Montag, Januar 20

Benjamin Netanyahu hatte seine Rolle als Beschützer Israels gefunden. Der Nimbus wurde am 7. Oktober zerstört. Seither verfolgt Netanyahu eine Mission in eigener Sache, schreibt der israelische Schriftsteller Ron Segal.

Wenn Politik eine Bühne ist, dann tritt Benjamin Netanyahu immer als Tragöde auf. Er ist sowohl Politiker als auch Erzähler von Überlebensgeschichten und Schicksalen, die sich tief in das kollektive Bewusstsein seiner israelischen Zuhörer eingraben. Es ist ein Publikum, das gefangen ist und den persönlichen und historischen Traumata nicht entkommen kann.

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Auch auf der internationalen Bühne sind seine Erzählungen mit dem Gewicht der Geschichte belastet, und jeder Faden der aktuellen Ereignisse ist an die Schnur der Erinnerung geknüpft. Wer kann Netanyahus Rede vor den Vertretern der Welt in der Uno-Vollversammlung 2009 vergessen, in der er die Holocaust-Leugnung des iranischen Präsidenten angriff, die Auschwitz-Pläne präsentierte und fragte: «Ist das eine Lüge?» Oder seinen dramatischen Einsatz von Requisiten im Jahr 2012, als er vor der Uno die rote Linie gegen eine iranische Atombombe vorstellte und dabei die Abbildung einer Bombe mit Zünder in der Hand hielt?

Dennoch haben seine Erzählungen etwas sehr Persönliches an sich. Er erzählt nicht nur die Geschichte einer Nation, sondern seine eigene, indem er die Geschichte seiner Familie mit jener des Zionismus verbindet. Das wissenschaftliche Streben seines Vaters, das Opfer seines Bruders auf dem Boden von Entebbe, seine eigenen Jahre in Uniform und in den Korridoren der Macht – alles wird zu einem Gleichnis, zu einer Erinnerung daran, dass die Geschichte, die er erzählt, nicht abstrakt ist. Sie ist gelebt. Eine Erzählung, die ebenso viel über Benjamin Netanyahu wie über Israel aussagt.

Chor der Schweigenden

Seitdem er als erster Ministerpräsident in der Geschichte Israels, gegen den drei Anklagen erhoben wurden, im Gerichtssaal aufgetreten ist, hat seine Erzählung einen Schritt nach vorne gemacht: Er hat sich selbst in den Mittelpunkt der Tragödie gestellt – als ihr Opfer.

Am ersten Tag seines Prozesses im Jahr 2020 hielt Benjamin Netanyahu, der der Bestechung, des Betrugs und der Untreue angeklagt ist, ausserhalb des Gerichtssaals eine 15-minütige vorbereitete Rede, in der er gegen alle Rechts- und Ordnungssysteme des Landes, dem er vorsteht, hetzte – von der Staatsanwältin in seinem Fall über den Generalstaatsanwalt Israels bis hin zum Generalinspektor der israelischen Polizei. Die meisten von ihnen wurden mit ihrem vollen Namen genannt. Nicht als einen symbolischen Feind, sondern als konkrete Personen.

Wie in einer gut erzählten Geschichte des Verrats zeigt Netanyahu auf die Leute, die sich gegen ihn erhoben haben, um ihn zu stürzen, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie zu bekämpfen. Hinter ihm stehen seine Minister, der Chor, der Corona-Masken trägt. Es war sofort klar, dass nur Netanyahu, der Protagonist dieses Dramas, ohne Maske auftreten und sprechen durfte, der Chor hinter ihm war mitschuldig am eigenen Schweigen.

Im Nahen Osten ist die Realität jedoch die mächtigste Geschichtenerzählerin, vor allem, wenn sie eine Rede hält, die derjenigen widerspricht, die wir zu hören gewohnt sind. Der 7. Oktober war eine solche «Rede»; eine gewaltsame Auflösung des Mythos der Unbesiegbarkeit, den Netanyahu unermüdlich kultiviert hatte.

