Freitag, Januar 10

Mit «It Ends With Us» wollte Justin Baldoni häusliche Gewalt thematisieren. Jetzt wird ausgerechnet ihm Belästigung am Set vorgeworfen. Wer ist der in Ungnade gefallene Regisseur?

Baldoni ist gross, sein Körper trainiert, sein Gesicht markant. Er entspricht dem stereotypen Bild eines gutaussehenden Mannes. Und deshalb, erzählt er mit einem sarkastischen Unterton, habe er in seiner Karriere auch die besten männlichen Vorbilder gespielt: den oberkörperfreien Date-Vergewaltiger, den oberkörperfreien Medizinstudenten, den oberkörperfreien Betrüger. Das Publikum lacht.

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Es ist 2017, und Justin Baldoni hält einen TED-Talk. Der Schauspieler hat gerade mit der Serie «Jane the Virgin» Bekanntheit erlangt; er spielt darin den nur teilweise oberkörperfreien Hoteldirektor Rafael Solano. In seiner Rede spricht sich Baldoni gegen toxische Männlichkeit aus und positioniert sich als Verbündeter all jener, die unter ihr leiden: Frauen. Und Männer, die dem klassischen Mannsbild nicht entsprechen.

Der Talk sollte den Grundstein legen für Baldonis Mission: Männlichkeit neu zu definieren. Sein Vortrag wurde über 8,7 Millionen Mal angeschaut. Er traf damit einen Nerv.

Heute aber kennen die meisten Justin Baldoni, 40, nicht aufgrund des Vortrags, sondern wegen des Kinofilms «It Ends With Us». Er war sein grösster Erfolg als Regisseur und Schauspieler – und er könnte ihn seine Karriere kosten.

Ausgerechnet der Vorzeigefeminist Justin Baldoni soll am Set des Films seine Kollegin Blake Lively, 37, sexuell belästigt haben. Was ist passiert?

Das Gefühl, etwas beweisen zu müssen

Justin Baldoni wurde in Los Angeles geboren und wuchs in Medford, Oregon, auf. Sein Vater Sam arbeitete als Regisseur und Produzent; er und seine Frau Sharon sind ausgebildete Schauspieler.

Sein Vater sei ein sanftmütiger, liebevoller und aufopfernder Mann gewesen, erzählt Justin Baldoni in seinem berühmten TED-Talk 2017: «Er lehrte mich nicht, mit den Händen zu arbeiten, zu jagen oder zu kämpfen.» Als Kind habe er ihn deswegen abgelehnt: «Ich machte ihn dafür verantwortlich, selbst so sanftmütig zu sein – und deswegen gehänselt zu werden.»

Nicht nur die Liebe zum Film, auch die Spiritualität hat Justin Baldoni von zu Hause mitbekommen: Die Mutter stammt aus einer jüdischen, der Vater aus einer katholischen Familie. Die beiden konvertierten zum Bahaismus, einer Religion, die alle Weltreligionen vereint (Mose, Jesus Christus und Mohammed sind nach diesem Glauben Boten ein und desselben Gottes) und die Einheit aller Menschen betont. Justin Baldoni bekennt sich bis heute zum Bahai-Glauben.

Als Jugendlicher sei er eher hässliches Entlein als Schönling gewesen, erzählte Baldoni einst gegenüber dem Magazin «Forbes». Auch deshalb leide er bis heute unter dem Imposter-Syndrom, dem ständigen Gefühl, nicht gut genug zu sein. Es habe ihn in eine regelrechte «Identitätskrise» gestürzt, als ihn in seinen Zwanzigern plötzlich alle attraktiv gefunden hätten.

Baldoni wollte nicht nur der Schönling sein

Obwohl von Haus aus prädestiniert für die Unterhaltungsbranche, deutete zunächst alles auf eine Sportlerkarriere: Als talentierter Läufer und Fussballer erhielt er ein Stipendium bei der California State University. Dann setzte ein Sehnenriss seinen Ambitionen ein Ende. Das Studium beendete er nie.

