Mittwoch, Oktober 9

Der Wahlspanier Griezmann war anders – und gerade deshalb so wertvoll für die Equipe tricolore. Hinter dem überraschenden Rücktritt steht ein Zerwürfnis mit dem Nationaltrainer Didier Deschamps.

Ganz wird Antoine Griezmann nicht von der Bildfläche verschwinden, zum Glück. Wie viel fussballerische Klasse der Angreifer von Atlético Madrid noch in sich hat, zeigte er am Sonntag mit einem phantastischen Assist mit der Hacke beim 1:1 seines Klubs in San Sebastián. Das Kabinettstück gelang ihm nach einem aufsehenerregenden Schuhwechsel: Griezmann bezieht seine Arbeitsutensilien nun von Decathlon, er avanciert damit zur Galionsfigur der Niedrigpreismarke bei ihrem Angriff auf den Sportmarkt. Der 33-Jährige hat also noch einiges vor – nur nicht mehr mit seinem Nationalteam. Denn wie er in der vergangenen Woche völlig überraschend verkündete, wird er nie wieder für Frankreich spielen. Wenn die Equipe tricolore am Donnerstagabend in Budapest zu ihrem Nations-League-Spiel gegen Israel antritt, wird Griezmann also fehlen.

In zahlreichen Grussbotschaften verabschiedeten Sportler und Politiker einen der besten Spieler der Landesgeschichte. Als «Monument des französischen Fussballs» bezeichnete ihn der Nationaltrainer Didier Deschamps in einem geradezu poetischen Abschieds-Communiqué. «Du hast die Mannschaft über Jahre getragen», assistierte der Superstar Kylian Mbappé.

Erst in letzter Zeit liessen die Leistungen nach

Mit dem Schlüsselspieler Griezmann gewann Frankreich 2018 die Weltmeisterschaft, wobei der Angreifer zum wertvollsten Spieler des Finals ernannt wurde. Hinzu kamen ein weiterer WM-Final (2022) und ein Viertelfinal (2014) sowie an Europameisterschaften ein Final (2016), ein Halbfinal (2024) und ein Achtelfinal (2021, Aus gegen die Schweiz).

Zwischendurch reihte Griezmann einmal 84 Länderspiele aneinander, das ist Weltrekord. Insgesamt absolvierte er 137 Partien für die «Bleus» – nur Lilian Thuram und Hugo Lloris haben öfter für Frankreich gespielt. Dabei schoss Griezmann 44 Tore – nur Olivier Giroud, Thierry Henry, Mbappé trafen öfter. Und er leistete am meisten Torvorlagen (38) – vor so illustren Spielmachern wie Michel Platini und Zinedine Zidane. Erst in letzter Zeit liessen seine Leistungen nach: Seit 2022 erzielte er nur noch zwei Länderspieltore; 2024 kein einziges mehr. An der Euro im Sommer war er im Halbfinal gegen Spanien bloss noch Ersatz, was einst undenkbar gewesen wäre.

Griezmanns Abgang verstärkt den Eindruck einer Epochendämmerung unter dem langjährigen Sélectionneur Deschamps: Die meisten Spieler, die 2018 Weltmeister wurden, haben ihre Karriere beendet wie kürzlich der Abwehrchef Raphaël Varane. Sie weggeworfen wie der wegen Dopings gesperrte Paul Pogba. Oder sie lassen sie in der Ferne ausklingen wie der Torhüter Lloris und der Mittelstürmer Giroud (in den USA) sowie der Dauerläufer N’Golo Kanté (in Saudiarabien). Einzig Kanté spielt nach wie vor im Nationalteam. Dort trifft er auf Mbappé, der vom Küken 2018 zum Captain aufstieg, die neue Generation um Jules Koundé, Aurélien Tchouaméni oder Eduardo Camavinga aber bisher nicht illuminieren konnte.

Fussballerisch ist «Grizou» eher Spanier als Franzose

Ohne Griezmann wird die Prognose für die «Bleus» nicht besser, denn der Burgunder aus Mâcon machte im oft etwas steifen Deschamps-Fussball jene Sachen, die andere nicht konnten. Ursprünglich wurde er als Flügelstürmer und bei der Heim-EM 2016, an der er Torschützenkönig wurde, bisweilen auch im Sturmzentrum aufgeboten. An den erfolgreichen Weltmeisterschaften avancierte er dann zu einem verkappten Spielmacher: Griezmann liess sich tief fallen, um dem Mittelfeld zu assistieren, dessen Stärken unter Deschamps eher in der Athletik als im Passspiel liegen. Er behob damit nicht nur strukturelle Schwächen im Spielaufbau, sondern setzte gleichsam auch der eigenen Biografie ein Denkmal.

