Dienstag, November 5

Am Mittwoch treffen die Berner in Gelsenkirchen auf Schachtar. Der Fussballklub aus dem Donbass leidet unter Bestimmungen der Fifa.

Wenn Serhi Palkin, der Klubchef von Schachtar Donezk, dieser Tage die schwierige Situation seines Vereins zwischen Krieg und Champions League illustrieren soll, erzählt der 50-Jährige folgende Geschichte: Am 1. September hätte der Klub zum Auswärtsspiel gegen den Ligakonkurrenten Kriwbass Kriwi Rih im Osten der Ukraine antreten sollen. Deshalb hatte Schachtar ein Hotel im Ort gebucht. Nur: «Drei Tage bevor wir dort ankommen sollten, gab es einen Grossangriff mit Drohnen und Raketen. Das Hotel war danach komplett zerstört, vier Personen waren gestorben, zahlreiche verletzt.»

Es sei schwierig gewesen, das Team davon zu überzeugen, trotzdem zur Partie anzutreten. «Wir haben gespielt, aber nicht bis zum Ende. Nach einem Alarm wurde der Match unterbrochen und nicht wieder angepfiffen.»

Schachtar leidet unter den Bestimmungen der Fifa

So sieht der Liga-Alltag des Teams aus, das am Mittwoch in Gelsenkirchen die Berner Young Boys zu seinem «Heimspiel» in der Champions League empfängt (18 Uhr 45). Seit nunmehr zehn Jahren befindet sich der Fussballklub aus dem Donbass permanent auf Wanderschaft. Schachtar spielte schon in Charkiw und Warschau, zurzeit trägt der Klub seine Heimspiele in Kiew und dem westukrainischen Lwiw aus.

Den Partien dürfen nur 1500 Zuschauer beiwohnen – mehr sind in der ukrainischen Liga zurzeit nicht zugelassen. Andernfalls könnten sich nicht alle Besucher rechtzeitig in Sicherheit begeben, falls der Ort oder das Stadion mit russischen Drohnen oder Raketen angegriffen würden. TV-Einnahmen und Sponsorengelder fliessen seit dem Kriegsausbruch kaum noch; der Verein finanziert sich nur aus Transfergewinnen und den Einnahmen aus der Champions League.

Hinzu kommt, dass Schachtar Donezk nach dem Kriegsausbruch im Februar 2022 die Hälfte seiner Spieler verloren hat. Denn der Weltfussballverband (Fifa) hatte ausländischen Spielern in der Ukraine und Russland im Zuge des russischen Angriffskriegs die Aussetzung ihrer Verträge möglich gemacht. Für Palkin ist das noch immer ein beispielloser Skandal. Er sagt: «Man muss sich das einmal vorstellen. Ein Land überfällt das andere, und der Weltfussballverband bestraft dafür den Angegriffenen.»

De facto habe die Fifa alle Schachtar-Spieler und -Trainer zu sogenannten «free agents» erklärt. «Die Manager haben fast alle ihre Spieler dazu gedrängt, den Vertrag sofort aufzulösen, um in den anderen europäischen Ligen üppige Handgelder zu kassieren.» Der Klub erlitt einen immensen finanziellen Schaden, denn zu diesem Zeitpunkt stand er mit einigen Spielern in Verhandlungen über zweistellige Millionenverträge. «Die sind dann natürlich vom einen auf den anderen Tag beendet gewesen», sagt Palkin.

Vor allem zwei Fälle hätten zum Gesamtverlust von rund 50 Millionen Franken beigetragen. Zum einen jener des israelischen Nationalspielers Manor Solomon, der mittlerweile bei Tottenham Hotspur unter Vertrag steht und zurzeit an den Zweitligisten Leeds United ausgeliehen ist. «6 Millionen Euro hatten wir an seinen Verein Maccabi Petah Tikva überwiesen. Wir hatten ihn gefunden, ihn ausgebildet und in ihn investiert. Nur deswegen erreichte er einen Marktwert von 15 Millionen Euro. Doch dann ging er ein Jahr später zu Fulham, ohne dass wir auch nur einen Cent gesehen hätten.» Dabei hätten die europäischen Vereine versprochen, dass sie die Schachtar-Spieler nicht gratis verpflichten würden. Offiziell seien solche Deals dann «Leihe» genannt worden, sagt Palkin. «Ein Jahr später war das alles vergessen, und die Spieler wurden trotzdem weitertransferiert.»

