Montag, September 16

Ein westliches Lamento will, dass sich der Globale Süden vom Westen ab und dem autokratischen Modell von China zuwende. Tatsächlich wachsen im Süden die Autokratien momentan stärker als die Demokratien. Aber der Blick auf die Autokratien im Globalen Süden zeigt: Sie sind nicht in der Lage, nachhaltiges Wachstum zu schaffen.

Das ist keine wissenschaftliche Abhandlung, also wird auf klare Definitionen von Globalem Süden und Westen verzichtet. Mit einer Ausnahme: Unter einem normalen Präsidenten wie Joe Biden oder Kamala Harris gehören die USA als Führungsmacht zum Westen, unter Donald Trump ist das infrage gestellt.

Trumps erster Aussenminister, Rex Tillerson, hat seinen Präsidenten als «infantilen Idioten» («fucking moron») bezeichnet; ein notorischer Lügner, verurteilter Straftäter und begnadeter Massenverführer ist Trump auf jeden Fall. Wird er im November erneut zum Präsidenten gewählt, anstatt seine wohlverdiente Gefängnisstrafe anzutreten, drohen die USA aus dem westlichen Bündnis von Demokratien auszuscheiden. Die in der Wirtschaft verbreitete Haltung, nicht nur in den USA, bei einem Präsidenten Trump müsse man sich wohl ab und zu die Nase zuhalten, grundsätzlich sei er aber good for business ist brandgefährlich.

Wie seine erste Amtszeit und der Putschversuch nach seiner Nichtwiederwahl gezeigt haben, plant er anfänglich eine unfinanzierbare Geste in Form von Steuerkürzungen zugunsten der Reichen und geht danach zum Umbau der USA zu einem autoritären Unrechtsstaat über. Sein wirtschaftlicher Zauberlehrling Robert Lighthizer hat zudem bereits klargemacht, dass er die Weltwirtschaft umbauen wird. Das wäre das Ende des bisherigen Systems von globalem Freihandel, von dem nicht zuletzt die Schweiz enorm profitiert hat.

In Umkehrung der traditionellen Vorstellung der USA und seinem höchsten Vertreter als demokratische Lichtgestalt des Westens, strebt Trump nach autokratischer Machtfülle. Am liebsten ist ihm eine bedingungslose Verehrung, etwa nach dem Vorbild von Narendra Modi in Indien. Trump ist ja on record, dass er den Nordkoreaner Kim Jong-un um seine Allmacht beneidet.

Erbsünde Kolonialismus

Der europäische Kolonialismus stellt die Erbsünde dar; sie lastet auf den Beziehungen zwischen dem Westen und dem Globalen Süden. Natürlich ist das nun Geschichte, aber noch immer präsent in vielen Teilen der Welt. In Südafrika etwa endete der weisse Kolonialismus erst 1994 mit dem Verschwinden des Apartheid-Regimes. Ideologische und materielle Unterstützung der anti-kolonialen Freiheitsbewegungen durch den damaligen kommunistischen Osten von China über die Sowjetunion und Osteuropa bis zu Kuba ist unvergessen. Damit erklären sich sowohl die achselzuckende Toleranz im Süden gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine als auch andauernde Waffenlieferungen von Russland in den Süden, so etwa nach Indien.

Das westliche Modell des Kapitalismus hat sich seit der Unabhängigkeit des Südens mitunter von der unschönen Seite gezeigt. Exemplarisch dafür stehen Abbau und Weiterverwertung der im Süden reichlich vorkommenden Rohstoffe. Das de-facto Preismonopol der Handvoll grosser Trader – heute oft gleichzeitig auch die grössten Produzenten, man denke etwa an die Übernahme von Xstrata durch Glencore – gehört mit zu den schlimmen Auswüchsen des westlichen Kapitalismus. Dass hier die Schweiz als wichtigste Drehscheibe des Rohwarenhandels zuoberst auf der Liste der Verantwortlichen steht, ist offensichtlich.

Die Konzernverantwortungsinitiative wäre ein sichtbares Zeichen gewesen, dass die offizielle Schweiz bereit ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Doch einmal mehr hat sich Helvetien um eine internationale Verantwortung gedrückt. Und einmal mehr wird sie dieser nun via das EU-Lieferkettengesetz nolens volens gerecht werden müssen.

Die lokalen Machthaber im Süden haben sich als gelehrige Schüler ihrer ehemaligen Kolonialherren erwiesen. Sie haben die Methoden rücksichtsloser Ausbeutung und Korruption nahtlos übernommen. Nach der Unabhängigkeit Indonesiens lud 1955 Sukarno Nehru den chinesischen Parteiführer Tschu En Lai, den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, den späteren Präsidenten Ghanas, Kwame Nkrumah, den birmanischen Premierminister U Nu, Norodom Sihanouk aus Kambodscha sowie viele andere zur ersten Konferenz des Globalen Südens ein. Diese erste Generation von Unabhängigkeitskämpfern der legendären Konferenz von Bandung hat längst einer Schicht von lokalen Machthabern Platz gemacht, die sich primär der rücksichtslosen Abschöpfung von nationalen Reichtümern für sich selbst widmet.

