Freitag, November 15

Antisemitismus ist dumm, weil er einer Gesellschaft schadet, die ihn praktiziert. Europa hat diese Lektion weitgehend gelernt. Muslimische Zuwanderung macht diesen Fortschritt zunichte.

Die Amsterdamer «Judenjagd» ist nichts Neues in der jüdischen Weltgeschichte. Jäger, Rechtfertigung, Anlass, Akteure und Aktionen wechseln – das Jagdobjekt bleibt: Juden. Durch den Zionismus hoffte erst ein kleiner, dann der grösste Teil der Judenheit, diesen historischen Kreislauf beenden zu können. Ein Irrtum, denn inzwischen führt der jüdische Staat in der Welt, wie einst das Diasporajudentum, ein Ghettodasein.

Warum auch sollte sich das geändert haben? Weil wir, zumindest im Westen, in einer mehrheitlich religionsfernen und -feindlichen Ära leben? Die Religion, Christentum und Islam, waren stets nur die Grundlage der Rechtfertigung für Judenhass. Wechselnde, doch handfeste Interessen der jeweiligen Antisemiten waren hingegen die eigentliche Ursache. So gesehen ist der weltliche Judenhass ehrlicher als einst. Er beruft sich nicht auf den lieben Gott. Anders in der islamischen Welt, wo gegenwärtig eher mehr als zuvor religionsnah gedacht und gehandelt wird. Ob das dem lieben Gott – wenn es ihn gibt – heute, wie gestern auch bei Christen, recht ist, sei dahingestellt.

Historisch betrachtet steht fest: Diejenigen Staaten und Akteure, die Juden diskriminiert, vertrieben oder liquidiert haben, schadeten sich früher oder später selbst. Sie hofften, durch Judenjagden und andere Akte solcher «Nächstenliebe» ihre Probleme und Krisen zu lösen, um dann feststellen zu müssen, dass sie sich ins eigene Fleisch geschnitten hatten. Das Muster ist historisch bekannt. Der nun wieder aufgeflammte Judenhass ist ein Krisensymptom der die Juden jagenden oder sie gewollt oder ungewollt nicht genug schützenden Gesellschaften.

Juden wehren sich

Weil meistens schwach oder gar wehrlos, waren die Juden in ihrer dreitausendjährigen Geschichte ein bequemes Opfer. Das hat sich durch den modernen Zionismus sowie seine Verwirklichung, also die Gründung des israelischen Staates im Jahre 1948, und noch mehr seit dem siegreichen Sechstagekrieg, fundamental verändert. «Der» Jude wehrt sich. Sogar heftig. Nicht nur in Israel, doch besonders dort. Er präsentiert sich als gelehriger Schüler seiner Jäger in Okzident und Orient. So gesehen sind Zionismus und Israel die Quittung «der» Juden für die Judenfeindschaft der alt- und nachchristlichen sowie der islamischen Welt.

Heinrich Heine hat das schon vor zweihundert Jahren in seinem Gedicht «An Edom» geahnt. «Ein Jahrtausend schon und länger, / Dulden wir uns brüderlich, / Du, du duldest, dass ich atme, / Dass du rasest, dulde Ich. / Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, / Ward dir wunderlich zu Mut, / Und die liebefrommen Tätzchen / Färbtest du mit meinem Blut! / Jetzt wird unsre Freundschaft fester, / Und noch täglich nimmt sie zu; / Denn ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du.»

Der vollzogene, reaktive Rollenwechsel vom wehrlosen zum wehrhaften Juden missfällt nicht nur den Jägern. Er missfällt auch denjenigen, die sich gerne – paternalistisch und, bereits lange vor Amsterdam, nicht gerade erfolgreich – als tolerante Beschützer der Juden verstehen. Sie tun es durchaus aufrichtig, sie können es aber nicht und mögen es auch nicht, dass und wenn sich «der» Jude anders oder gar heftiger wehrt, als es dem Möchtegern-Beschützer gefällt.

Sie erklären, wie, wenn und wo auch immer Juden Opfer körperlicher oder «nur» verbaler Gewalt ausgesetzt sind, vom jeweiligen Staatspräsidenten abwärts wie aus der Tonkonserve: «Für Antisemitismus ist bei uns kein Platz.» Offensichtlich ist Platz, doch der Staat wird seiner nicht Herr. Nur wenige sind so eindrucksvoll ehrlich wie König Willem-Alexander der Niederlande. Er räumte unumwunden nach der Amsterdamer Judenjagd ein: Die Niederlande hätten den Juden gegenüber nicht nur im Zweiten Weltkrieg versagt, «sondern auch jetzt».