Noch schlimmer sei der Fall des Brasilianers Tete gewesen. Der war 2019 für 15 Millionen Euro von Gremio Porto Alegre verpflichtet worden. Ein Jahr später hätte der Marktwert bereits bei 20 Millionen Euro gelegen. «Dann hat ihn Olympique Lyon ‹ausgeliehen›, im Januar des vergangenen Jahres nach Leicester verkauft, und von dort ist er mittlerweile nach Istanbul zu Galatasaray gewechselt.»

Der Klub ist bekannt für seine Brasilianer

Es sind vor allem diese Geschichten, die Schachtar zu einem besonderen Vertreter in der europäischen Königsklasse machen. Und die gewaltigen Handicaps lassen Schachtar nach dem erzwungenen Abschied aus der Heimat umso beeindruckender erscheinen. Serhi Palkin hat viel zu diesem Erfolg beigetragen, er ist seit zwanzig Jahren der Klubchef des Vereins aus dem Donbass. Seit dem Weggang aus Donezk vor zehn Jahren hat Schachtar sieben von zehn nationalen Meisterschaften gewonnen. Seit 2009 verpasste der Klub nur ein einziges Mal die Gruppenphase der Champions League. Nachdem Schachtar 2016 in der dritten Qualifikationsrunde an YB gescheitert war, musste das Team mit der Europa League vorliebnehmen.

Das Spiel von Schachtar ist seit langem geprägt von Fussballern aus Brasilien. Dass viele spätere Stars wie Willian, Elano, Fernandinho oder Douglas Costa ihren Weg in die europäischen Topligen über Donezk gefunden haben, erklärt Palkin so: «Wir agieren seit über zwanzig Jahren in Brasilien und haben uns dort einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Die Agenten in Brasilien kommen eher zu uns, als dass wir die Spieler selbst entdecken würden. Und wir treffen schnellere Entscheidungen bei Transfers als die Konkurrenten. So sind wir oft den berühmten Schritt voraus.»

Auch im gegenwärtigen Kader stehen zwei hoffnungsvolle brasilianische Talente: der 20-jährige Marlon Gomes und der ein Jahr ältere Kevin. Das Gros des Teams besteht wegen der Fifa-Bestimmungen zurzeit aber aus Ukrainern. Der Innenverteidiger Mikola Matwijenko, der Rechtsverteidiger Juchim Konoplja und der erfahrene Mittelfeldspieler Taras Stepanenko sind allesamt ukrainische Nationalspieler. Der 23-jährige Angreifer Danilo Sikan wurde in der vergangenen Saison mit 16 Treffern Torschützenkönig.

Der unangefochtene Star des Teams ist aber der zentrale Mittelfeldspieler Georgi Sudakow. Der 22-Jährige wird bereits mit Manchester City und der SSC Neapel in Verbindung gebracht. Beim sensationellen 1:0 gegen den FC Barcelona in der vergangenen Champions-League-Saison gelang ihm der entscheidende Treffer.

Sudakows Werdegang illustriert das Schicksal von Schachtar besonders gut: Seit sieben Jahren ist der Starspieler nun im Verein, und doch hat er noch nie in der heimischen Donbass-Arena gespielt. Zur gegenwärtigen Situation, dem Fussballspielen inmitten eines Angriffskriegs, äusserte sich Georgi Sudakow im Februar zum zweiten Jahrestag des Angriffes. Damals sagte er der BBC: «Es ist psychologisch hart, wenn deine Familie weit weg ist und das Erste, was du am Morgen nach dem Aufwachen siehst, eine SMS von deiner Frau ist, in der steht, dass sie und dein Kind sich im Badezimmer verstecken.»

Exit mobile version