Samstag, November 2

In Bulgarien finden alle paar Monate Neuwahlen statt, weil es keine klaren Mehrheitsverhältnisse gibt. Der Politologe Boris Popiwanow erklärt, was das für die politische Kultur und die aussenpolitische Ausrichtung des südosteuropäischen Nato- und EU-Staats bedeutet.

Bulgarien ist in einer Endlosschlaufe aus Regierungskrisen und Neuwahlen gefangen. Am Sonntag haben die Bewohner des ärmsten EU-Mitglieds zum siebten Mal in drei Jahren ein neues Parlament gewählt. Wie beim letzten Urnengang im Juni hat die konservative Partei Gerb des langjährigen Regierungschefs Bojko Borisow die meisten Stimmen erhalten. Dahinter folgen dicht aufeinander die prowestliche Reformbewegung «Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien» (PP-DB), die ultranationalistische prorussische Kraft Wiedergeburt und die neue Formation des dubiosen Geschäftsmannes Deljan Pejewski.

Herr Popiwanow, wie sind die Aussichten nach der jüngsten Wahl auf stabile Mehrheitsverhältnisse in Bulgarien?

Die Ausgangslage ist wie gehabt. Die Parteienlandschaft hat sich zwar ein bisschen verändert. Die grundsätzlichen Kräfteverhältnisse sind aber dieselben. Wenn Sie das Datum anpassen, können Sie Ihren Bericht über die letzte Wahl nochmals abdrucken. (Lacht.)

Also eher keine stabile Regierung?

Rechnerisch gäbe es schon Möglichkeiten. Borisow könnte mit populistischen und nationalistischen Parteien eine Koalition eingehen. Das würde ihn aber völlig diskreditieren, auch vor den europäischen Partnern. Borisow präsentiert sich und seine Partei schliesslich als verlässliche prowestliche Kraft. Doch sein Leistungsausweis ist bestenfalls durchmischt.

Inwiefern?

Bulgarien hat sich unter Borisows Führung an der Gasleitung Turkstream beteiligt und so die Abhängigkeit von Russland noch erhöht. Gegen einen seiner engsten Mitarbeiter haben die USA unter dem Magnitsky-Gesetz Sanktionen erlassen. Borisow braucht eine Koalition mit den Reformern von PP-DB für die eigene Glaubwürdigkeit. Für sie aber ist er wegen der weitverbreiteten Korruption und anderer rechtsstaatlicher Mängel in seiner Regierungszeit ein rotes Tuch.

Für eine solide prowestliche Regierung müsste man also Abstriche bei der Korruptionsbekämpfung machen?

Überspitzt könnte man das so sagen. Doch selbst wenn sich Borisow und die Reformer zusammenraufen, dürfte eine solche Regierung nicht lange bestehen bleiben. Dafür ist das gegenseitige Misstrauen zu gross.

Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine hat sich die öffentliche Meinung in Bulgarien verändert. Das Land galt lange als besonders russlandfreundlich. Doch Moskau und Putin haben an Popularität eingebüsst. Die Westbindung wird von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Warum schlägt sich das nicht in den Wahlresultaten nieder? Die proeuropäische Reformpartei PP-DB hat nur 14 Prozent der Stimmen erhalten.

Diese Darstellung ist verkürzt. Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament unterstützt eine prowestliche Aussenpolitik. Wofür es aber keine Mehrheiten gibt, sind die tiefgreifenden Reformen, um unser Land vom Übel der Korruption zu befreien und die Grundlage für eine Entwicklung nach westlichem Vorbild zu schaffen. Aber daran tragen die Reformkräfte auch selber Schuld.

Das müssen Sie erklären.

Sie gebärden sich elitistisch und leisten zu wenig Überzeugungsarbeit. Vorgaben aus Brüssel werden per se als notwendig und richtig dargestellt. Vielen Menschen reicht das aber nicht. Im Wahlkampf spielte das Kohlekraftwerk Maritsa eine prominente Rolle. Bulgarien kann beträchtliche Mittel aus dem Wiederaufbaufonds abgreifen, um das Kraftwerk durch sauberere Technologien zu ersetzen und so die Klimaziele zu erreichen. Dass dies dem Land langfristig nützt, mag der städtischen Mittelschicht auch so klar sein. Doch in den betroffenen Regionen muss man das besser erklären. Nationalistische Parteien stellten die Pläne für das Kraftwerk als europäischen Angriff auf die bulgarische Industrie dar und haben dafür viel Beifall erhalten. Ausserdem haben die Reformkräfte das Migrationsthema vernachlässigt.

Gab es bei den Wahlen russische Beeinflussungsversuche?

Der russische Einfluss ist traditionell gross in Bulgarien. Politische Parteien spielen für Moskau dabei aber keine zentrale Rolle, obwohl die offen prorussische Wiedergeburt mittlerweile die drittstärkste Kraft im Parlament ist. Russland versucht vor allem über die kulturelle Nähe, Stichwort Orthodoxie, und über wirtschaftliche Abhängigkeiten Druck auszuüben. Die Gefahr kommt aber nicht nur aus Russland. Der Oligarch Deljan Pejewski, der ebenfalls auf der amerikanischen Magnitsky-Liste steht, ist sehr mächtig. Er hat Einflussmöglichkeiten gegenüber den Massenmedien, der Justiz und der Steuerbehörde und verfügt so über Druckmittel gegen zahlreiche Politiker, unter ihnen vermutlich auch Borisow. Nun hat er auch eine ganz auf seine Person zugeschnittene Partei. Für mich stellt er die grösste Gefahr für die bulgarische Demokratie dar.

Was bedeutet es für EU und Nato, dass ein Mitgliedsstaat seit drei Jahren keine stabile Regierung hat? Bulgarien befindet sich mit der Schwarzmeerküste und der Nähe zur Ukraine ja an exponierter Lage.

Da sehe ich keinen Grund zur Besorgnis. Wie gesagt gibt es nach jeder Wahl eine solide prowestliche Mehrheit im Parlament. Das sieht man etwa bei den Abstimmungen zur militärischen Unterstützung der Ukraine. Bis zur Verfassungsänderung vor einem Jahr kam dem Staatsoberhaupt eine zentrale Rolle zu, wenn eine Regierung auseinanderbrach. Das warf Fragen auf, weil Präsident Rumen Radew die Militärhilfe an die Ukraine ablehnt. Die Reform hat seinen Spielraum bei der Ernennung einer Übergangsregierung jedoch stark eingeschränkt. Auch bleibt das Parlament neu bis zum Wahltag beschlussfähig.

Und was bedeutet die Situation für das Land selber?

Der Alltag funktioniert so gut oder schlecht, wie er es immer tut. Uns fehlt aber eine langfristige Planung, etwa um die angestrebte Einführung des Euro aufzugleisen. Auch für die Geschäftswelt ist die konstante Ungewissheit ein Problem. Und natürlich leidet die demokratische Kultur. Der Verlust des Vertrauens in die Politik ist riesig. Die tiefe Wahlbeteiligung spricht eine deutliche Sprache.

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