Des Monarchen Eingeständnis ist geradezu sensationell mutig, denn es gehört in den Niederlanden zum schlechten guten Ton, sich mit der Legende zu schmücken, «die» Niederländer hätten, wie Jan und Miep Gies die Familie Anne Franks, nahezu alle Juden vor den deutschen Mördern geschützt.

Im Bild gesprochen: Das Eis dieser Judenfreundschaft war bereits lange vor Amsterdam – und nicht nur in den Niederlanden – dünn. Längst war es gebrochen. Die Judenfeindschaft war nur verdeckt. Womit wir über Amsterdam vom 7. November hinaus bei der Vergangenheit und Zukunft wären. Den Strukturen gelte die Aufmerksamkeit, nicht nur Zyklen oder Einzelereignissen.

Zuflucht für Kriegsverbrecher in Nahost

Lange trauten sich die Täter, Mitläufer und ihre Nachfahren nicht, sich offen zu Judendistanz oder -feindschaft zu bekennen. Das war sogar fast sympathisch, denn diese Hemmung dürfte nicht nur, sondern auch auf eine Art gefühlter Urschuld und, daraus abgeleitet, Gewissensbisse – sogar bei den unschuldigen Nachfahren der Täter- und Mitläufergeneration – zurückzuführen sein. Von 1939 bis 1945 war der Tod nämlich nicht nur ein «Meister aus Deutschland» (Paul Celan), sondern in und aus ganz Europa. Mit willigen islamischen Helfern in und aus Nahost, wo man auch nach 1945 wegen des Kampfes gegen den jüdischen Staat Israel kein schlechtes Gewissen hatte. In Nahost, besonders in Ägypten und Syrien, tummelten sich zahlreiche alte NS-Kämpfer und Kriegsverbrecher. Sie sonnten sich dort in der Wärme orientalischer Willkommenskultur.

Doch die alte christlich-religiöse Judenfeindschaft ist inzwischen bedeutungslos. Ihre Reste sind unerfreulich, aber harmlos. Erstens, weil Katholiken und Protestanten ihrem theologisch un- und widersinnigen Antijudaismus abgeschworen haben. Zweitens, weil beide Kirchen in Westeuropas nahezu heidnischer Gesellschaft nichts mehr wirklich «zu melden haben».

Der «gutbürgerliche» und «nur» diskriminatorische Judenhass ist unerfreulich, aber nicht tödlich und wie alle Antijudaismen für den jeweiligen Staat, also die Mehrheit der nichtjüdischen Bürger, schädlich. Weil «die» Juden – Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel – aufgrund ihrer rund 2500 Jahre fortdauernden Tradition der Breitenbildung meistens überdurchschnittlich qualifiziert sind. Funktional ausgedrückt: «Die» Juden nützen dem jeweiligen Staat. Juden zu diskriminieren, zu attackieren oder gar zu liquidieren, ist deshalb – jenseits der Unmoral – selbstverschuldet kontraproduktiv, sprich: dumm.

Noch dümmer in einer Zeit, in der westliche Gesellschaften mehr denn je hochqualifizierte, Steuern zahlende, loyale und friedliche Bürger gleich welcher Herkunft mit dem Mikroskop suchen und nicht finden, weil sie nicht kommen oder gar gehen. Massenweise kommen hingegen fachlich unqualifizierte Zuwanderer. Viele aus radikalislamischen Staaten, wo ihnen Judenhass von Kindesbeinen an eingehämmert wird.

Das bedeutet: Die Probleme von innen werden durch diese Migranten verschärft, denn wie bei jedem Menschen bedeutet ein Ortswechsel des Körpers keine Veränderung der Seele, Sorgen oder Wünsche. Diese Zuwanderung ist eine Folge der Entkolonialisierung des Orients, der dortigen Nachfolgekriege sowie der wirtschaftlichen Anziehung Europas. Durch die demografische Verflechtung mit der islamischen Welt wurde Europa zu ihrem Nebenschauplatz, zur zweiten Front. Nicht zuletzt in ihrem Kampf gegen Israel und «die» Juden.

