedensplan Chinas und Brasiliens. Das wurde zumindest so kommuniziert.

Lassen Sie es mich so formulieren: Die Schweiz versucht die Ukraine auf dem Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden zu unterstützen. Wir alle sind davon überzeugt, dass wir für einen nächsten Friedensgipfel einen Kompromiss mit Brasilien, China und Indien finden müssen. Wir müssen aber sehr genau hinschauen, was diese Länder vorschlagen. Wenn sie die Kapitulationsformel der Russen vorschlagen, dann akzeptieren wir das nicht. Aber wenn es Vorschläge gibt, die mit der Uno-Charta übereinstimmen, dann müssen wir einen solchen Kompromiss diskutieren. Wir wissen, dass ein Schweizer Vertreter am Rande der Uno-Generalversammlung eine Veranstaltung Brasiliens und Chinas zu einem Verhandlungsplan besucht hat, allerdings nur als Beobachter. Wir haben diese Frage geklärt. Es war ein Missverständnis.

Ein Missverständnis? Das klingt sehr diplomatisch . . .

Für uns alle ist das eine wichtige Lektion. Wir müssen uns alle vor russischen Manipulationsversuchen in acht nehmen. Auch wenn die Schweiz nur beobachtet hat, machen die Russen daraus eine Zustimmung – und das ist schlicht nicht wahr. Es war ein Vertreter der Schweiz dabei, er hat beobachtet, aber nicht zugestimmt. Was wir daraus lernen: Wir müssen einig sein, uns eng abstimmen und auf diese Weise solche Missverständnisse vermeiden.

Wie geht es eigentlich mit dem Prozess weiter, der auf dem Bürgenstock angestossen wurde? Seit Juni hat man nichts mehr davon gehört.

Die Basis sind die zehn Punkte von Präsident Selenskis Friedensformel, die alle auf der Uno-Charta abgestützt sind. Jeder Punkt ist absolut klar. Wir arbeiten nun daran, neun weitere Konferenzen abzuhalten, um jeden einzelnen Punkt der Friedensformel zu bestätigen, weil wir auf dem Bürgenstock nur die ersten drei Punkte der Friedensformel behandelt haben. Jetzt soll es alle drei bis vier Tage eine Konferenz geben. Wir hoffen, dass alle Länder, die das Schlussdokument der Bürgenstock-Konferenz unterzeichnet haben, ein gemeinsames Dokument verabschieden werden, das einen weiteren Friedensgipfel einleiten wird. Wir hoffen ausserdem, dass eine zweite Konferenz in einem breiteren diplomatischen Format stattfinden wird – unter Beteiligung von China, Indien und Brasilien. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass auch Vertreter Russlands teilnehmen; auf welcher Stufe, ist noch unklar. Aber wir brauchen den Aggressor Russland am Verhandlungstisch, um die Sache zu Ende zu bringen.

Was wäre denn das Ziel eines zweiten solchen Gipfels?

Russland soll dazu gebracht werden, darüber zu diskutieren, wie dieser Krieg beendet werden kann – und dieser Unterschied ist wichtig: Russland ist der Aggressor und kann den Krieg jeden Moment stoppen, aber es geht darum, den Krieg auch tatsächlich zu beenden. Wir, die Opfer der Aggression, legen den Partnern unsere Friedensformel vor, um auf Russland besonderen Druck auszuüben – und zwar auf allen Ebenen: militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch. Denn Russland hat gegenwärtig kein Interesse, zu verhandeln und den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden. Wir müssen also alles dafür tun, Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen. Deshalb braucht es dieses Ökosystem von Staaten, die hinter der Friedensformel stehen.

Doch im Vordergrund steht der Siegesplan. Wie passt dieser eher militärische Plan zur Friedensformel?

Dieser Siegesplan besteht aus fünf Punkten. Es geht neben den militärischen Bedingungen für den Sieg auch um ökonomische und politische Fragen. Bereits der erste Punkt ist ein politischer Punkt. Es geht um die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Die Nato-Verbündeten, die USA und die G-7-Staaten sollen uns einladen, Mitglied zu werden. Es geht nicht um die direkte Mitgliedschaft, sondern erst um die Einladung. Das wäre ein starkes Zeichen an den Aggressor, dass unser Weg in die Nato unumkehrbar ist. Es wäre auch ein Zeichen, Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Der vierte Punkt betrifft das strategisch-ökonomische Potenzial der Ukraine – unter anderem die Landwirtschaft oder die kritischen Metalle wie Uran, Titan, Lithium oder Grafit. Unsere strategischen Partner sollen uns helfen, diese Ressourcen zu schützen, sollen diese aber auch exklusiv nutzen können.

