Sonntag, September 8

Daniel Rodriguez wohnt in Thailand. Er führte die Weltrangliste an und ist Europameister. Nun hat seine Karriere einen ersten Knick erhalten. Sein Leben in fünf Runden.

Für Daniel Rodriguez gibt es nichts Schöneres, als zu kämpfen: «Wenn ich könnte, würde ich mein Leben lang einfach im Ring kämpfen und niemals damit aufhören.»

Fünf Runden à drei Minuten dauert ein Kampf im Thaiboxen, wenn keiner der beiden vorher K. o. geht. Rodriguez ist 25 Jahre alt und gehört zur Weltspitze. Betritt er den Ring, verändert sich sein Wesen. Er drückt die Schultern durch, streckt die Brust nach vorne und tänzelt leichtfüssig durch den Ring – sein Wohnzimmer. Noch nie wurde er niedergeschlagen.

Ausserhalb des Rings ist er ein unscheinbarer Typ. Introvertiert, etwas schüchtern, bodenständig. So gibt er sich auch beim Treffen im «Dado Gym» in Zürich Altstetten. Hier hat vor elf Jahren alles angefangen.

Runde 1: Muay Thai – seine Passion

Daniel Rodriguez hat Wurzeln in der Dominikanischen Republik und wächst in der Stadt Zürich auf, im Kreis 3. Er erzählt von einer schönen Kindheit ohne tragische Erlebnisse oder Schicksalsschläge. Mit seinem grossen Bruder streitet er sich regelmässig, er kommt mit dessen strenger Art nicht klar. Bei den Handgreiflichkeiten nutzt sein Bruder die körperliche Überlegenheit aus. «Das gehört sich unter Brüdern», sagt Rodriguez. Es habe ihm früh die Angst vor Schlägen genommen.

In der Sekundarschule, Rodriguez ist 14 Jahre alt, spielen viele seiner Freunde Fussball. Er möchte einen kompletteren Sport ausüben, einen Sport für den ganzen Körper. Rodriguez schaut im «Dado Gym» vorbei. Er ist fasziniert vom Thaiboxen. Von der Geschichte, der Eleganz, der Kraft.

Thaiboxen oder Muay Thai gilt als effizienteste Kampfsportart, denn es ist fast alles erlaubt: Treffer mit Fäusten, Beinen, Ellbogen und Knien. Der Sport wird barfuss ausgeübt, nur dünne Knöchelschoner werden über die Füsse gezogen.

Muay Thai ist in Thailand Nationalsport, die Ursprünge reichen mehrere Jahrhunderte zurück. Respekt und Tugendhaftigkeit sind zentral, die Kämpfer dürfen ihre Fähigkeiten nur im Ring zeigen, alles andere ist verpönt.

Die erste Reaktion seiner Eltern: «Wieso Thaiboxen und nicht Fussball?» Doch Rodriguez bleibt bei seinem Entscheid. Er hilft im Haushalt, räumt den Geschirrspüler aus, wäscht die dreckigen Kleider. Schliesslich bezahlen seine Eltern das Training.

Rodriguez erinnert sich gerne an die Anfangszeit. «Ich habe die älteren Kämpfer im Gym gesehen und wollte auch so werden.» An jedem trainingsfreien Tag macht er zu Hause Schattenboxen. Er wendet an, was ihm beigebracht wird. Seine Liebe zur Sportart wird von Tag zu Tag grösser. Rodriguez sagt: «Ich liebe es, meinen Gegner zu schlagen, und ich liebe es, geschlagen zu werden.»

Runde 2: «Dado» – sein Trainer

Der Trainer Leonardo «Dado» Irmici begleitet Daniel Rodriguez seit dem ersten Tag. Rodriguez wurde immer ambitionierter, Dado aber blieb skeptisch: «Er hat seine Wurzeln in der Dominikanischen Republik. Er sieht gut aus und ist jung. Ich dachte, dass er mit 16 Jahren wieder weg ist und lieber Party macht, als hart zu trainieren.»

