Freitag, Oktober 25

Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen ist seit Mitte September signifikant gestiegen. Was signalisiert der Bondmarkt mit dieser Entwicklung? Drei Szenarien bieten sich an: The Good, The Bad & The Ugly.

«All roads lead to inflation.»
Paul Tudor Jones, amerik. Hedge-Fund-Manager (*1954)

Die Nervosität an den Finanzmärkten steigt. Nach einer mehrwöchigen Gewinnserie legen der MSCI World und der S&P 500 eine Pause ein.

In der laufenden Saison der Quartalsabschlüsse wiederholt sich das Muster des bisherigen Jahres: Zahlreiche Unternehmen aus unterschiedlichen Sektoren – beispielsweise IBM, LVMH, Kering, Ems-Chemie, Sika, U-Blox, Bechtle – berichten über eine schleppende Nachfrage und je nach Branche über einen fortgesetzten Lagerabbau bei ihren Kunden. Wem es dagegen gelingt, die Erwartungen zu übertreffen – Tesla, Hermès oder SAP –, erntet Applaus.

In der kommenden Woche intensiviert sich das Konzert der Quartalszahlen, wenn in den USA unter vielen anderen Alphabet, Visa, Caterpillar, Meta, Microsoft, Mastercard, Amazon und Apple ihre Zwischenberichte vorlegen. In der Schweiz stehen unter anderen Novartis, Straumann, UBS und Geberit auf dem Programm, in Deutschland dominieren die Zahlen von Adidas, BASF und Volkswagen die Agenda.

Immer deutlicher am Horizont zeichnen sich derweil die Wahlen in den USA ab, die ab dem 5. November die Welt in Atem halten werden. Im «The Big Picture Live»-Webinar von dieser Woche haben wir die fünf Szenarien für den Wahlausgang beleuchtet und sind der Frage nachgegangen, wie die Finanzmärkte darauf reagieren könnten. Sie finden die Video-Aufzeichnung des Webinars hier.

Die wichtigste Entwicklung spielt sich derzeit allerdings nicht an den Aktien-, sondern an den Bondmärkten ab. Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes, der wichtigste Preis der Welt, ist seit Mitte September von 3,6 auf zeitweise über 4,2% gestiegen.

60 Basispunkte (Bp) in wenig mehr als einem Monat; das ist ein überaus heftiger Zinssprung, den Investoren nicht ignorieren können. Was signalisiert der Bondmarkt damit? Und was bedeutet es für die Aktienmärkte? Diesen Fragen widmet sich das dieswöchige «Big Picture».

Beginnen wir mit einer Bestandesaufnahme. Am 18. September initiierte die US-Notenbank (Fed) den Zinssenkungszyklus mit einem «Jumbo-Schritt» von 50 Bp. Die Senkung der Leitzinsen geschah unter dem Eindruck einer sich möglicherweise zu rasch abkühlenden US-Wirtschaft, nachdem der monatliche Arbeitsmarktbericht im August schwach ausgefallen war.

Praktisch zeitgleich mit der Zinssenkung des Fed markierten die langfristigen Zinsen, gemessen an der Rendite zehnjähriger Treasury Notes, allerdings ihren Wendepunkt. Seither sind sie gestiegen. Wie einzigartig dieses Muster war, zeigt der Chicagoer Marktbeobachter Jim Bianco anhand dieser Grafik:

In keinem der letzten sechs Zinssenkungszyklen des Fed seit 1989 sind die Renditen zehnjähriger Treasuries nach dem ersten Zinsschritt so deutlich gestiegen wie heute (schwarze Kurve). In vier von sechs Zyklen (1989, 2001, 2007, 2019) sind die langfristigen Zinsen über die nächsten dreissig Handelstage gesunken, in zwei Fällen (1995, 1998) sind sie gestiegen, wenngleich weniger heftig als heute.

Aufschlussreich ist auch der Blick auf die Struktur der Zinskurve. Sowohl die Rendite zwei- wie auch die Rendite zehnjähriger Treasuries ist gestiegen, aber am langen Ende der Kurve fiel der Zinsanstieg deutlicher aus. Die Zinskurve ist damit steiler geworden, aber im Gegensatz zur Periode zwischen Juni und September handelt es sich dabei nicht mehr um einen Bull Steepener, sondern um einen Bear Steepener (an dieser Stelle haben wir die Fauna der Zinskurve im Detail beschrieben).

Mit diesem Zinsanstieg einher ging eine massive Erhöhung der Volatilität am Bondmarkt. Der MOVE Index, der die von den Optionsmärkten implizierte Volatilität von US-Staatsanleihen misst, ist auf den höchsten Stand seit Ende 2023 gestiegen.