Die russische Seite behauptet, der Westen unterstütze die Ukraine vor allem deshalb, um an diese Rohstoffe zu gelangen. Damit bestätigt die Ukraine ein Stück weit die russische Propaganda.

Die Propaganda ist Teil der hybriden Methoden, die Russland in Europa und auf der ganzen Welt anwendet. Die Ukraine erlebt einen militärischen Angriff Russlands, die anderen demokratischen Länder sind einem hybriden Angriff Russlands ausgesetzt: auch mit Cyberattacken, künstlichen Migrationskrisen, aber eben auch mit Desinformation. Wir erlebten das seit 2014. Die letzte Stufe war militärisch, der russische Einmarsch 2022. Jetzt versucht Russland, die Verteidigung der EU aufzuweichen. Die Propaganda ist Teil der hybriden Beeinflussung, um die Haltung der europäischen Gesellschaften zu verändern. Um es klar zu sagen: Wir kämpfen für unsere Freiheit, für unsere Demokratie, für die territoriale Integrität unseres Landes und für unsere Souveränität. Wir kämpfen um unser Leben, das Zuhause unserer Familien, nicht für kritische Rohstoffe. Was die russische Propaganda sagt, ist falsch.

Aber sie ist erfolgreich. Insbesondere im deutschsprachigen Raum.

Was soll ich sagen? Wie man russische Propaganda abwehrt? Man braucht die Fähigkeit, kritisch zu denken. Das ist der einzige Weg, um russische Desinformation abzuwehren.

Der ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression ist existenziell vom Westen abhängig. Schon der Nato-Gipfel von Vilnius 2023 brachte keine formelle Einladung in die Nato. Ist der Siegesplan realistisch?

Moment: Ich würde nicht sagen, dass Vilnius kein Erfolg war. Jeder Gipfel war bisher ein Erfolg für die Ukraine. Das ist meine offizielle Position, aber auch die des Präsidenten und unserer Gesellschaft. Wir sind auf dem Weg zur Integration in die Nato – aber auch in die EU. Wir setzen die nötigen Reformen in raschem Tempo um, wir implementieren die Nato-Standards und die EU-Richtlinien, wir implementieren aber auch die Reformschritte der Weltbank. Aber noch viel wichtiger als das: Die ukrainische Armee ist heute eine Nato-Armee. Wir kämpfen gemäss Nato-Standards, verfügen über Nato-Waffen und Nato-Munition, Nato-Ausrüstung und Nato-Technologie. Weshalb ist das wichtig: Ich habe zu Beginn des Krieges gesagt, dass eine kleine Sowjetarmee nicht gegen die grosse Sowjetarmee gewinnen kann. Seit wir nach Nato-Standards kämpfen, demonstrieren wir auf dem Gefechtsfeld, dass wir gegen die grosse Sowjetarmee gewinnen können.

Sie bezeichnen die russische Armee trotz allen Reformen noch immer als eine Sowjetarmee?

Russland ist kein angenehmer Gegner, Russland hat die stärkere Armee. Aber die ukrainischen Soldaten und Offiziere kämpfen jetzt auf höchstem professionellem Niveau. Wir trainieren auf Nato-Waffenplätzen. Wir benutzten modernste Technologie bei den Drohnen, im Nachrichtendienst und auch künstliche Intelligenz. Das funktioniert. Wir konnten die Russen so aus dem Schwarzen Meer vertreiben, 50 Prozent der ursprünglich besetzten Gebiete befreien und die Nachschublinien der Russen angreifen. Das hat die russische Kampfkraft insgesamt geschwächt. Wir sind bereits jetzt eine Nato-Armee und werden in Zukunft die USA in Europa militärisch entlasten. Das ist im Interesse der amerikanischen Steuerzahler. Nach unserem Sieg werden wir die EU vor einer weiteren russischen Aggression schützen. Was wir brauchen, ist eine formelle Einladung in die Nato.

Die Ukraine ist erfolgreich im Schwarzen Meer, aber am Boden sieht die Lage nicht gut aus. Im Donbass sind die Russen auf dem Vormarsch.

Die Russen haben dort Hunderttausende von Soldaten zusammengezogen – und verlieren pro Tag tausend Mann. Das sind unglaubliche Verluste. Aber leider zählt für den russischen Diktator das einzelne Menschenleben nichts. Bei uns ist das Gegenteil der Fall: Wir kämpfen um jedes einzelne Menschenleben, weil wir unsere besten Leute an die Front schicken. Deshalb entscheiden sich unsere Generäle zuweilen, sich ein, zwei Kilometer zurückzuziehen: einfach, um Menschenleben zu retten. Unser Kapital sind die Menschen. Jeder Soldat ist eine Persönlichkeit.

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