Fünf Autokratien und ihr Störpotenzial

Es dürfte ein weltgeschichtlicher Zufall sein, dass sich aktuell im Globalen Süden gleich fünf Autokratien breit machen: China, Russland, Indien, Iran und die Türkei. Allen fünf ist gemeinsam, dass sie für ihr Modell und ihren Führer Alleinvertretungsanspruch fordern.

Wladimir Putin will ein mythisches Abendland vor westlichem Zerfall schützen. Xi Jinping glaubt, dass sein kollektivistisches System von Staatskapitalismus dem westlichen System von Eigenverantwortung und Rechtsstaat überlegen sei. Modi will als hinduistische Lichtgestalt Indien in die Position einer globalen Supermacht führen. Die Türkei und Iran fordern jeweils für sich die Führungsposition der islamischen Welt, der Kalif am Bosporus aus Tradition, der iranische Gottesstaat als einzig wirkliche Präsenz Allahs auf Erden.

Recep Tayyip Erdogan wird dieses Ziel nicht erreichen, seit den letzten Wahlen hat er nun ernsthafte laizistische Konkurrenz im eigenen Lande. Mit ihrer geografischen Lage ist die Türkei unter Erdogan allerdings in der Lage, immer wieder als Störfaktor zwischen dem Westen und dem Süden aufzutreten. Stellvertretend dafür steht die angestrebte Mitgliedschaft der Türkei in den Brics auf der einen Seite und ihre Zugehörigkeit zur Nato auf der anderen.

Noch weniger Erfolg werden die Mullahs in Teheran haben, als persische Schiiten sind sie bei den arabischen Sunniten tief verhasst. Auch der asiatische Islam folgt mehrheitlich der Sunna; die Trennung zwischen Staat und Religion bleibt dort grundsätzlich erhalten. Die wild card des Iran stellen jedoch Nuklearwaffen dar. Wenn den Mullahs der Griff dazu gelingt, könnte sich die Geopolitik im Nahen Osten grundsätzlich verändern: Israels Existenz wäre gefährdet, Saudi-Arabien würde ebenfalls eigene Nuklearwaffen anschaffen und die Welt wäre um einen weiteren Konfliktherd in dieser notorisch unruhigen Region reicher.

Putin setzt seine letzten zwei Trümpfe ein – Waffen und Öl –, um für seinen Aggressionskrieg in der Ukraine internationale Unterstützung zu erhalten. Damit schafft er weitere Krisensituationen, etwa in der Sahelzone Afrikas, wo sich die Wagner-Gruppe breit macht. Sein eigentliches Ziel, die Wiederherstellung eines russischen Kolonialreiches in Osteuropa wird er aber nicht erreichen. Dass er in Nordkorea nun auf den Knien um mehr Munition betteln muss – was sich der dortige Potentat Kim zweifelsohne mit der Lieferung von Militärtechnologie entgelten lässt –, sagt viel aus über ein Regime, dass sich im Inland und international nur mit offener Gewalt aufrechterhalten lässt.

Indien und China melden Anspruch an

Der indische Anspruch, Führer und Sprachrohr des Globalen Südens zu sein, ist ernster zu nehmen. Unter Modis autokratischer Politik hat das Land tatsächlich hohe Wachstumsraten aufzuweisen. Trotz all seiner Bemühungen hat Modi aber die indische Demokratie nicht auszuhebeln vermocht, was sich anlässlich der eben durchgeführten Kongresswahlen klar gezeigt hat. Teile seiner eigenen hinduistischen Stammwählerschaft haben ihn desavouiert, er wird künftig mit einer Koalition regieren müssen. Diese Wähler haben klar zum Ausdruck gebracht, dass ihnen wirtschaftlicher Fortschritt, der ihre eigenen Lebensumstände verbessert, wichtiger ist als Modis hinduistische Grossmachtträume, verbunden mit rücksichtsloser Verfolgung der indischen Muslime.

Chinas Alleinvertretungsanspruch des Globalen Südens ist bei weitem die grösste Herausforderung für den Westen. Via die verschiedenen Stränge der neuen Seidenstrasse (Belt and Road Initiative, BRI) für Infrastruktur und durch bilaterale Zahlungsbilanzhilfe hat sich Beijing eine breite Anhängerschaft im Globalen Süden geschaffen.

Hier zeigt sich, dass Beijings Hilfe – chinesisch finanzierte und durch Chinesen gebaute Infrastruktur – zu Abhängigkeiten und Überschuldung führt. Solche Hilfe wird aber von einer dünnen Oberschicht in den Ländern des Globalen Südens verlangt, die von den Projekten direkt und indirekt durch Korruption davon profitiert. Für die grosse Masse entsteht derweil ein Verlust, weil der Schuldendienst für chinesische Darlehen Löcher in die nationalen Budgets reisst.