Das hat Auswirkungen auf die breiten Finanzmärkte, denn eine erhöhte Volatilität am Treasury-Markt kommt über verschiedene Transmissionsmechanismen für das Finanzsystem einem Entzug von Liquidität gleich.

Aber was signalisiert der Zinsanstieg überhaupt? Drei sich gegenseitig nicht ausschliessende Erklärungen bieten sich an, wir nennen sie The Good, The Bad & The Ugly.

Vergessen Sie die Rezession. Sie kommt nicht. Zumindest nicht in den nächsten zwölf Monaten. Genau wie bereits 2023 und 2024 wird sich die US- und damit die Weltwirtschaft auch 2025 weigern, in eine Kontraktion zu fallen.

Teile des Industriesektors – in Europa betrifft es besonders ausgeprägt die Automobilbranche – stecken zwar durchaus in einem rezessiven Zustand, doch für weite Teile des Dienstleistungssektors gilt das nicht. Der von S&P Global Services erhobene Einkaufsmanagerindex (Purchasing Managers Index, PMI) des US-Dienstleistungssektors ist im Oktober stärker als erwartet auf 55,3 gestiegen und signalisiert damit eine stabile Expansion.

Der Konsum in den USA, das zeigten die in der Vorwoche publizierten Daten zu den Detailhandelsverkäufen, hält sich robust. Seit mehr als einem Jahr steigen die Löhne im Land stärker als die Inflationsrate, was bedeutet, dass die realen Einkommen der Haushalte wachsen. Der Arbeitsmarkt zeigt sich ebenfalls wieder von seiner stärkeren Seite; die wöchentlich publizierten Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung sind nach den durch die Hurrikane in Florida verursachten Verzerrungen wieder gesunken.

Den nächsten Anhaltspunkt zur Verfassung des Arbeitsmarktes erhalten die Märkte am 1. November mit dem Monatsbericht für Oktober.

Der GDPNow-Echtzeitindikator der Federal Reserve Bank of Atlanta ist seit Ende August laufend gestiegen und zeigt für das dritte Quartal ein reales Wirtschaftswachstum von 3,3% an. Von Abschwung keine Spur.

Der Citi Economic Surprise Index – er misst, ob die publizierten Konjunkturdaten die Erwartungen der Ökonomen übertreffen oder verfehlen – liegt seit Anfang Oktober wieder im positiven Bereich. Die US-Wirtschaft hält sich besser als erwartet.

In der Einschätzung der professionellen Fondsmanager ist die Gefahr einer Rezession weit in den Hintergrund gerückt. Gemäss der monatlichen Fondsmanagerumfrage von Bank of America rechnen nur noch 8% der Anlageprofis in den nächsten zwölf Monaten mit einer Rezession (rote Fläche, «hard landing»). Der weitaus grösste Teil der Befragten rechnet mit einer sanften Landung, aber auch dem Szenario «no landing» – eine Beschleunigung der Konjunktur – wird wieder grössere Wahrscheinlichkeit eingeräumt.

Was hat das mit den Bondmärkten zu tun?

Das lange Ende der Zinskurve – für unsere Zwecke fokussieren wir uns auf die Rendite zehnjähriger Treasuries – spiegelt die Erwartungen der Märkte an das nominale Wirtschaftswachstum. Der Zinsanstieg seit Mitte September könnte also nichts anderes bedeuten, als dass die Märkte ihre Furcht vor einer Rezession abgelegt haben und von einer Beschleunigung des realen Wachstums ausgehen. Für diese These spricht auch, dass der Zinsanstieg von einer signifikanten Erstarkung des Dollars begleitet war (mehr zur US-Währung später).

Dieses Szenario ist grundsätzlich positiv für den Aktienmarkt, denn mit steigendem Wachstum expandieren auch die Unternehmensgewinne.

Allerdings hat die Sache einen Haken: Das lange Ende der Zinskurve spiegelt, wie beschrieben, die Erwartungen der Märkte an das nominale Wirtschaftswachstum. Dieses setzt sich zusammen aus dem realen Wachstum plus der Inflation. Das bringt uns zum zweiten Szenario.

Mission accomplished, die Inflation ist besiegt. Das ist implizit die Ansage des Fed. Spätestens seit der Rede von Fed-Chef Jerome Powell am Notenbankersymposium in Jackson Hole von Ende August ist klar, dass sich die Reaktionsfunktion des Fed geändert hat. Oberste Priorität hat nicht mehr die Bekämpfung der Inflation, sondern die Verhinderung einer weiteren Abkühlung am Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zinssenkung vom 18. September zu sehen.

Das mag sinnvoll erscheinen. Die Inflationsrate, mit und ohne Energie- und Nahrungsmittel, nähert sich allmählich dem Ziel von 2%.

