Mittwoch, September 17

Wie gelang es Hitler, Zustimmung zu einem Regime der Gewalt zu gewinnen? Der deutsche Historiker Götz Aly hat überzeugende Antworten parat.

Man kennt die Geschichten, die von deutscher Kontinuität über 1945 hinaus handeln. Etwa die von dem Schauspieler Erich Ponto. Er spielte 1928 in der Uraufführung der «Dreigroschenoper», die der progressive Kurt Weill und der dem Kommunismus zugeneigte Bert Brecht verfasst hatten, die Rolle des Gangsterbosses Jonathan Peachum.

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Zwölf Jahre später gab er sich dafür her, im antisemitischen NS-Propagandafilm «Die Rothschilds» die Rolle des jüdischen Bankiers Mayer Amschel Rothschild zu geben. Und gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verkörperte er im Juli 1945 in Dresden ungerührt die Hauptfigur von Lessings Stück «Nathan der Weise»: den weisen Nathan, der für ein von Toleranz geprägtes Verhältnis zwischen Christen und Juden eintritt.

Der Historiker Götz Aly breitet diese und viele andere Beispiele trüber Kontinuität in seiner monumentalen Studie «Wie konnte das geschehen?» aus. Er tut es ausdrücklich nicht im Ton der heute üblichen nachholenden Empörung. Sein Thema ist vielmehr die merkwürdige Mischung aus Bruch und Kontinuität, die die Geschichte von Nachkriegsdeutschland geprägt hat.

Aly bestreitet nicht, dass hier viele Skandale verborgen sind. Man pflegt sich den Nationalsozialismus heute oft mit der Überzeugung vom Hals zu halten, er sei Sache einer dumpfen, unaufgeklärten, fortschrittsfeindlichen Mehrheit der Deutschen gewesen. Aly hebt dagegen nicht nur das Abstossende des Nationalsozialismus hervor, sondern fragt nach den Gründen für dessen Attraktivität.

Eine moderne Partei neuen Typs

Warum waren nicht nur Deklassierte, sondern auch so ungeheuer viele gut ausgebildete, leistungsorientierte und modern denkende Deutsche 1933 und danach bereit, im Nationalsozialismus ihre Zukunft zu sehen? Alys These, die er in dieser Summa seiner Forschungen konsistenter entwickelt als in seinen zahlreichen Büchern zuvor, lautet: Die NSDAP war nicht die Partei der entfesselten, obrigkeitshörigen Desperados, sondern eine moderne Partei neuen Typs.

Historiker, die über Hitlerdeutschland schreiben, pflegen inzwischen aus guten Gründen meist einen distanzierten, betont sachlichen Stil. Nicht so Götz Aly. Er meidet, wie er süffisant anmerkt, «fussnotenstolze Objektivität», er schreibt flüssig, anschaulich, pathosfrei und mitunter in einem fast heiteren, zumindest gelassenen Ton: keine schlechte Methode, sich nicht überwältigen zu lassen.

Das dicke Buch ist, trotz gelegentlichen Längen, gut, manchmal fesselnd zu lesen. Scheinbar mühelos arrangiert Aly eine gewaltige Menge von Material über NS-Täter, Mitläufer und die wenigen, die das kommende Verderben erkannten. Etwa Thomas Mann, Wilhelm Röpke, den Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft, oder den kaum bekannten Tagebuchschreiber Hermann Stresau. Weil das Buch politische, wirtschaftliche, militärische und mentale Geschichte zusammenführt, ist es ein grosser Wurf geworden.

Anders als alle anderen damaligen Parteien verfolgte die NSDAP einen klassenübergreifenden Ansatz. Und war ideologisch viel weniger einheitlich, als heute vermutet wird. Was die Aufstiegsmöglichkeiten ihrer Anhänger anging, profitierte sie von der Bildungsrevolution, die im Kaiserreich begonnen hatte. Und davon, dass Deutschland 1918 eine Demokratie geworden war. Ein Mann wie Hitler, der von Anfang an nicht auf ein Vorankommen im «System», sondern auf dessen Zerstörung setzte, hätte im Kaiserreich nicht die geringste Chance gehabt. Der Erfolg der NSDAP war auch eine Folge gesellschaftlicher Öffnung.

Zustimmungsdiktatur

Wie gelang es Hitler und seinen Leuten, Zustimmung zu einem Regime der Gewalt zu finden? Es lag, so Aly, wohl wesentlich daran, dass die Gewalt lange nicht der prägende Zug des Regimes war, obschon sie von Anfang an dazugehörte. Es entstand vielmehr eine Zustimmungsdiktatur, die den vielen, die als «Arier» galten und dazugehören wollten, attraktive Angebote machte.