Suche nach den Schuldigen

Die demografische Gegenwart ermöglicht diese Prognose: Dem 7. November 2024 werden neue Amsterdams folgen. Weltweit. Berlins Radikalmuslime bliesen bereits tags darauf zur nächsten Judenjagd.

Nicht aus Dummheit, gar Judenhass oder Mitmenschlichkeit, wurden vor allem Muslime in westliche Länder geholt, sondern in der Hoffnung, die neuen Nächsten schnell funktional und wertebezogen anlernen sowie lebensgewohnheitlich angleichen zu können. So menschenfreundlich wie hinausposaunt war die westliche Willkommenskultur freilich nicht. Quantitativ, doch nicht funktional-qualitativ füllen diese wenig qualifizierten Migranten die demografische Lücke der westlichen Gesellschaften.

Sie werden ökonomisch-funktional, meist für niedere Arbeiten, gebraucht, menschlich erwünscht sind sie, allen Schönrednern zum Trotz, nicht. Und, o Wunder, die Nur-Gebrauchten merken es. Sie suchen den und die Schuldigen, und – wie könnte es anders sein? – sie «wissen» aus der selbst oder von den Eltern erlebten alten Heimat sowie aus dem Koran und der mündlichen Überlieferung, dass hinter dem und den Bösen «die» Juden stecken. Kontrafaktisch ist diese Annahme, denn «die» Juden Europas hielten aufgrund ihrer eigenen Geschichte muslimische Migranten, besonders Flüchtlinge, für Schicksalsgenossen.

Viele der muslimischen Migranten sind bereits neue Staatsbürger, also Wähler. Wieder ermöglicht die Demografie eine Prognose zur Zukunft unserer Demokratie. Aus den vielen muslimischen Wählern von heute werden morgen noch mehr und übermorgen wieder mehr. Wähler entscheiden in Demokratien, und viele Wähler entscheiden mehr.

Politiker, die Mehrheiten anstreben und Wünsche muslimischer Wähler ausschlagen, sind (oder werden?) nicht mehrheitsfähig. Juden- oder gar israelfreundliche Politik rächt sich am Wahltag. Morgen noch mehr als heute. Das bedeutet: Dem heutigen Amsterdam folgen auch deshalb weitere.

Juden wollen nie wieder Opfer sein

So weit rationale Aspekte. Weil der Mensch eher emotional gesteuert ist, obsiegt selbst beim braven Bürger das Gefühl. Und dabei schneiden «die» Juden – seit je aus den verschiedensten Gründen, und man findet immer welche – schlecht ab. Sie gelten, machen wir uns nichts vor, wieder oder immer noch als «anders».

Und ja, die meisten Juden, besonders in Israel, sind «anders», nämlich wehrhaft. Die westeuropäischen Gesellschaften sind gerade diesbezüglich ganz anders programmiert. Hier ist die Gesellschaft strukturell pazifistisch und Wehrhaftigkeit negativ besetzt. Als Folge von Weltkriegen und Holocaust. Auch genau aus diesen Gründen sind «die» Juden anders, also wehrhaft. Sie sagen: «Nie wieder Opfer!» Ihre postchristlichen und postheroischen Mitbürger sagen: «Nie wieder Täter! Direkt oder indirekt!»

Beide Seiten haben die aus ihrer Sicht richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen. Ironie der Geschichte: Gerade deshalb verstehen sie einander nicht. Eine historisch-faktische und moralische Ungeheuerlichkeit. Sie entlastet das schlechte Gewissen. Gestern, heute, morgen. Das schlechte Gewissen wird zusätzlich durch die scheinbar menschenfreundliche Willkommenskultur entlastet: Anders, und eben besser als damals die eigenen Vorfahren unter der Nazi-Fuchtel, nehme man den Anderen, gar Fremden, freundlich auf und schütze ihn vor den Diktatoren seiner Herkunftsregion.

So also rutschen brave Bürger in den Antijudaismus. Dessen heute dominante Variante ist der Antiisraelismus. Weshalb ist Antiisraelismus bzw. Israelkritik antijüdisch? Weil dabei nicht nur die jeweilige Person, Koalition oder Organisation, wie in Demokratien üblich, kritisiert, sondern die Existenzberechtigung des Staates bestritten wird. Netanyahu-Kritik ist keine Israelkritik. Israelkritik ist liquidatorisch, Netanyahu-Kritik geradezu obligatorisch.

