Montag, November 17

Den Gaza-Krieg nutzt Israel auch, um Iran zu schwächen. Für die USA könnten sich daraus neue Optionen ergeben.

Wenn es in der heutigen Welt eine Region gibt, in der sich eine unbeschränkte Machtpolitik austoben kann, ohne Bindung an Regeln und ohne die Begrenzung durch eine übergreifende sicherheitspolitische Architektur, dann ist es der Nahe Osten – mit Syrien im Zentrum.

Wie im Mitteleuropa des Dreissigjährigen Krieges herrscht heute in Syrien eine anarchische Gewalt, ausgeübt von lokalen Milizen, die oft von aussenstehenden Akteuren finanziert, ausgerüstet und angeführt werden, welche selbst wiederum ihre Ziele immer wieder verändern. Offenbar hat jetzt eine neue Runde des offenen Kampfes begonnen.

In den vergangenen Jahren hatte es so ausgesehen, als hätten sich alle Seiten in dem im Jahr 2011 begonnenen Bürgerkrieg müde gekämpft. Der mit barbarischer Gewalt gegen Aufständische agierende Diktator Bashar al-Asad hatte offenkundig gewonnen. Geholfen hat ihm Iran, das insbesondere die von Teheran abhängige kampferprobte Hizbullah-Miliz in die Schlacht geschickt hatte. Auch Russland hat geholfen, vor allem aus der Luft. Seit seiner Intervention im September 2015 hat es die Opposition brutal bombardiert.

Washington hatte erwogen, aufseiten der Aufständischen zu intervenieren, sich dann jedoch weitgehend herausgehalten. US-Truppen haben zwar seit 2014 im Norden Syriens operiert und sind dort noch stationiert, aber lediglich, um den Angriff der Terrororganisation Islamischer Staat abzuwehren, die sich dort breitgemacht hatte.

Trügerische Ruhe

Die Lage schien sich beruhigt zu haben. Die drei am stärksten engagierten aussenstehenden Mächte hatten sich im sogenannten «Astana-Format» miteinander arrangiert: Russland, Iran und die Türkei. In den letzten Jahren deutete alles auf eine Normalisierung hin.

Die Golfmonarchien, die anfänglich die Rebellen unterstützt hatten, zeigten sich ab 2018 offen für eine Rehabilitation Asads. Und zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan – der sich auf die Seite der Rebellen gestellt hatte und bis heute die syrische Region Idlib an der türkischen Grenze als Protektorat beschützt – und Asad schien sich ein Gesprächsfaden zu entwickeln. Angeblich versuchte auch Washington wieder, wie bereits vor dem Bürgerkrieg, Syrien von Iran abzukoppeln, um damit die Verbindung Teherans zum libanesischen Hizbullah zu kappen.

Doch all das wurde jäh unterbrochen durch den überraschenden Vorstoss der Rebellen nach Aleppo, der zweitgrössten Stadt Syriens. Plötzlich sieht es so aus, als könnten die Karten wieder neu gemischt werden.

Es wird allgemein angenommen, dass die Türkei grünes Licht für diese Operation gegeben hat. Ankara ist offenbar frustriert, weil es zu keinen Verhandlungen mit Asad gekommen ist. Der Druck in der Türkei, die Millionen von Flüchtlingen aus Syrien wieder nach Hause zu schicken, ist gross. Dazu braucht Erdogan einen Deal mit Asad.

Schwäche Russlands und Irans

Dass dieser Vorstoss aus dem Nordwesten überhaupt möglich war, liegt an zwei Entwicklungen. Zum einen ist Russland nicht mehr in der Lage, Asad und sein Regime im selben Masse wie in der Vergangenheit zu beschützen, weil es seine Ressourcen auf den Krieg gegen die Ukraine konzentriert. Zum anderen sind Iran und der libanesische Hizbullah, auf die Asad vor allem auf dem Boden angewiesen ist, massiv geschwächt.

In den vergangenen Jahren hatte es so ausgesehen, als habe Iran eine Position der Stärke in der Region aufgebaut – mit vielen verbündeten und zugleich abhängigen Milizen: der Hizbullah in Libanon, die Hamas im Gazastreifen, die Huthi in Jemen und weitere bewaffnete Kräfte in Syrien und Irak.

Es schien, als würde sich Iran nach und nach zum neuen regionalen Hegemon aufschwingen – was zweifellos das übergreifende Ziel des Regimes in Teheran ist. Es will Amerika vertreiben, Israel vernichten und sich selbst als militärische Vormacht etablieren, auch gegenüber den schwachen, unter amerikanischem Schutz stehenden Golfmonarchien.

Doch die Nadelstiche durch die mit Iran verbündeten Milizen Hamas, Hizbullah und Huthi haben Israel zu einem Gegenangriff provoziert, der deutlich gemacht hat, wie stark Israel in der Region ist – und wie schwach Iran, das weder die Hamas noch den Hizbullah vor den massiven israelischen Angriffen beschützen konnte.