Ganz unrecht hatte Dado nicht. Rodriguez geht als Jugendlicher gerne feiern, wie er erzählt. Doch er steht am nächsten Morgen wieder im Ring. Dado sagt: «Ich habe schnell gemerkt, dass der Junge eine Gabe hat fürs Kämpfen.»

Seine ersten vier Fights gewinnt Rodriguez ohne Mühe. Dado fordert seinen Schüler heraus und organisiert in Bern einen Kampf gegen einen 30-Jährigen. Rodriguez ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Er gewinnt.

Für Dado ist in diesem Moment klar: Dieser Junge bleibt.

Wer kämpft, erleidet auch Tiefschläge. Rodriguez macht die Lehre zum Fachmann Betriebsunterhalt. Spass bereitet sie ihm nicht. Mehrmals will er die Ausbildung abbrechen. Doch Dado verhindert es. Er möchte, dass Rodriguez kämpft.

Rodriguez hört auf seinen Trainer. Im Ring steht er in dieser Zeit aber nur selten. Er leidet seit Geburt an einem Hüftimpingement – umgangssprachlich ein Hüftklemmen. Weil die Passform der Gelenke nicht genau stimmt, ist die Hüfte bei bestimmten Bewegungen, beim Kicken etwa, blockiert. Rodriguez wird zwei Mal während der Lehre operiert. Nur zwei Kämpfe bestreitet er in dieser Zeit, ans Aufhören denkt er keinen Moment. Er hat ein grosses Ziel, er will nach Thailand.

Runde 3: Rajadamnern Stadium – sein zweites Zuhause

Was Fussball für Deutsche ist, ist Muay Thai für Thailänder. In jeder Bar flimmert Muay Thai über die Bildschirme, auf jedem öffentlichen Sportplatz hängen Boxsäcke, bereits kleine Kinder trainieren spektakuläre Schlag-und Trittkombinationen.

Für Daniel Rodriguez ist deshalb klar: Nur im Heimatland des Muay Thai kann er besser werden. In der Schweiz fehlen ihm die Trainingspartner. In Thailand könne er um jede Uhrzeit mit anderen Kämpfern trainieren oder joggen gehen.

Dado kennt aus seiner aktiven Zeit als Thaiboxer einige Trainer in Thailand und schickt Rodriguez 2019 nach der Lehre in ein traditionelles Camp. Rodriguez trainiert dort und wohnt in einem kleinen Dorf. Er muss sich gegenüber den thailändischen Kämpfern beweisen und sich ihren Respekt verdienen. Das gelingt ihm dann im Tempel des Thaiboxens.

Das Rajadamnern Stadium in Bangkok gilt als älteste Thaibox-Arena des Landes und ist von der Bedeutung her vergleichbar mit dem Wembley-Stadion im Fussball. Für einen Kämpfer gibt es kaum eine grössere Ehre, als hier in den Ring zu steigen.

3000 Zuschauer haben in der engen Arena Platz. Es ist feuchtheiss, wie Gladiatoren werden die Kämpfer in den Ring geleitet. Dreimal betritt Rodriguez 2019 den heiligen Ring. Dreimal gewinnt er durch K. o. Es ist der bisherige Höhepunkt seiner Karriere.

Rodriguez kehrt in die Schweiz zurück. Leben kann er von seinem Sport nicht. Und Titel hat er auch noch keinen gewonnen. Rodriguez hat aber das Glück auf seiner Seite. Das sagt er immer wieder: «Ich habe unterbewusst immer die richtigen Entscheidungen getroffen. Und war im richtigen Moment zur Stelle.»

2021 gewinnt Rodriguez den Europameistertitel des World Boxing Council (WBC) im Superweltergewicht – bis 70 Kilogramm. Für ihn schliesst sich ein Kreis, er sieht sich seit längerem in Europa ausser Konkurrenz. Rodriguez fliegt nach dem Ende der Corona-Pandemie 2022 zurück nach Thailand. Zurück in sein zweites Zuhause: das Rajadamnern Stadium. Am 1. Juni 2022 besiegt er in seinem ersten Titelkampf einen der stärksten Thaiboxer des Landes und sichert sich als dritter Europäer den Rajadamnern-Stadium-Titel im Superweltergewicht.

