Kann man Christ und zugleich Materialist sein? Ja, findet der slowenische Philosoph. Und vielleicht müsse man das sogar. Denn Religion sei die Grundlage jeder emanzipatorischen Politik.
Slavoj Žižek steht für ein Denken, das verschiedene, sich zum Teil widersprechende Theorien auf originelle Weise miteinander verknüpft. Dabei nutzt er Paradoxien produktiv. Auch wenn sein vielfältiges, mehrere tausend Seiten umfassendes Werk kaum zu überblicken, geschweige denn auf einen Begriff zu bringen ist, so lassen sich doch drei Säulen ausmachen, auf denen sein Denken beruht: der Hegelianismus, der Marxismus und die Psychoanalyse in der Fortschreibung von Jacques Lacan.
Vor zehn Jahren setzte sich Slavoj Žižek in seinem Wälzer «Weniger als nichts» auf rund 1500 Seiten mit Hegel auseinander. Sein neues Buch, «Christlicher Atheismus», gilt der marxistischen Gesellschaftsutopie. Dabei wendet er den Frontalangriff ins Positive: «Der alte Vorwurf an den Marxismus, sein Einsatz für eine hellstrahlende Zukunft sei nichts weiter als eine Umwendung der religiösen Erlösung ins Säkulare, sollte voller Stolz angenommen werden.»
Ist Gott böse?
Um den Glauben hinter sich zu lassen, müsse man durch die Religion hindurchgegangen sein, sagt Žižek. Denn die vorschnelle Behauptung, Gott sei tot, führe bloss dazu, dass er in anderen Formen immer wieder zurückkehre: «Man denke nur daran, wie die politische Korrektheit zahlreiche Verbote und Regeln aufstellt.» Es sei daher notwendig, den Glauben von innen her zu unterwandern und Gott nicht nur für tot, sondern auch für gleichgültig und dumm, ja böse zu erklären. Nur so könne vermieden werden, dass er in idealisierter, stets sich verändernder Gestalt die säkulare Welt heimsuche.
Der wahre Atheist glaubt nach Žižek an die Fleischwerdung des Geistes, wie sie nur das Christentum kennt, und an die Wiederkehr des toten Christus: Als Heiliger Geist stifte er im Hier und Jetzt eine egalitäre Gemeinschaft der Gläubigen. Dieses emanzipatorische Kollektiv blicke einer gerechten Welt entgegen. Eines Tages werde der Kommunismus die Bühne betreten, und zwar «durch einen Ausnahmezustand, der uns von einer apokalyptischen Bedrohung aufgezwungen wird». Bei diesem Szenario, das eher bedrohlich als beglückend klingt, kehrt Marx als Erlöser mit Heiligenschein ins Jammertal zurück. So erfrischend manche von Žižeks Gedankenpirouetten sind, so abgestanden ist diese Erlösungsphantasie.
Hochkomplexe Quantenphysik
Für Žižek funktioniert der Marxismus nach wie vor, aber nur, «wenn er durch die Psychoanalyse ergänzt wird». Diese hält sich im neuen Buch allerdings vornehm zurück. So zweifelt der Autor daran, ob Gott an sich selbst glaubt – ganz im Sinne Lacans («Dieu ne croit pas en Dieu»). Wir müssen, so Žižek, den Schritt machen von unserem Zweifel an Gott zu Gottes Zweifel an seiner eigenen Göttlichkeit und zeigen, «dass wir Gott nicht brauchen, um die Realität zu erklären». Nur so befreiten wir uns von den Fesseln der Religion.
An dieser Stelle macht Slavoj Žižek einen grossen Schritt weg von den Geisteswissenschaften hin zu den Naturwissenschaften. Die Quantentheorie legt in seinen Augen die Abwesenheit oder Absenz Gottes nahe: «Für mich sind Quantenphänomene ein Beweis dafür, dass Gott selbst (der grosse Andere) getäuscht wird, dass etwas sich seinem Zugriff entzieht.» Auch wenn der Philosoph angesichts des hochkomplexen Themas zugibt, «nicht im Mindesten qualifiziert» zu sein, widmet er der Quantenphysik ein ausführliches Kapitel.
Beschämende Woke-Kultur
Überzeugender als so gewagte Ausflüge ins Reich der exakten Wissenschaften sind Žižeks Anmerkungen zu gesellschaftspolitischen Phänomenen der Gegenwart. Seine Kritik an der um sich greifenden Wokeness-Kultur, die langsam, aber sicher zur Normalität werde, trifft ins Schwarze: «Das Bemühen, dem Verschiedenartigen inklusiv zu begegnen usw., endet in einem äusserst vulgären und intellektuell beschämenden Reduktionismus.» Die Verbotskultur verbinde den Wokeismus mit dem religiösen Fundamentalismus und der Ideologie der neuen Rechten.
Ähnlich wie Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch «Der Kontinent ohne Eigenschaften» kritisiert Žižek die verzagte Haltung Europas bei den jüngsten weltpolitischen Verwerfungen. Europa sei geradezu «besessen von der Angst, die eigene Identität zu behaupten», ja «geniesse seine Selbstbeschuldigung in vollen Zügen», so pointiert Slavoj Žižek. Die universell gültigen Errungenschaften der Aufklärung, welche die Emanzipation des Menschen zum Ziel haben, würden als eurozentristisches Projekt denunziert. In dieser psychopolitischen Verfassung werde Europa eine leichte Beute für die Feinde des demokratischen Fortschritts in Ost und West.
Slavoj Žižek: Christlicher Atheismus. Wie man ein wahrer Materialist wird. Aus dem Englischen von Frank Born und Axel Walter. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 409 S., Fr. 44.90.