Aber ist das Biest wirklich besiegt?

In den Dienstleistungspreisen, abzulesen etwa an der «Supercore»-Inflationsrate von 4,3%, zeigt sich weiterhin ein hartnäckiger Preisdruck.

Grosse Gewerkschaften, beispielsweise in der Automobil- und der Transportindustrie, haben dicke Lohnerhöhungspakete verhandelt, die die Saläre noch über Jahre weiter steigen lassen werden. Die streikende Belegschaft des Flugzeug- und Rüstungsriesen Boeing hat eine 35%-Lohnerhöhung über vier Jahre abgelehnt und verlangt mehr. Das spricht nicht für einen Arbeitsmarkt, der in absehbarer Zeit für weniger Inflationsdruck sorgt.

Sollte Donald Trump am 20. Januar 2025 ins Weisse Haus einziehen, dürfte er zudem seine angedrohte Erhöhung der Importzölle umsetzen, was für die Konsumentenpreise in Amerika ebenfalls inflationär wirken wird.

Das ist daher die zweite Variante: Der Bondmarkt signalisiert mit dem Zinsanstieg, dass er eine Rückkehr der Inflation erwartet. Das lässt sich teilweise quantifizieren: Die vom Markt induzierten Inflationserwartungen, abzulesen an der Renditedifferenz zwischen nominalen und inflationsgeschützten US-Staatsanleihen, sind seit Mitte September um rund 30 Basispunkte gestiegen.

Die historische Parallele dazu bieten die Siebzigerjahre. Damals lockerte das Fed unter der Leitung von Arthur F. Burns die geldpolitischen Zügel jeweils zu früh, was dazu führte, dass das Inflationsfieber sofort wieder aufflammte.

Dieses Szenario ist weit gefährlicher für den Aktienmarkt. Zwar bedeutet steigende Inflation auch wachsende Unternehmensgewinne, aber sie birgt die Gefahr, dass das Fed seinen Zinssenkungszyklus abbrechen muss. Sobald die Inflationserwartungen zu stark steigen, könnte sich Powell zu einer Kehrtwende gezwungen sehen, die Geldpolitik abermals zu straffen. Das wäre Gift für den Aktienmarkt.

Die beiden erstgenannten Szenarien arbeiten mit der Hypothese, dass der Bondmarkt eine Reflation der US-Wirtschaft sieht, entweder über reales («The Good») oder über nominales, inflationäres Wachstum («The Bad»). Es gibt aber noch ein drittes Szenario; eines, das nicht auf den Erwartungen bezüglich des künftigen Wachstums, sondern auf dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage am Treasury-Markt basiert.

Simpel gesagt: Der Bondmarkt könnte zum Schluss kommen, dass die Staatsfinanzen der USA aus dem Lot geraten sind und Investoren nur noch gegen eine erhöhte Prämie bereit sind, Treasuries mit langer Laufzeit zu kaufen.

Im per Ende September abgeschlossenen Fiskaljahr betrug das Haushaltsdefizit der USA auf Bundesebene 6,4%. Nie ausserhalb der Jahre während der Covid-Pandemie, der globalen Finanzkrise von 2008, der beiden Weltkriege und des Bürgerkriegs war das Defizit der Vereinigten Staaten grösser als im Jahr 2024. In einem Zustand, in dem nahezu Vollbeschäftigung herrscht, ist das ein abnormal hoher Wert.

Allein für die Bedienung der Zinslast musste das Schatzamt im abgelaufenen Fiskaljahr 882 Mrd. $ ausgeben. Das ist mehr als für den Verteidigungsetat (820 Mrd.). Der Zinsdienst beläuft sich derzeit auf leicht mehr als 3% des BIP; das ist der höchste Wert seit 1996.

Besserung ist nicht in Sicht, auch im neuen Fiskaljahr ist mit einem Budgetdefizit von annähernd 2 Bio. $ zu rechnen. Hinzu kommt, dass innerhalb der nächsten zwölf Monate fällig werdende Treasuries im Volumen von gut 9 Bio. $ refinanziert werden müssen, wie Christopher Wood, Chefstratege des US-Brokerhauses Jefferies, vorrechnet:

Das bedeutet, dass der Bondmarkt über die kommenden zwölf Monate mehr als 11 Bio. $ an neuen Treasuries absorbieren muss. Das ist teilweise die Folge der Finanzierungspolitik der amtierenden Finanzministerin Janet Yellen: Unter ihrer Führung hat das Schatzamt in den vergangenen Monaten immer mehr kurzfristige Staatsanleihen (Bills) ausgegeben, um die Auktionen mit langfristigen Bonds zu schonen. Effekt dieser Politik ist aber, dass jeden Monat ein enormes Volumen an fälligen Treasuries refinanziert werden muss.