Kürzlich erklärte Baldoni, zu jener Zeit in einer emotional und sexuell missbräuchlichen Beziehung gewesen zu sein. Seine damalige Freundin habe seine Grenzen nicht respektiert. «In meiner Vorstellung konnte ein Mann kein sexuelles Trauma erleiden», erklärte er im Podcast «How To Fail». Deshalb habe er lange darüber geschwiegen.

Als die Beziehung in die Brüche ging, verliess er die Universität und zog nach Los Angeles, um Schauspieler zu werden. Er erhielt bald kleinere Rollen in Serien wie «Reich und Schön» oder «Everwood» und spielte in wenig tiefgründigen Filmen wie «House Bunny» oder «Spring Break Shark Attack». Seine Rolle: der Schönling, immer und immer wieder.

Justin Baldoni aber wollte bedeutendere Dinge tun. Mehr noch: Er war bereit, «alles zu riskieren, um Hollywood zu verändern» – so zumindest beschrieb es «Forbes» 2020. Baldoni entschied, nur noch bedeutungsvolle, lebensbejahende Inhalte zu produzieren. Ein Jahr lang reiste er durch die USA und porträtierte Menschen, die kurz vor dem Sterben waren. Das Ergebnis: eine Dokumentarserie namens «My Last Days».

Finanziell schien es sich anfangs nicht zu lohnen: Sein Haus wurde zwangsversteigert. Doch die Serie fand bald ein Publikum: Die Episode des krebskranken Musikers Zach Sobiech wurde auf Youtube über 16 Millionen Mal angeschaut. Die Geschichte bewegte so sehr, dass Baldoni einige Jahre später für Disney einen Spielfilm daraus kreierte.

Baldoni hat ehemalige «Jane the Virgin»-Kollegin getraut

2014, zwei Jahre nachdem Justin Baldoni die Dokumentarserie lanciert hatte, erhielt er seine bis heute berühmteste Rolle: Rafael Solano in der Serie «Jane the Virgin». Zwar mimte er auch hier zunächst den Playboy-haften Frauenschwarm. Rafael sollte sich aber über fünf Staffeln zu einem liebevollen Vater und Partner entwickeln.

Rafaels Verwandlung habe gewissermassen seine eigene gespiegelt: Während er die Serie drehte, heiratete Justin Baldoni seine Freundin Emily und bekam mit ihr zwei Kinder.

Bis heute zählt die Besetzung von «Jane the Virgin» zu seinem engsten Freundeskreis: Der Schauspieler Brett Dier schwärmte erst kürzlich in Baldonis Podcast von der engen Freundschaft. Die Schauspielerin Yael Grobglas teilte über die Jahre immer wieder unterstützende Social-Media-Posts für Projekte von Baldoni, und die Hauptdarstellerin Gina Rodriguez liess sich gar von ihm trauen. Baldoni sei ihr «Seelenbruder».

Um noch mehr eigene Projekte umzusetzen, gründete Justin Baldoni 2019 eine eigene Produktionsfirma. Er wolle «jene Geschichten erzählen, die Hollywood zu erzählen zögere». Geschichten über soziale Gerechtigkeit und über jene Menschen, die sonst nicht gehört würden, so der noble Anspruch. Die Produktionsfirma Wayfarer Studios soll «gleichgesetzt werden mit sinnstiftendem Inhalt», sie soll den Menschen ins Zentrum stellen, nicht den Kommerz.

Ausgerechnet der erste Spielfilm von Wayfarer Studios wurde aber genau das: ein kommerzieller Erfolg. Mit «Five Feet Apart» gab Baldoni sogleich auch sein Spielfilmdebüt als Regisseur. Der Film handelt von zwei Jugendlichen, die an Zystischer Fibrose leiden. Sie verlieben sich, müssen ihrer Krankheit wegen aber Abstand voneinander halten.

Als das Skript fertig war, bestand Justin Baldoni darauf, es zunächst als Buch zu veröffentlichen. «Ich sagte den Verantwortlichen, sie müssten mir hierbei vertrauen. Und das Buch wurde zum Bestseller, bevor der Film in die Kinos kam.» Die Produktion spielte im Kino über 92 Millionen Dollar ein.

Es ist eine Erzählung, deren sich Baldoni immer wieder bedient: Er, der Visionär, der einfach nicht verstanden wird. Er, der wider alle Ratschläge seine Vision in die Tat umsetzt – und reüssiert. Irgendwann würden alle sehen, dass er Recht hatte.