Das Regime betrieb eine offensive Sozialpolitik, erhöhte die Renten, sorgte für Kriegswitwen, schützte Bauern vor Insolvenzen und eröffnete den unteren Schichten mit dem Programm «Kraft durch Freude» bisher ungeahnte Freizeitmöglichkeiten. Da durch die Entrechtung der Juden viele Stellen frei wurden und das Regime zusätzlich eine forcierte Politik des Staatsausbaus und der Arbeitsbeschaffung betrieb, boten sich für eine grosse Zahl ehrgeiziger junger Männer und zum Teil auch Frauen willkommene Aufstiegsmöglichkeiten.

Sie wurden genutzt und erzeugten Zufriedenheit. Die kurze, aber wichtige Zeit des «Friedensglücks» von 1933 bis 1937 schuf einen festen Sockel der Loyalität. Selbst Sozialisten wie Hans Brümmer, 1918 Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrats und später Bezirksleiter des Deutschen Metallarbeiterverbands, konnte sich dem nicht entziehen. Als der Verband im Juni 1933 in die nationalsozialistische Deutsche Arbeitsfront (DAF) «übergeführt» wurde, warb er in mehreren Reden vor Arbeitern für die DAF.

Er empfahl seinen Zuhörern, «im Sinne der Gleichschaltung und zum Wohle jedes Mitglieds im neuen Deutschland» mitzuhelfen. Schlagartig wird dem Leser bewusst, dass «Gleichschaltung» ein zunächst auch in fortschrittlichen Kreisen positiv besetztes Ziel war. Brümmer schadete übrigens sein Engagement für die DAF nicht. Von 1948 bis 1956 war er einer der drei Vorsitzenden der IG Metall.

Zuschlagen und nachgeben

Das NS-Regime agierte nicht durchwegs so unerbittlich und martialisch, wie man dies aus unzähligen TV-Dokumentationen zu wissen meint. Hitler habe, so Aly, eine Vision gehabt, die ganz unterschiedlichen Bedürfnissen entgegenkam: «Im Inneren harmonisch, frei von allem Fremden und Bedrohlichen, wehrhaft und selbstbewusst, sozial durchlässig, aufstiegs- und leistungsorientiert, im Verbalen heimat- und traditionsbewusst.»

Über lange Zeit sei nicht die Starrheit, die Hitler gegen Ende des Krieges an den Tag gelegt habe, das Markenzeichen Hitlerdeutschlands gewesen, so Aly. Sondern seine Flexibilität. Die Herrschenden konnten zuschlagen, aber auch nachgeben. Sie konnten, wie vor der letzten Parlamentswahl im November 1933, gegen den «Rüstungswahnsinn» agitieren und gleichzeitig eine riesige Aufrüstung betreiben.

Gerade durch diese scheinbare Wankelmütigkeit festigte Hitler sein Herrschaftsmonopol. Das temporeiche Karussell der Inszenierungen betäubte die Menschen, erzeugte am Ende eine erschöpfte Hinnahme. So entstand die Mitmach- und Mitwissergesellschaft, in der viele vieles ahnten. Es aber so genau nicht wissen wollten, wie sie es hätten wissen können.

Insbesondere Propagandaminister Joseph Goebbels verstand es perfekt, auf dieser Klaviatur zu spielen. Aly dokumentiert überzeugend, welche zentrale Rolle Goebbels spielte. Er verstand es, Hitlers erratische, oft wirre Pläne in attraktive Botschaften zu verwandeln und dem breiten Volk zum Verzehr zu servieren. Götz Aly nennt ihn «spitzohrig» und einen «Volksversteher».

«Raub, Raub, Raub»

Obwohl sich Hitler gern in Friedensrhetorik erging, war seine Herrschaft von Anfang an zielstrebig auf den grossen Krieg ausgerichtet. Man hat das oft mit der nationalistischen oder kolonialistischen Ideologie der Nazis zu erklären versucht. Aly rückt etwas anderes in den Mittelpunkt: die hemmungslose Schuldenpolitik des Regimes, vor deren Hintergrund das heutige staatliche Schuldenmachen als strikte Ordnungspolitik erscheint.

Die Nazis hatten keine Vorstellung von einem ausgewogenen Staat, der sich haushaltspolitischer Disziplin verpflichtet fühlte. Sie kannten nur einen Weg zur Bewältigung aller sozial- und aussenpolitischen Fragen. Aly bringt es auf die Formel «Raub, Raub, Raub». Anfangs der Raub am Vermögen der deutschen Juden, schliesslich das Ausrauben Polens, der Sowjetunion und anderer Länder. Das konnte, trotz allen Kraftanstrengungen, nicht gutgehen. In der Politik letztlich unproduktiver Raubzüge war der Untergang Hitlers angelegt. Götz Aly spricht von der grössten Konkursverschleppung der Geschichte.