Interessanterweise stammt ein weiterer Beweis für den Misserfolg des Alleinvertretungsanspruchs von Xi Jinping aus der Welt der globalen Verbrechensbekämpfung: Vor kurzem wurde unter der Führung der amerikanischen DEA (Drug Enforcement Agency) eine gigantische weltweite Geldwaschmaschine unschädlich gemacht. Schmutziges Drogengeld aus Südamerika wurde via chinesische Schattenbanken gewaschen, indem reiche Chinesen diese Dollars kauften, um ihre Vermögen ausser Landes zu schaffen. Wenn diese ihrer eigenen Regierung nicht trauen, wie das auch der Exodus von chinesischen Fachleuten nach Südostasien zeigt, dann bedeutet das, dass Xi Jinpings Slogan «Wohlstand für alle» tatsächlich darauf ausgerichtet ist, die alleinige Macht der KP zementieren soll.

Der Westen gewinnt, wenn…

Erstes Gebot im Verhalten gegenüber Wirtschaftspartnern im Süden ist somit Transparenz und Ehrlichkeit. Wenn Geschäfte nur dank Korruption möglich erscheinen, sollte das den Rückzug davon bedeuten.

Volkswirtschaftlich erscheint evident, dass rein zahlenmässiges Wachstum nicht genügt. Die Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft sind zentral. Ein Beispiel dazu: Die konservative Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft hat ihre jährlich vergebene Auszeichnung für kapitalistisches Wirtschaften nach Lehrbuch eben dem Präsidenten Argentiniens, Javier Milei, verliehen. Dieser saniert die Staatsfinanzen tatsächlich, aber er tut es auf dem Buckel der Bevölkerung.

Der Schreibende hat anlässlich eines Besuches in Buenos Aires selbst erlebt, was das etwa für die Bereiche Bildung und Kultur bedeutet. Museen sind zwar offen, aber die eigentlich angekündigte Ausstellung ist nicht zu sehen, weil sie aus Geldmangel nicht zusammengestellt werden konnte. Die Erinnerungsstätte Esma, welche die Untaten des faschistischen Militärregimes 1975–83 dokumentiert, ist von der Schliessung bedroht, weil Milei ihr die finanzielle Unterstützung gestrichen hat und weil er sich die Unterstützung des Militärs sichern will. Eine solche Preisverleihung zeigt beispielhaft, wie die Beziehungen des Westens zum Globalen Süden nicht gestaltet werden sollten.

Letztlich liegt es an den nationalen Eliten, wie sie die Zukunft ihrer Länder gestalten. Sie entscheiden, ob bei der Nutzung nationaler Reichtümer die schnelle Bereicherung von ihnen und ihrer Familie im Vordergrund steht oder die Wohlfahrt der Gesellschaft. Wenn offensichtlich die Wahl auf die erste Alternative gefallen ist, dann darf das von Akteuren aus dem Westen aber keinesfalls noch unterstützt werden. Es bringt das eigene Unternehmen in Gefahr und dennoch sind solche Beispiele häufig, etwa Finanzgeschäfte der Credit Suisse: Es entspricht einer letztlich wohl gerechten Logik, dass dubiose Finanzierungen in Mozambique (Stichwort: Tuna Boat-Skandal) und Angola (Präsidententochter Isabel dos Santos) mit zum Untergang der Bank beigetragen haben.

Wenn in einem Land also keine Aussicht auf einen nachhaltigen und breit abgestützten wirtschaftlichen Erfolg besteht, lohnt es sich in der Regel für westliche Unternehmen nicht, dort Geschäftsrisiken einzugehen. Investitionen in nicht autoritär regierte politische Gebilde versprechen einen besseren Geschäftserfolg, zudem stärken sie diese Länder zusätzlich – und damit das westlich freiheitliche Wirtschaften insgesamt.

Daniel Woker

Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Australien, Singapur und Kuwait. Davor war er erster Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), mit dem Titel eines Botschafters. Frühere diplomatische Posten umfassten Paris (Ministre Conseiller), Stockholm (stv. Missionschef) sowie Wirtschaftsrat an der Uno-Mission in New York. Heute arbeitet er als Spezialist für Geopolitik und Strategie, mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell die ASEAN und Australien, über die arabische Halbinsel und die Entwicklung der EU. Zusammen mit dem früheren Schweizer Diplomaten Philippe Welti hat Woker das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geopolitische Due Diligence spezialisiert.

Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität

Die beiden früheren Schweizer Botschafter Daniel Woker und Philippe Welti – beide auch freie Autoren im Team von The Market – haben in Zusammenarbeit mit The Market ein neues Smartbook verfasst: Geopolitik, die Beschäftigung mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, steht am Beginn jedes Auslandsgeschäfts. Die beiden Autoren, die in ihrer diplomatischen Arbeit unter anderem in Iran, Indien, Singapur und Australien stationiert waren, geben einen kenntnisreichen Überblick über die politischen, strategischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen. Das Smartbook «Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität» kann im NZZ-Shop zu einem Preis von 33 Fr. (inkl. Versandkosten) bestellt werden.
Exit mobile version