Jahrelang hat er sich als die eiserne Faust der israelischen Sicherheit dargestellt, als den Mann, der das Land vor seinen Feinden schützen und dafür sorgen würde, dass Israel nie wieder unvorbereitet getroffen würde. «Ich möchte, dass man sich an mich als Beschützer Israels erinnert. Das ist genug für mich», gestand Netanyahu einst dem Journalisten Farid Zakaria auf dem Weltwirtschaftsforum 2015.

Doch an jenem schicksalhaften Tag im Oktober 2023 verstummte der Chor, Netanyahus Allmachtsversprechen zerschlug sich, sobald die Uhr 6 Uhr 29 anzeigte. Das Massaker war nicht einfach nur eine Verletzung der Grenzen – es war der Zusammenbruch von Netanyahus Fiktion. In den darauffolgenden Tagen wirkte Netanyahus Stimme, die einst souverän und entschlossen gewesen war, hohl, als sei er nicht in der Lage, die sich anbahnende Geschichte einzuholen.

Kein noch so grosses politisches Manöver konnte dieses Scheitern überdecken; kein Bild, das vor der Uno-Vollversammlung gezeigt wurde, konnte lauter schreien als die Bilder der verbrannten Kibbuzim im Süden, der geräumten Häuser im Norden und vor allem: der Gesichter der Geiseln, die sich nach über einem Jahr Krieg in Gaza immer noch in der Gewalt der Hamas befinden; einem Krieg, dessen erklärte Ziele die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln sind.

Das Massaker offenbarte die Schwäche des politischen Systems, das Netanyahu geformt hatte – ein System, das auf Allianzen mit extremistischen Gruppierungen aufgebaut war, ein System, das die wachsenden Spannungen in den palästinensischen Gebieten vernachlässigt und die Hamas gegenüber der PLO bevorzugt hatte, ein System, das die Sicherheit aus politischer Opportunität gefährdet hatte.

Trotz Operation in der Knesset

In der Folgezeit haben Netanyahus Rivalen, die seine rechten Bündnisse und seine autoritären Neigungen seit langem kritisieren, Löcher in sein Narrativ gerissen. Sie weisen auf die Brüchigkeit der von ihm gebildeten Koalition und die moralische Verkommenheit hin, die sich in seiner Politik manifestiert. Netanyahus Koalition stand nun als Zeugnis für die politische Hybris – das pulsierende Herz jeder Tragödie –, die die israelische Gesellschaft nicht nur zerrissen, sondern letztlich auch verwundbar gemacht hat.

Und doch bleibt Netanyahu trotz den Rissen in seiner Führungsrolle. Wenn er vor seine Staatsanwälte tritt oder sich zu der mangelnden Voraussicht äussern muss, die zu dem Massaker vom 7. Oktober führte, trocknet seine Geschichte aus. Netanyahu behauptet, er sei nicht informiert gewesen, habe nichts gewusst oder könne sich nicht erinnern.

Kürzlich haben seine Anwälte unter Berufung auf seine jüngste Prostata-Operation beantragt, die Anhörungen wegen des Gesundheitszustands ihres Mandanten zu verschieben – was ihn nicht daran hindert, einen Tag nach seiner Operation gegen ärztlichen Rat und in Begleitung seines Leibarztes in der Knesset zu erscheinen, um über ein umstrittenes Gesetz abzustimmen, das in der Knesset für Aufsehen gesorgt hat.

Damit begibt er sich in unvermeidliche Paradoxien: Ein Anführer, der «nichts wusste», kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden, was ihn von der Verantwortung für das Geschehene entbindet. Doch mit diesem Eingeständnis entlarvt er sich selbst als Ministerpräsident, dem es an der wichtigsten Eigenschaft einer Führungspersönlichkeit mangelt: der Rechenschaftspflicht.

