Mittwoch, Oktober 9

Kein Land ist wichtiger für Israel als die USA. Trotzdem bleibt der amerikanische Einfluss im Gaza-Krieg gering. Dieses Paradox frustriert die Regierung Biden, Netanyahu hingegen weiss es zu nutzen.

Joe Biden ist nicht der erste amerikanische Präsident, der vom israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu hingehalten, ja gedemütigt wird. «Wer zum Teufel glaubt er eigentlich, dass er ist?», schimpfte Bill Clinton 1996 nach seinem ersten Treffen mit dem damals frisch an die Macht gekommenen Netanyahu. «Wer ist hier die verdammte Supermacht?», soll der Amerikaner ausgerufen haben, weil sein vor Selbstbewusstsein strotzender Gast ihn laufend geschulmeistert hatte. Biden ergeht es nicht besser. Seit der Hamas-Terrorattacke vom 7. Oktober versucht er krampfhaft, die Entwicklungen im Nahen Osten zu steuern, aber er scheitert stets an Netanyahus Eigenwilligkeit.

Ein Beispiel dafür sind die amerikanischen Bemühungen um einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. Teil einer solchen Vereinbarung müssten die Freilassung israelischer Geiseln aus den Hamas-Kerkern sein sowie verstärkte humanitäre Hilfe an die Bevölkerung des Gazastreifens. Aber trotz monatelangem Ringen unter amerikanischer, ägyptischer und katarischer Vermittlung lässt ein Durchbruch auf sich warten. Amerikanische und israelische Beobachter haben den Eindruck, dass dies nicht nur an der Radikalität der Hamas liegt, sondern dass Netanyahu die Verhandlungen sabotiert. Indem er kürzlich neue Bedingungen aufstellte, provozierte er eine Absage der Hamas. Bidens optimistische Aussage vom Wochenende, ein Waffenstillstand sei näher denn je, wirkt bereits überholt.

Die gefesselte Weltmacht

Wie ist es möglich, dass die Weltmacht Amerika mit ihrem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewicht eine solche Vereinbarung nicht einfach durchdrücken kann? Und warum gelingt es Netanyahu, amerikanischen Präsidenten auf der Nase herumzutanzen? Diese Frage drängt sich auf, da Israel weltweit nur einen wirklichen Verbündeten besitzt, die USA. Auf deren Militärhilfe ist es existenziell angewiesen.

Doch die daraus resultierende Abhängigkeit ist viel geringer, als oft angenommen wird. Entscheidend ist der parteiübergreifende Grundkonsens in den USA, wonach die Sicherheit des demokratischen Staates Israel zu gewährleisten ist – erst recht angesichts der bedrohlichen Nachbarschaft, in der sich dieser Alliierte befindet. Seit 2008 ist diese Überzeugung sogar gesetzlich verankert: Amerikanische Regierungen haben sicherzustellen, dass Israel eine militärische Übermacht gegenüber seinen Feinden behält.

Die Militärhilfe eignet sich daher als Druckmittel nur sehr begrenzt. Washington kann und sollte natürlich darauf pochen, dass amerikanische Waffen nur auf völkerrechtskonforme Weise im Gaza-Krieg eingesetzt werden. Aber Biden wird die Lieferungen nicht einstellen. Erst vor einer Woche hat seine Regierung Waffengeschäfte im Umfang von gut 20 Milliarden Dollar bewilligt, darunter den Verkauf von Kampfflugzeugen und Panzermunition. Auch wenn es dabei um langfristige Geschäfte und nicht Direkthilfe im Gaza-Krieg geht, war das Signal klar: Israels Sicherheit bleibt für die USA sakrosankt.

Dass Biden seinen Streit mit Netanyahu nicht eskalieren lässt, dafür sorgen ohnehin seine innenpolitischen Gegner. Die Republikaner schlachten jeden Anschein mangelnder Israel-Treue sofort aus. Dies hat den Präsidenten in eine Zwickmühle gebracht. Er will einerseits dem Trump-Lager keine Angriffsflächen bieten, muss aber anderseits dem israelkritischen Flügel seiner Partei Rechnung tragen. Entsprechend hilflos und inkonsequent wirkt seine Politik.

Netanyahu durchschaut all dies und nutzt die Ohnmacht des Weissen Hauses für seine Zwecke. Er ist sogar unverfroren genug, die Spaltung der Demokratischen Partei noch zu vertiefen. So nahm er im Juli die von republikanischer Seite ausgehende Einladung zu einer Ansprache vor dem Kongress an – wohlwissend, dass er die Demokraten in eine unmögliche Lage brachte. Die Hälfte der demokratischen Kongresspolitiker blieb dem Anlass fern, ein Zeichen dafür, wie tief der Unmut über die israelische Kriegführung in Bidens Partei reicht. Auch die Präsidentschaftskandidatin – und Vorsitzende des Senats – Kamala Harris zog es vor, andere Termine wahrzunehmen.

Alle spielen auf Zeit

Für Netanyahu, der nun häufiger vor dem Kongress aufgetreten ist als jeder ausländische Staatsgast vor ihm, war es gleichwohl ein Triumph. Interner Streit bei den Demokraten und ein möglicher Sieg der Republikaner bei den Wahlen im November kommen ihm gelegen. Seine Strategie scheint darin zu bestehen, Zeit zu gewinnen, seine Regierungskoalition mit radikalen Scharfmachern am Leben zu erhalten und einem temporären Waffenstillstand höchstens dann zuzustimmen, wenn Israel in seiner militärischen Handlungsfreiheit kaum eingeschränkt würde.

Für Biden und Harris ist die Nahostpolitik zwar ein Minenfeld, aber mit der jetzigen Situation können sie politisch leben. Auch sie spielen auf Zeit: Solange sich ein Grosskrieg mit der Hamas-Schutzmacht Iran vermeiden lässt und solange sie den israelkritischen Parteiflügel mit billiger Rhetorik halbwegs besänftigen können, bleibt für sie die Lage politisch unter Kontrolle. Ein Durchbruch in den jetzigen Verhandlungen wäre gewiss ein Erfolg. Aber dem Weissen Haus genügt bereits der Anschein von eifriger Diplomatie. So würde es nicht erstaunen, wenn ein Waffenstillstand weiter hinausgeschoben würde.

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