Ein Podcast für Baldonis Mission

Der unverstandene Visionär, so inszenierte sich Baldoni auch bei feministischen Themen. 2019 erzählte er der «New York Times», er habe Gespräche, wie sie in Männerumkleidekabinen stattfänden, öffentlich führen und kritisch hinterfragen wollen. «Doch niemand hat die Idee verstanden. Man lachte bloss darüber», erzählte er 2019 der «New York Times». «Also habe ich selbst etwas gestartet.» Einmal mehr.

2021 veröffentlichte er das Buch «Man Enough – Undefining My Masculinity», im selben Jahr startete er mit dem Freund und CEO von Wayfarer Studios, Jamey Heath, sowie mit der Journalistin Liz Plank den «Man Enough Podcast». Mit prominenten Gästen besprechen sie darin Themen wie Missbrauch, toxische Männlichkeit, Sexismus und psychische Gesundheit.

2022 publizierte Baldoni mit «Boys Will Be Human» sein zweites Buch, eine Art Ratgeber an Jungs. Er ermutigt sie darin, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszuleben statt sie zu unterdrücken.

Die neue Männlichkeit wurde Baldonis Lebensthema. Baldoni war derjenige, der all die richtigen Dinge zu sagen und zu tun schien. Bis 2024.

Ein weiteres Beispiel für den Joss-Whedon-Effekt?

Mit «It Ends With Us» wollte Justin Baldoni einen Film über häusliche Gewalt drehen. Er erwarb die Rechte an dem Roman von Colleen Hoover, gewann den Hollywood-Star Blake Lively als Co-Produzentin und Hauptdarstellerin und führte nicht nur Regie, sondern stand nach sieben Jahren selbst wieder vor der Kamera. Es hätte der bisher grösste Coup von Baldoni und Wayfarer Studios werden sollen.

Was dann passierte, füllt derzeit mehrere Klagen und Klatschspalten. Fakt ist: Der Film wurde ein kommerzieller Erfolg. Doch hinter den Kulissen fiel alles auseinander. Lively und Baldoni absolvierten keinen einzigen Promo-Termin gemeinsam. Der ganze Cast und die Autorin Colleen Hoover entfolgten Baldoni auf Instagram.

Kurz vor Weihnachten reichte Blake Lively eine Klage ein – unter anderem gegen Baldoni und seine Produktionsfirma wegen sexueller Belästigung. Baldonis Team habe eine systematische Hetzkampagne gegen sie gestartet, heisst es. Die «New York Times», die einst voll des Lobes für Justin Baldoni war, publizierte sämtliche Vorwürfe gegen ihn detailliert. Er wiederum verklagte die «New York Times» wegen Diffamierung für 250 Millionen Dollar. Eine Klage gegen Blake Lively soll folgen.

Justin Baldoni, der einen jahrelangen Kreuzzug gegen die toxische Männlichkeit führte, muss sich nun anhören, einer jener Männer zu sein, die sich zwar feministisch inszenieren, aber tatsächlich sexistisch handeln. Auf Social Media hat das Phänomen einen Namen erhalten: den Namen «Joss-Whedon-Effekt», in Anspielung auf den Drehbuchautor, der zwar feministische Scripts schrieb, aber die Frauen am Set herabwürdigend behandelt haben soll.

Die bisher letzte Folge von Baldonis «Men Enough Podcast» erschien Ende Oktober. Die Musikerin FKA Twigs erzählt darin von ihrer missbräuchlichen Beziehung zum Schauspieler Shia LaBeouf. Eine Verabschiedung oder Erklärung gibt es nicht. Im Dezember gab die Co-Moderatorin Liz Plank bekannt, nicht mehr im Podcast mitzuwirken. Sie werde weiterhin alle unterstützen, «die Ungerechtigkeit anprangern, und jene, die im Weg stehen, zur Rechenschaft ziehen», schrieb sie in einer Erklärung auf Instagram.

Mit «It Ends With Us» hatte Justin Baldoni einen weiteren Schritt unternehmen wollen, Hollywood zu verändern. Vielleicht hat er das. Aber nicht so, wie er gedacht hatte.

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