Die Rede von den drei abrahamitischen Religionen sei ein Täuschungsmanöver, schreibt der Autor Chaim Noll. Die Gleichstellung von Judentum, Christentum und Islam verschleiere das Gewaltpotenzial des Koran.
Die westliche Wahrnehmung des Islam scheint wie gefesselt von Hemmungen und Behinderungen. Darum kommt es uns Europäern gerade recht, dass Lessings Theaterstück «Nathan der Weise» vermeintlich gute Gründe gibt, sich gar nicht mehr eingehend mit dem Islam zu beschäftigen. Im Kern des Theaterstücks steht die sogenannte Ringparabel. Sie erzählt das seit Jahrhunderten bekannte Gleichnis mehrerer gleicher Gegenstände – bei Lessing sind es Ringe –, von denen einer der echte und wahre sein soll. Doch stellt sich am Ende heraus, dass nicht mehr zu eruieren ist, welcher von den dreien der wahre ist.
In einem allgemein-philosophischen Sinn wird damit der Anspruch einer absoluten, allgemeingültigen Wahrheit zugunsten mehrerer Wahrheiten aufgegeben. Da die Parabel im Lauf der Jahrhunderte durch viele Hände ging, wurde sie immer glatter und nichtssagender. Bei Lessing heisst es dann: «Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht erweislich . . . Fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube.»
In diesem verallgemeinerten Sinn sehen Ägyptologen bereits im altägyptischen Isis-Osiris-Mythos den Ursprung der Ringparabel. Über die Jahrhunderte erreicht das Motiv 1349 Boccaccios «Decamerone». Hier symbolisieren die drei Ringe bereits Judentum, Christentum und Islam. Lessing beruft sich ausdrücklich auf die Fassung des Boccaccio, in der die drei monotheistischen Religionen mit drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen verglichen werden.
Da es keine erkennbaren Unterschiede gebe, so die Logik dieser Erzählung, könne es sich bei den in ihrem Namen untereinander ausgefochtenen Kontroversen, Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse oder Vorwände handeln, die – im Sinne der neuen, aufklärerischen Vernunft – durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.
Entwertung der Religionen
Lessings Ringparabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen. Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die «drei abrahamitischen Religionen» zu bezeichnen. Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht.
Es passte ins Konzept der Aufklärer, die drei monotheistischen Religionen durch diese Verallgemeinerung insgeheim zu entwerten. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die originale, ursprüngliche sein. Und da somit keine der drei Religionen für sich die Echtheit beanspruchen kann, darf sich der moderne Mensch getrost von ihnen abwenden und es ohne sie versuchen.
Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Es ist schon deshalb unzutreffend, weil bei den drei infrage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit eine Originalität ihrer Ideen feststellbar ist.
Das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war Jude –, während der Islam eine spätere, am Rand der jüdisch-christlichen Sphäre entstandene Religion ist, deren Offenbarungsschrift, der Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient, ihre Ideen übernimmt und zugleich deren irdischen Vertreter bekämpft.
Der Koran, ein Plagiat
Abraham Geiger, der Begründer des deutschen Reformjudentums, hat in seiner 1833 in Bonn veröffentlichten Doktorarbeit nachgewiesen, dass etwa achtzig Prozent des Textmaterials des Koran – Erzählungen, Gleichnisse und religiöse Konzepte – aus der Bibel übernommen sind. Daher nennt der deutsch-jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig in seinem 1921 erschienenen Buch «Der Stern der Erlösung» den Koran unverblümt ein «welthistorisches Plagiat».
Plagiiert wird auch das Christentum, indem auch Figuren des Neuen Testaments im Koran erscheinen, Jesus, Johannes oder Maria, als wären sie Teil der Offenbarung Mohammeds. Maria ist sogar die einzige namentlich erwähnte Frau im Koran, da sie durch die unbefleckte Empfängnis als Einzige von der im Koran erklärten «Unreinheit» dieses Geschlechts ausgenommen ist.
Die über Jahrtausende auseinanderliegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, die Schlüssigkeit der Ringparabel zu bezweifeln. Die aus der Parabel abgeleitete These von der spirituellen Gleichwertigkeit der drei abrahamitischen Religionen ist jedenfalls nicht haltbar. Und die heute in Europa verbreitete Annahme einer Gleichwertigkeit oder Gleichheit ist durchaus fadenscheinig. Denn sie ist ein bequemer Vorwand, sich schon gar nicht mehr ernsthaft mit den drei Religionen und ihren Unterschieden zu beschäftigen.
In der Version des Boccaccio, lange vor Lessings bedeutungsschwerer, pseudophilosophischer Wiedergabe im «Nathan», war die Ringparabel ein listiges «Geschichtchen» (im italienischen Original «una novelletta»), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin zu entziehen suchte. Die in der Not und halb im Scherz erzählte «novelletta» aus Boccaccios Unterhaltungsroman wurde über den Umweg des deutschen Aufklärers Lessing zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.