Noch am selben Abend erhalten Dado und Rodriguez einen wichtigen Anruf.

Runde 4: «Der Auserwählte» – sein ungewollter Spitzname

Das thailändische Medienunternehmen Plan B veranstaltet unter dem Namen Rajadamnern World Series (RWS) ein Muay-Thai-Turnier mit den besten Kämpfern des Landes. Der Gewinner erhält 1 Million Baht, 25 000 Franken. Einer der Kämpfer soll Daniel Rodriguez sein. Für ihn ist klar: «Ich muss da mitmachen. Ich will das Turnier gewinnen und die alle fertigmachen.»

Im ersten Kampf sei er noch nervös gewesen, sagt Rodriguez. Schliesslich habe ganz Thailand zugeschaut. Doch er gewinnt und merkt: «Im Rajadamnern Stadium bin ich zu Hause, hier bin ich unschlagbar.»

Zweimal besiegt er den thailändischen Superstar Yodwicha Porboonsit. Die beiden Siege machen Daniel Rodriguez zur Nummer 1 der Weltrangliste des WBC und zum Champion der RWS.

Rodriguez kann zum ersten Mal in seiner Karriere vom Sport leben. Acht Jahre lang hat er zuvor fast gratis gekämpft. Sponsoren hat er keine.

«The Chosen One» nennen ihn die Thailänder seit dem Turniersieg. Rodriguez ist es unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Er selber sieht sich nicht als «den Auserwählten», er wolle einfach der Beste in seiner Gewichtsklasse sein. «Wie Michael Jordan im Basketball.»

Unrecht haben die Thailänder mit seinem Spitznamen aber nicht. Die Bilanz zum Zeitpunkt des Turniersieges: 38 Kämpfe, 38 Siege, 0 Niederlagen.

Runde 5: Zürich – seine sichere Ecke

Nach dem Turniersieg wird Rodriguez in Thailand immer bekannter. Die Leute erkennen ihn in Bangkok auf der Strasse, sie wollen ein Autogramm oder ein Foto. In Thailand lebt Rodriguez ein anderes Leben als in der Schweiz. In seiner Heimat, in Zürich, erkennt ihn niemand, wenn er einkaufen geht. Doch Zürich hat eine andere wichtige Rolle in seinem Leben.

Rodriguez verliert 2023 seinen ersten Kampf. Nach drei Siegen in der Gruppenphase des RWS-Turniers muss er sich im Halbfinal seinem grössten Konkurrenten geschlagen geben und verliert nach Punkten. «Der Nachgeschmack beim Verlieren ist ziemlich bitter», sagt Rodriguez. Er kannte das Gefühl nicht.

Rodriguez bestreitet nach der Niederlage noch einen Kampf. Er gewinnt, doch dieser Tiefschlag nagt weiter an ihm.

Rodriguez ist seit Anfang Januar in der Schweiz. Seit einem Jahr hat er starke Schmerzen. Er wird Mitte Januar in Zürich an der rechten Hand erfolgreich operiert. Es sei eine komplizierte Operation gewesen, aber in Zürich fühle er sich sicher. Im Ring hat jeder Kämpfer seine Ecke, wo er in der Pause zwischen den Runden gepflegt wird – es ist sein ganz persönlicher Schutzraum. Im Leben von Daniel Rodriguez nimmt Zürich diesen Platz ein. Hier sind seine Freunde, seine Familie, sein Gym.

Rodriguez rechnet damit, in drei Monaten wieder in Thailand zu kämpfen. Sein Ziel: der RWS-Turniersieg im Oktober. Die Veranstalter haben das Preisgeld deutlich erhöht. Es geht um 5 Millionen Baht – 125 000 Franken. Seine Gage, ebenfalls 5 Millionen Baht, kommt noch obendrauf. Für Rodriguez geht es aber um mehr als ums Geld. Er möchte der Beste im ganzen Land sein und im Turnier «aufräumen». Runde für Runde, Gegner um Gegner.

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