Tote Geiseln

Gleichzeitig wird auf dem «Geiselplatz» – einem Versammlungsort für die Familien der Geiseln vor dem Kunstmuseum von Tel Aviv, der wegen seiner Nähe zum Hauptquartier der israelischen Verteidigungskräfte ausgewählt wurde – die wahre Geschichte erzählt; eine Geschichte des Grauens, der Verlassenheit und der Trauer. Auf dem Platz protestieren viele Menschen für die Freilassung ihrer Angehörigen. Sie halten Schilder – «Deal Now», «Bring Them Home Now» – und Bilder der Geiseln in die Höhe.

Ein Mann betritt die Bühne und stellt sich vor; er ist der Vater eines der Entführten. «Ich sehe das Bild meines Sohnes hier in der Menge nicht mehr, und Sie wissen, warum das so ist», sagt er. «Er wurde vor ein paar Tagen für tot erklärt.» Ein Schaudern geht durch das Publikum. Hunderte von Menschen senken gleichzeitig den Kopf. «Mein Sohn», sagt er mit brüchiger Stimme, «der 442 Tage lang gewartet hat – so weit wie eine Entscheidung von hier.» Will heissen: so nah und so fern wie eine Entscheidung von Benjamin Netanyahu.

Benjamin Netanyahu, der Geschichtenerzähler in der Welt der israelischen Politik, hat die Macht über diese Entscheidung. Angesichts des Waffenstillstands, der nun ausgehandelt worden ist und der auch die Freilassung von Geiseln vorsieht, müsste Netanyahu seine bisher ausgefeilteste Geschichte erzählen. Es ist eine dreiteilige Erzählung, die darauf abzielt, erstens seine rechtsextremen Koalitionspartner zu beschwichtigen, die offen ihre Absicht geäussert haben, den Gazastreifen wieder zu besetzen und dort jüdische Siedlungen zu errichten, während er zweitens gleichzeitig seinem unberechenbaren «Freund» im Weissen Haus versichert, dass er, Netanyahu, immer noch an seiner Herrschaft festhalte. Und drittens – nicht zuletzt – figuriert darin die Phantasie vom «absoluten Sieg», den er seinem Volk seit Beginn des Krieges verspricht. Wenn es ihm gelingt, diese drei Erzählungen zu einem Ganzen zu verweben, würde er tatsächlich den «absoluten Sieg» erringen – seinen eigenen.

Krieg ist nicht die Lösung

Unter den Israeli ist ein wachsendes Gefühl der Desillusionierung spürbar. Der Trend zur Beantragung ausländischer Pässe, häufig deutscher – eine bittere Ironie der Geschichte –, hat stark zugenommen. Für viele ist dies ein Plan B, ein Notfallplan für den Fall, dass die Zukunft der Nation unhaltbar wird. Diese Pässe, die sie von ihren Grosseltern geerbt haben, die aus Nazi-Deutschland geflohen sind, um den zionistischen Traum zu verwirklichen, stellen nun eine Flucht aus einem Land dar, von dem sie befürchten, dass es seinen Weg aus dem Blick verliert.

Doch ganz gleich, welchen Pass man als Israeli besitzt, wenn man ihn am Ben-Gurion-Flughafen zum Scannen vorlegt, erscheint das Gesicht einer Geisel. Die Maschine ist so programmiert, dass sie uns an sie erinnert, damit wir nicht vergessen, wer wir sind und was mit uns geschehen kann, wenn wir falschen Propheten folgen, die sich auf ihre persönliche Tragödie konzentrieren, während sie die sehr reale Tragödie ignorieren, die im Schatten lauert.

Am Ende ist es unseren Feinden egal, wen wir wählen. Sie schöpfen ihre Kraft aus unseren inneren Konflikten, die von Politikern um ihres politischen Überlebens willen geschürt werden. Unser Sieg wird nicht im Krieg errungen werden, selbst wenn wir die Hamas zerstören und die verbleibenden Geiseln freigelassen werden, sondern an dem Tag, an dem die Israeli ihr Narrativ aus den Händen der verräterischen Politiker zurückerobern.

Der israelische Schriftsteller und Filmemacher Ron Segal, geboren 1980, lebt seit 2009 in Berlin.

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