Davon profitiert heute vor allem der Islam. Schon der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt sah in seinem berühmten Buch «Die Kultur der Renaissance in Italien» (1860) die Ringparabel als «Ausdruck der Indifferenz» gegenüber der für Europa bestehenden Bedrohung durch das islamisch-türkische Reich.
Mit dem Menschenbild der Renaissance, schrieb Burckhardt, «hing dann die Toleranz und Indifferenz zusammen, womit man zunächst dem Mohammedanismus begegnete (. . .) Der wahrste und bezeichnendste Ausdruck dieser Indifferenz ist die berühmte Geschichte von den drei Ringen, welche unter anderem Lessing seinem Nathan in den Mund legte (. . .). Der geheime Vorbehalt, der ihr zugrunde liegt, (ist) der Deismus.» Womit Burckhardt atheistische Tendenzen der Aufklärung meinte, die sich gegen das Christentum richteten.
Irreführende Begrifflichkeit
Heute steht Lessings Ringparabel jedem differenzierten Herangehen an die drei monotheistischen Religionen im Wege. Sie erweist sich als fatal falsche Metapher. Das Schlagwort von den drei abrahamitischen Weltreligionen blockiert eine genauere Betrachtung des «Religiösen», die im Vorurteil einer falschen Verallgemeinerung befangen bleibt. Wer sich die Mühe macht, die Grundlagenschriften dieser drei religiösen Konzepte, Bibel und Koran, genauer zu studieren, ist verblüfft über ihre Unvereinbarkeit.
Die Genealogie der Schriften ist eindeutig: Der erst im sechsten Jahrhundert aufkommende Islam beutet das spirituelle Potenzial der beiden älteren Religionen systematisch aus, usurpiert ihre Gedanken als seine eigenen und bezichtigt ihre bisherigen Vertreter als Verräter der wahren Offenbarung. Aus ihrer Ablehnung leitet der Koran die Notwendigkeit ihrer Verfolgung und Vernichtung ab. Wodurch auch das Verhältnis zum Krieg ein ganz anderes ist als im Judentum und im Christentum: Er wird nicht, wie dort, ambivalent wahrgenommen, als unvermeidbares Übel, sondern als die eigentliche Erfüllung.
Der Islam ist im Kern eine Religion des Krieges, da er seinen Anhängern bis zur völligen islamischen Befriedung der Welt den Glaubenskrieg gebietet. Entsprechend ist das Gottesbild des Koran mit dem der Bibel unvereinbar: Es weckt die Vorstellung eines Kämpfers und Kriegers. Und das Menschenbild ist nicht mehr geprägt von der «Gleichheit aller Geschöpfe» vor Gott (wie Psalm 145,9 formuliert), sondern von einer unerbittlichen Hierarchie: hier die «Übermenschen», die gläubigen Muslime, dort die Verworfenen, Juden, Christen und «Ungläubige», zu deren Verfolgung und Vernichtung jedes Mittel erlaubt ist.
Die bedrückende Bilanz eines solchen Textvergleichs ist inzwischen im westlichen Bewusstsein angekommen. Vor allem säkulare Muslime weisen auf das Gewaltpotenzial dieses Religionstextes hin. Die Lektüre des Koran enthüllt ein Ausmass an Gewalt, das ein westlicher Leser in einer religiösen Grundlagenschrift nicht für möglich hält. Welche Hoffnung auf Frieden kann es geben, wenn der anderen Seite durch ihren religiösen Grundlagentext der ständige Krieg geboten ist? Sind wir dazu verdammt, selbst endlos im Kriegszustand zu leben, um uns der Glaubenskrieger zu erwehren?
Kommerzielle Interessen
Allerdings ist das Konzept von den drei abrahamitischen Religionen immer wieder politisch hilfreich als Brückenschlag zwischen Partnern verschiedener Glaubensrichtungen, um die bestehenden Unvereinbarkeiten und von Extremisten ausgenutzten Feindseligkeiten im Sinne gedeihlicher Geschäfte zu verwischen.
Wenn im reichen Öl-Emirat Abu Dhabi neuerdings wieder eine Kirche und eine Synagoge gebaut wurden, geschah es unter Berufung auf die Ringparabel und das Konzept der drei gleichwertigen abrahamitischen Religionen. Die beiden noch vor kurzem undenkbaren Neubauten stehen neben der Imam-al-Tayeb-Moschee in einem gut bewachten Areal, nicht weit vom Palast des Emirs. Der Name dieses viel besuchten, viel bestaunten Ensembles lautet: «The Abrahamic Family House.»
Auch die 2020 geschlossenen «Abraham Accords», Staatsverträge zwischen Israel und seinen früheren arabischen Feinden, bemühen das fragwürdige Gleichnis. Doch die Ringparabel verhüllt die Wahrheit. Man nimmt es aus opportunistischen Gründen in Kauf, weil die Wahrheit dem Handel im Wege stehen könnte.
Chaim Noll, geboren 1954 in Berlin, wanderte 1995 mit seiner Familie nach Israel aus. Er unterrichtete an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva und verfasste zahlreiche Bücher.