Mehr noch: Israel hat demonstriert, dass es nahezu beliebig auch militärisch in Iran selbst operieren kann, aus der Luft und zumindest partiell am Boden mit verdeckten Operationen. Iran ist der grosse Verlierer der jüngsten Machtverschiebungen im Nahen Osten – das Teheraner Regime hat sich verkalkuliert.

Türkei in einer Position der Stärke

Die Türkei und die Rebellen im Nordwesten Syriens haben mit ihrer Offensive die Konsequenz aus der Schwäche Irans und seiner regionalen Verbündeten gezogen, von denen das Regime Asads abhängt. Im gnadenlosen Machtkampf in dieser Region wird jede erkannte Schwäche der Gegenseite sofort für eine Stärkung der eigenen Position genutzt.

Wie es weitergeht, ist unklar. Wenn deutlich ist, dass Asad sich an der Macht halten kann, wenn also der Vormarsch der Rebellen gestoppt wird, dann könnte es zu einem neuen Deal zwischen Russland, Iran und der Türkei kommen.

Die Türkei ist derzeit in einer Position der neuen Stärke in Syrien. Doch Ankara hat viele Gründe, Rücksicht auf Russland zu nehmen. Putin und Erdogan haben ein komplexes Verhältnis, bei dem Elemente der Rivalität mit Elementen der Partnerschaft verbunden sind. Beide respektieren, selbst wenn es hier und da Zusammenstösse gibt, immer auch die Kerninteressen der anderen Seite. Es geht um den Ausgleich der Interessen, nicht um die Verdrängung des anderen, was unmöglich ist.

Zugleich haben alle Akteure auch im Blick, dass sich bald das Spielfeld wieder ändern könnte – wenn sich die USA zu einer entschlossenen Nahostpolitik durchringen sollten. Angesichts von Trumps Nominierungen fürs Team für Nationale Sicherheit ist das durchaus denkbar.

Kommt Amerika zurück ins Spiel?

Trump wird sich vor allem auf Israels Sicherheit fokussieren. Er dürfte weitaus stärker als Biden hinter dem Land stehen, wenn es gegen die Hamas, den Hizbullah und gegen Iran vorgeht. Zugleich könnte Trump versuchen, mit Teheran ins Gespräch zu kommen, mit der Ambition, seine Fähigkeiten als selbsternannter Meister in der «Kunst des Deals» unter Beweis zu stellen, um mit einem Abkommen Iran zu hindern, den letzten Schritt zur Atombombe zu gehen.

Ein dritter Schwerpunkt einer Nahostpolitik von Trump dürfte das Bemühen sein, die «Abraham-Abkommen» zwischen Israel und seinen früheren arabischen Todfeinden – begonnen in Trumps erster Amtszeit – durch einen Dreier-Deal zwischen den USA, Israel und Saudiarabien zu krönen.

Die Biden-Regierung hatte diesen Ansatz von Trump übernommen und im Hintergrund mit Saudiarabien verhandelt, das an einer Vereinbarung interessiert ist, in der der militärische Schutz der USA vertieft und dauerhaft gemacht wird, um das Königreich gegen Iran abzusichern. Doch der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hatte diese Verhandlungen sabotiert.

Wenn Trump sich tatsächlich massiv in der Region engagiert, dann muss Washington auch eine Strategie für Syrien entwickeln. Wollen die USA im Norden Syriens weiterhin Truppen stationieren, wo sie die von Kurden beherrschte Region gegen die Türkei schützen? Würde Washington Druck auf Asad ausüben, um den Transport von Waffen an den Hizbullah und die Hamas zu verhindern? Könnte ein US-Deal mit Teheran die regionale Vormachtsstrategie Irans unterlaufen?

Unsicherheitsfaktor Trump

Die Schwäche Irans wäre eine Gelegenheit für die USA, einige Pflöcke einzuschlagen, um die Region zu stabilisieren. Doch die Erfahrung mit Trumps erster Amtszeit spricht eher dafür, dass die Aufmerksamkeit des Präsidenten für Aussenpolitik unstet ist. Bei aller Solidarität mit Israel könnte er schnell wieder das Interesse verlieren.

Und wie in der ersten Amtszeit dürfte auch dieses Mal sein aussenpolitisches Team vor allem damit beschäftigt sein, zu versuchen, eine gewisse strategische Logik in die impulsgesteuerten, auf Öffentlichkeitswirkung abzielenden Aktivitäten des Präsidenten hineinzubringen. Da bleibt dann oft wenig Zeit für echtes, beharrliches Arbeiten. Aussenpolitik ist eine Sisyphosarbeit. Der Berg des Sisyphos erscheint im Nahen Osten besonders steil.

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