Das ungeheuerlichste der vielen Naziverbrechen war die Shoah. Wie konnte das geschehen? In vielen Erklärungsversuchen steht der eliminatorische Antisemitismus im Mittelpunkt. Tatsächlich gab es zuvor in der Geschichte keinen anderen so gross angelegten Versuch, eine Gruppe von Menschen nur deswegen auszurotten, weil sie das waren, was sie nun einmal waren. Götz Aly folgt diesem Ansatz nicht. Er hebt vielmehr den «funktionalen» Charakter der Judenverfolgung hervor.

Zum einen war die Befeuerung des in Deutschland schon länger virulenten antijüdischen Ressentiments den Nazis ein willkommenes Mittel, um durch Ausgrenzung ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Man musste nur kein Jude sein, um dazuzugehören. Exklusion schuf Inklusion. Das funktionierte, und zwar nicht allein durch die Androhung von Gewalt. Das ersehnte Wir-Gefühl war weit mächtiger als das Vermögen zu Mitgefühl.

Mitwissen und Dulden

Doch das war nicht alles. Ein oft übersehenes Motiv der Judenverfolgung war materieller Natur. Die Vernichtung der deutschen wie der osteuropäischen Juden diente dazu, die Kriegskasse aufzufüllen und den Deutschen materielle Werte (Hausrat, Klaviere, Pelze usw.) zuzuschanzen. Im Osten Europas sollte die Verschleppung und Ermordung von Juden zudem Siedlungsraum für Deutsche schaffen.

Mit ihrer Methode, die Deutschen wie hinter einer Sichtblende die NS-Barbarei undeutlich und dennoch eindeutig erkennen zu lassen, band die NS-Führung die Mehrheit der Bevölkerung via Mitwissen und Dulden in ihre Verbrechen ein, in voller Absicht. Es waren die Nazis, die die Kollektivschuld erfanden. Auch deswegen wurde diese nach 1945 mit heissem Eifer in Abrede gestellt.

Aly behandelt den deutschen Antisemitismus nicht nur als ein Problem abhandengekommener Moral. Allerdings kommt bei ihm ob aller Nützlichkeitserwägungen das ewige Rätsel zu kurz, warum die Deutschen in der Mehrheit bereit waren, die Juden – ihre Nachbarn, Kollegen, Bekannten – bei allenfalls schwachem schlechtem Gewissen als grundsätzlich nicht zu ihnen gehörig wahrzunehmen.

Aly charakterisiert treffend die perfide Schuldumkehr, die die Nazis von Anfang an betrieben. Sie behaupteten ernsthaft, aus Notwehr zu handeln. Und schrieben den Juden die Eigenschaften und Praktiken zu, die sie selbst ohne jede Hemmung betrieben: «Verlogenheit und Raffgier, Korruption und Niedertracht, Beherrschung der Presse, der Theater und Börsen, Volksbetrug, Kriegstreiberei, Streben nach Weltherrschaft und die Absicht, alle zu vernichten, die sich ihnen entgegenstellten oder ihnen nicht passten.»

Dauerhafte Mitschuld

So waren die Nazis in Wahrheit genau die, vor denen sie das deutsche Volk zu retten vorgaben. Aber auch diese Einsicht in die grausame Rationalität des Judenmordes hinterlässt die nach wie vor brennende und immer offen bleibende Frage: Wie wurde es möglich?

Götz Alys Opus magnum umfasst fast 800 Seiten. Wünschenswert wäre es, wenn der Autor seine Absicht, in Zukunft nichts mehr über Hitler zu schreiben, noch einmal überdenken würde. Und ein Buch von 180 bis 250 Seiten schreiben würde, gewissermassen eine – pardon – Volksausgabe von «Wie konnte das geschehen?». Denn Aufklärung tut not. Im Bewusstsein vieler Deutscher hat sich ein verzerrtes, aber bequemes Bild von Hitlerdeutschland verfestigt: als einem monströsen Reich, auf das man vom scheinbar sicheren demokratischen Hort aus nur mit Abscheu und Unverständnis blicken kann.

Aly hält dagegen, dass es ein Fehler wäre, sich bei der Suche nach den Ursachen des Nationalsozialismus «auf die negativen, die schon lange übelriechenden Ecken zu beschränken». Sich davon abzusetzen, fällt heute leicht. Es weckt das schöne Gefühl, ein besseres Stück Geschichte erwischt zu haben, befördert aber kaum Einsichten. Denn so wird man nie begreifen, wie es die Nazis verstanden, die grosse Mehrheit der Deutschen, auch viele friedliebende und menschenfreundliche, in «eine nagende, dauerhafte Mitschuld zu verwickeln». Der Weg dahin war nicht nur steinig, sondern oft bequem und verlockend.

Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt 2025. 768 S., Fr. 49.90.

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