Mittwoch, Oktober 9

Die fünf Stunden sind ein Fest des Visuellen, ein überbordendes Gemälde in ständiger Bewegung und Veränderung. Nach und nach verwandelt sich die Bühne in einen tristen Wartesaal der Verlorenen.

Sie alle taugen nicht mehr für das Leben. Sie sind weggeschafft worden ins feudale Abseits. Hoch oben auf dem Berg residieren sie als kranke Randfiguren einer Gesellschaft, die «unten», wie sie verächtlich sagen, funktionieren muss. Während sie da liegen und scheinbar auskurieren, was nicht mehr zu heilen sein wird, öffnet sich unten ein historischer Abgrund.

Der Krieg grollt aus der Ferne. Und man sieht ihn wie ein riesiges Feuerwerk, weit weg. Der Tod, der nun über die europäischen Felder ziehen wird, kann sie hier oben nicht mehr schrecken. Sie haben ihn jetzt einmal ausgeliehen an die Welt. Sie können warten, bis er zu ihnen zurückkommt, sie haben Geduld.

Die braucht man auch beim Lesen von Thomas Manns tausendseitigem Roman «Zauberberg». Und erst recht als Zuschauer von Krystian Lupas fünfstündiger Bühnenadaption bei den Salzburger Festspielen.

Ein monumentales Experiment

Gesprochen wird hier Litauisch. Die deutschen Übertitel lassen nur ahnen, welchen Text sich der litauische Regisseur da aus Manns Endlosdialogen zusammengebastelt hat. Die hektische Laufschrift lesend, entgeht einem so fast der Sinn des Buches: die sich im gedanklichen Niemandsland verlierenden Streitereien zwischen den beiden intellektuellen Widersachern Settembrini und Naphta sind geschrumpft zu Stichwort-Stummeln.

Die zart-bissigen Bande zwischen Hans Castorp, dem Gesunden, den die Krankheit zum Tode süchtig macht, und der ätherischen Russin Clawdia Chauchat, die mit Erotik und Einsamkeit jongliert, spürt man gerade noch am Klang. All die anderen skurrilen und aufgegebenen Gestalten aber, die im Sanatorium Berghof verzweifelt und sarkastisch um ihr letztes bisschen Dasein kämpfen, verlieren ihre Widersprüche und ihren Charme.

Nach der Pause leert sich das Landestheater in Salzburg. Aber war man denn bloss gekommen, um sich Thomas Manns Roman nacherzählen zu lassen? Sicher nicht. Der mittlerweile 80-jährige Theatermagier Lupa wagt hier ein monumentales Experiment. Wo die Sprache verlorengeht, da beginnen bei Lupa eben die Bilder zu sprechen.

Deshalb nimmt man diese fünf Stunden auch weniger als geistiges Rüstzeug hin. Sie sind vielmehr ein Fest des Visuellen, ein überbordendes Gemälde in ständiger Bewegung und Veränderung, eine Überschreitung des Begreifbaren, ein Sog, der einen hineinzieht in die Augenblicke des stummen Glücks und des unausweichlichen Untergangs.

Spektakel statt Sprache

Lupa hat ein Gesamtkunstwerk kreiert, das anmutet, als wäre es nur für diesen einen endlosen Moment entstanden, um danach wieder und für immer zu verschwinden. Traum und Wirklichkeit werden nicht strikt getrennt, sie vermischen sich, nivellieren Grenzen. Der Zeit fällt dabei die wichtigste Rolle zu, sie vergeht und auch wieder nicht, sie steht still und dehnt sich in die Vergangenheit.

Man musste an den Titel eines Buches von Bruno Schulz denken: Wir befinden uns im «Sanatorium zur Sanduhr». Die Moribunden, deren Husten ständig aus irgendwelchen Richtungen zu hören ist, deren durchleuchtete Lungen mit den fatalen dunklen Stigmen riesig auf der Leinwand erscheinen, spüren jedes verrieselnde Sandkorn als ein verlorenes Stückchen ihrer Selbst und das Verrinnen der Zeit an ihrem Leib, der immer weniger wird.

Hier braucht Lupa wirklich keine Sprache mehr. Hier hört man auch mit dem Lesen der Schrift hoch oben auf und schaut nur noch gebannt auf das sich wandelnde Spektakel. Die Bühne wird zum Lost Place. Von der einstigen Pracht der Nobelheilstätte ist nicht mehr viel übrig. Die Wände der Zimmer sind stockfleckig, der Putz in den Gängen bröckelt, das Licht ist funzlig. Die Kranken liegen auf verlorenem Posten, ihre ablaufende Zeit möblieren sie mit Langeweile und dem Wunsch, das Ende hinauszuzögern, obwohl ihnen der Sinn des Überstehens längst abhandengekommen ist.

Lupa überblendet diesen tristen Wartesaal der Verlorenen mit Endzeitszenarien auf einer Leinwand in ganzer Bühnenbreite. Das ergibt immer wieder neue Welten, zeigt Ereignisse, die sich abseits des Berghofs abspielen. Dann wieder sind es Innenansichten der Insassen, indiskrete Durchleuchtungen ihrer Körper und Seelen.

Lust am Ausverkauf des Lebens

Es bleibt hier nichts verborgen. Für Lügen, die eigene hoffnungslose Situation betreffend, haben die anderen nur ein böses Lachen übrig; für Gefühlsregungen sind sie nicht mehr empfänglich. Und ereignen sie sich doch einmal bei anderen, dann stürzt man sich gierig und giftig auf das Geheimnis.

Mit fast unerträglicher Ruhe und quälendem Gleichmut – ja mit Lust an dem schleichenden Ausverkauf des Lebens folgt Lupa der zermürbenden Selbstaufgabe, die auch ein Hans Castorp nicht aufhalten kann mit seiner Schwärmerei für die rätselhafte rothaarige Russin.

Vielleicht ist die aber auch nur eine Einbildung, ein unerfüllter Wunsch, eine Unwirklichkeit; immerhin lässt Lupa die Türen knallende Chauchat doppelt durch die Szene huschen. Wie alle hier ist auch sie ein Wesen, das Leben nur noch spielt auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und dem Nichts.

Die Apokalypse, die sich bereits in der ersten Szene tosend andeutete, stürzt nun mit Bildern von Leichen und zerstörtem Land vor unseren Augen aus dem Bühnenhimmel herab. Hinter dem Vorhang aber sterben die Ausgesonderten, auch von der Geschichte Vergessenen, ihren ganz privaten Tod. Lethargisch ignorieren sie die Vorbereitungen auf das grosse Morden im ersten grossen Krieg. Sie bleiben Egoisten, die sich in Heilsbotschaften, obskuren Philosophien und in gruseligen Séancen verlieren. Endlich erscheint der herbeigerufene tote Vetter Joachim. Und er trägt die Kleidung eines KZ-Häftlings.

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