Hier kommen als zusätzliche Komponente die Präsidentschaftswahlen ins Spiel. Im Verlauf der vergangenen Wochen haben sich die Märkte zunehmend mit dem Szenario eines Red Sweep befasst: Trump könnte Präsident werden und seine Republikanische Partei beide Kongresskammern beherrschen. In diesem Fall hätte Trump freie Fahrt, um Steuern zu senken und die staatlichen Ausgaben zu erhöhen – was das Budgetdefizit und die Verschuldung noch weiter anheizen würde.

Eine ungeschminkte Einschätzung zur Arithmetik der Staatsfinanzen gibt der Hedge-Fund-Manager Paul Tudor Jones in diesem Interview mit CNBC ab:

Paul Tudor Jones: We are going to be broke really quickly unless we get serious about our spending

Der jüngste Anstieg der Volatilität am Treasury-Markt kommt nicht von ungefähr: Der MOVE Index misst die implizierte Volatilität über die jeweils nächsten dreissig Tage, und exakt einen Monat vor den Wahlen ist er in die Höhe geschnellt. Das bedeutet, die Märkte für Treasury-Optionen rüsten sich für eine heftige Bewegung nach dem 5. November.

Was, wenn der Bondmarkt zur Revolte ansetzt, die Verschuldungspolitik der mächtigsten Wirtschaftsnation der Welt nicht mehr akzeptiert und deutlich höhere Zinsen verlangt?

Eine historische Parallele spielte sich vor zwei Jahren in Grossbritannien ab, als die konservative Premierministerin Liz Truss ein unvernünftiges, schäbig konstruiertes Budget bestehend aus Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen vorlegte, worauf der Bondmarkt mit einem «Thanks, but no thanks» reagierte. Die Zinsen für britische Staatsanleihen schossen in die Höhe, das Pfund sank – und die Regierung Truss war am Ende. Sie trägt seither den Rekord als Premierministerin mit der kürzesten Amtsdauer (45 Tage) in der Geschichte des Vereinigten Königreichs.

1994 revoltierte der US-Bondmarkt gegen die Budgetpläne von Bill Clinton, als die Rendite zehnjähriger Treasury Notes innerhalb von sechs Monaten von 5,5 auf knapp über 8% stieg. Die Episode ging als The Great Bond Massacre in die Finanzgeschichte ein.

Das Risiko einer derartigen Revolte am Bondmarkt lässt sich unmöglich quantifizieren, geschweige denn prognostizieren. Aber die Gefahr besteht, und sie dürfte steigen, wenn am 5. November eine Partei die Macht über das Weisse Haus und den Kongress gewinnt.

Wichtig ist aber folgende Einschränkung: Von einer echten Revolte am Bondmarkt kann erst gesprochen werden, wenn die Zinsen steigen und gleichzeitig die Währung sinkt. Das war im Herbst 2022 in Grossbritannien und 1994 in den USA der Fall.

Heute kann man das noch nicht sagen, da der Dollar im Zuge des jüngsten Zinsanstiegs erstarkt ist.

Richtig spannend wird es also erst, wenn die langfristigen Zinsen weiter steigen und der Dollar gleichzeitig schwächer wird.

Aber was würde eine Bondmarkt-Revolte für die Börsen bedeuten? Ein scharfer, heftiger Anstieg der Treasury-Renditen würde mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Einbruch am Aktienmarkt provozieren.

Die grosse Frage ist, was danach passiert. Theoretisch kann eine Bondmarkt-Revolte eine Regierung dazu zwingen, eine vernünftige Fiskalpolitik anzugehen. Die Revolte kann aber auch von der Zentralbank beendet werden.

Das von Liz Truss ausgelöste Beben war zu Ende, als die Bank of England im Oktober 2022 begann, wieder britische Staatsanleihen zu kaufen und damit genügend Nachfrage am Markt sicherstellte. Aus heutiger Perspektive ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Fed sofort eingreifen würde, sollten die Treasury-Renditen zu schnell und zu stark in die Höhe schiessen. Das höchste (informelle) Mandat der US-Notenbank ist es, jederzeit die Finanzierungsfähigkeit des Staates sicherzustellen.

Das Fed würde also sofort ein neues Anleihenkaufprogramm auflegen und Treasuries kaufen. Der Aktienmarkt würde darauf voraussichtlich positiv reagieren. Der Dollar würde dagegen seine Rolle als «Überdruckventil» übernehmen und sich abwerten.

«Long Gold, long Bitcoin und long Rohstoffe», lautet die Antwort von Tudor Jones auf die Frage, wie er sich für dieses Szenario positioniere.

Dem ist nichts anzufügen.

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