Warum (be)trifft Antiisraelismus bzw. Israelkritik die Juden insgesamt? Wo, wenn und solange es Antijudaismus gibt, sind Juden als jüdische Minderheit, also im Staat, gefährdet. In Israel sind sie zwar von aussen gefährdet, doch nicht als Minderheit, denn im jüdischen Staat sind die Juden die Mehrheit. Auch deshalb wäre ein binationaler jüdisch-arabischer Staat die Wiederherstellung der nachweislich meist judenmörderischen Diasporasituation, langfristig würde sie die jüdische Selbstauslöschung bedeuten.

Auch Bildung verhindert keine Judenjagd

Das sieht die Mehrheit in der Welt und im Westen ganz anders. Amsterdam als Chiffre und Israelkritik werden daher bleiben und wiederkommen. Diese These wird durch folgende Tatsachen erhärtet: Der Gaza-Krieg ist welthistorisch weit mehr als ein regionaler Konflikt. Er wird in der nach- bzw. postkolonialen Welt als Kampf der einst Kolonisierten gegen die einstigen Kolonialherren geschildert und deshalb so wahrgenommen. Israel wird dabei als später oder letzter Kolonialist oder als Speerspitze, andere sagen: als Nachhut der Kolonialisten, beschrieben. Das ist zwar historisch-faktisch falsch, doch Wahrnehmung wirkt mehr als Wirklichkeit.

Kolonialismus gilt in der westlichen Welt – zu Recht – und nicht nur, doch ganz besonders bei Linken und Linksliberalen, als absolut verwerflich. Wer hier gegen den einstigen Kolonialismus ist, verdammt folgerichtig und moralisch überzeugend jeglichen faktischen oder kontrafaktisch unterstellten Kolonialismus. Moral in der Politik und Politikbewertung ist eine lobenswerte Urtugend. Doch Moral ohne Wissen führt selbst Moralisten in die Sackgasse.

Mehr und viel Wissen ist allerdings kein Garant für das Verschwinden von Judenhass. Besonders unter den formal Gebildetsten, besonders an Universitäten, fand und findet man überzeugte oder aus Opportunismus mitlaufende Judenhasser. Harvard, Columbia, Oxford, Cambridge, Paris, Berlin. Daraus folgt: Selbst die bisherigen Millionenbeträge für Bildungsprogramme gegen Antisemitismus verhindern keine Judenjagden.

Der Krieg gegen den Westen wird von weiten Teilen des Westens geführt. Aus Selbsthass vieler, besonders linker und linksliberaler Westler. Dabei verbündet sich die West-Linke, meist ideologisch, doch nicht selten auch gewalttätig, mit muslimischen Judenhassern. In Frankreich nennt man diese eigentlich in sich widersprüchliche bzw. antagonistische Allianz «Islamogauchistes».

Nur wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind, wird es kein oder nur selten ein neues Amsterdam geben. Erstens, wenn erkannt wird, dass «die» Juden jeder Gesellschaft funktional nützen. Echte, verinnerlichte, moralische Toleranz gegenüber Juden dürfte unerreichbar bleiben. Funktionale Toleranz liegt im wechselseitigen Interesse, nicht zuletzt im muslimischen. In Europa ebenso wie in der islamischen Welt.

Zweitens wird es kein neues Amsterdam oder deutlich weniger davon geben, wenn die westliche Welt nicht nur über westliche Werte spricht. Entsprechendes Handeln ist zwingend erforderlich. Erst dann werden Leben und Würde des Menschen unantastbar. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», besagt Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes. Das «Ist» steht nur auf dem Papier, es ist ein frommer Wunsch. Der Wunsch wird Wirklichkeit, wenn jenes Ist ohne taktisch-politische Rücksichten durchgesetzt wird und unsere Demokratien nicht nur verbal, sondern wirklich wehrhaft werden.

Dafür muss eine dritte Voraussetzung erfüllt werden: das Ende des antidemokratischen West-Hasses der sogenannten Populisten von rechts sowie des West- und nachkolonialistischen Selbsthasses von Linken und Linksliberalen.

Alle drei Voraussetzungen sind eher fromme Wünsche als realistische Perspektiven. Daraus folgt: Dem 7. November 2024 werden noch viele andere neue Amsterdams folgen.

Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn ist u. a. Autor von «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» und «Wem gehört das Heilige Land?»

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