Fussballerisch nämlich ist «Grizou» eher Spanier als Franzose. Bereits mit 13 Jahren trat er in die Jugendabteilung von Real Sociedad in San Sebastián ein, nachdem er in seiner Heimat von mehreren Spitzenklubs als zu schmächtig abgelehnt worden war. Die Adoleszenz als Auswanderer formte auch seine Persönlichkeit, er freundete sich besonders mit uruguayischen Mitspielern an und ist seither kaum mehr von einem Becher mit Matetee zu trennen. Der Respekt vor seinem Sehnsuchtsland ist derart gross, dass Griezmann nach einem Tor im WM-Viertelfinal 2018 das Jubeln unterliess.

Der Familienvater – seine drei Kinder sind allesamt am gleichen Jahrestag geboren, einem 8. April – geht seinen eigenen Weg und zeigt dabei auch Haltung in gesellschaftlichen Fragen. Einen Sponsorenvertrag mit Huawei kündigte er, als er von der möglichen Verwicklung des chinesischen Kommunikationsunternehmens in die Unterdrückung der uigurischen Minderheit erfuhr. Und vor wenigen Wochen erhielt er viel Beifall, als er zum Schulstart einen flammenden Appell gegen Mobbing lancierte: «Wenn ihr seht, dass jemand . . . geärgert wird, weil er keine Freunde hat oder schüchtern ist oder nicht so hübsch oder nicht die neueste Mode trägt: Bitte handelt!», schrieb er seinen jungen Fans.

Im Nationalteam wirkte der generöse Teamplayer nicht nur integrativ für den Spielfluss, sondern auch für das Binnenklima und das Image der «Bleus». Trotz seinen durchwachsenen Leistungen an der EM im Sommer feierten ihn die französischen Fans während des Turniers.

Es wäre nur logisch gewesen, dass Griezmann nach dem Abgang von Lloris 2022 die Captain-Binde übernommen hätte. Doch damals erlag Deschamps dem Kult um Ruhm, Prominenz und Systemrelevanz des acht Jahre jüngeren Mbappé. Griezmann, «der wichtigste Spieler der Ära Deschamps», wie es Mbappé selbst ausdrückte, gab später zu, dass er diesen Affront schwer verwinden konnte.

Das unwürdige Ende

Die abrupte Art des Rücktritts lässt nun vermuten, dass Griezmann ihn bis zuletzt nicht verdaut hat. Zwar dankte er Deschamps, der ihn 2014 vom – jedenfalls in Frankreich – eher unbekannten Real-Sociedad-Profi zum Nationalspieler beförderte, in seinem Abschiedsvideo ausführlich. Und der Coach betonte in seiner Hommage noch einmal die «sehr enge, weiterhin intakte Beziehung» der beiden, die dazu geführt habe, dass «Antoine oft als mein ‹Chouchou› bezeichnet wurde» – als sein Liebling.

MERCI ANTOINE

Doch schon während des letzten Zusammenzugs im September erklärte Griezmann, seine gelegentliche Rolle als Reservist sowie häufige Positionswechsel an der Euro hätten ihn mental belastet: «Mein Spiel hängt stark von meinem Kopf ab. Bin ich glücklich, läuft alles gut. Habe ich Zweifel oder Fragen, merkt man mir das sofort an.»

Während seiner Klubkarriere mochten seine Sensibilität und seine Selbstreflexion dazu führen, dass er sich an der grössten Station im FC Barcelona nicht neben Lionel Messi behaupten konnte. Seit 2021 ist er zurück in seinem Hafen Atlético, in dem er schon zwischen 2014 und 2019 spielte. Als eingestandenes Trauma seiner Laufbahn bleibt damit der an die Latte gesetzte Penalty im Champions-League-Final 2016, den Atlético letztlich im Elfmeterschiessen gegen den Stadtrivalen Real verlor. Bis 2026 kann er sich nun voll auf seinen Wohlfühlklub konzentrieren – so lange läuft sein Vertrag. Und so lange können selbst gegnerische Trainer wie Leipzigs Marco Rose nach dem ersten Champions-League-Spieltag von der «Augenweide» schwärmen, ihn spielen zu sehen.

In Frankreich aber hinterlässt sein Abgang ein Vakuum. Dabei hätten ihn die Fans gemäss Umfragen lieber als Captain gesehen als den während seiner Wechsel-Arie zu Real in Ungnade gefallenen Mbappé. Da der neue Zyklus bereits begonnen hatte, rechnete gegenwärtig niemand mit einem Rücktritt Griezmanns aus dem Nationalteam.

Doch so bleiben als letzter Auftritt schnöde elf Minuten vom September in Erinnerung, als Griezmann in der Nations League beim 2:0 gegen Belgien eingewechselt wurde. Was für ein unwürdiges Ende für dieses Monument des französischen Fussballs.

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