Donnerstag, Oktober 10

Wie wichtig ist der Kolonialismus noch? Europa hadert mit sich. Afrika blickt lieber nach vorne.

Müssen wir die Statuen von Männern entfernen, die ihre Vermögen mit dem Sklavenhandel anhäuften? Sollen gestohlene Kunstgegenstände zurück nach Afrika? Verdankt der Westen seinen Wohlstand dem Kolonialismus? Sind unsere Historikerinnen und Historiker allesamt ideologisch motivierte Antikolonialisten?

Dafür, dass manchmal die Daseinsberechtigung der Geisteswissenschaften infrage gestellt wird, hat Geschichte in den letzten Jahren einen recht prominenten Platz eingenommen in europäischen Debatten. Es ging meist um Kolonialismus. Und oft ging es um Afrika. Bei den «Black Lives Matter»-Protesten zum Beispiel. Oder in museumspolitischen Debatten um Raubkunst. Der Koalitionsvertrag der deutschen Regierung enthält einen Absatz zu «kolonialem Erbe».

Es geht um Schuld und Sühne, um Opfer und Täter. Um Vergangenheit und manchmal ein bisschen um Zukunft. Wenige Themen emotionalisieren links und rechts so zuverlässig wie der Kolonialismus.

Es gibt einen Kontinent, der in diesen Debatten ständig vorkommt. Der vielleicht mehr als jeder andere unter dem Kolonialismus gelitten hat. Aus dem zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert geschätzt 18 Millionen Menschen in die Sklaverei verschleppt wurden. Doch auf diesem Kontinent, die Rede ist von Afrika, scheren sich nicht mehr allzu viele um den Kolonialismus.

Was hat das zu bedeuten? Vielleicht, dass die Debatten mehr mit Europa zu tun haben als mit Afrika. Dass Europa ein Kontinent ist, der mit der Gegenwart hadert und deshalb mit der Vergangenheit. Dass Afrika dagegen ein Kontinent ist, der den Blick auf die Zukunft gerichtet hat. 2050 werden Afrikanerinnen und Afrikaner mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung stellen. Nur wenige Afrikaner glauben, dass es Sinn ergibt, sich mit der Vergangenheit aufzuhalten. Es gilt, sich den Platz in der Zukunft zu schaffen.

Das koloniale Erbe

Es ist nicht so, dass das koloniale Erbe in Afrika nicht mehr spürbar wäre.

Man sieht es in Städten wie Nairobi, Kenyas Hauptstadt, die noch immer nach den Demarkationslinien aufgeteilt ist, die britische Kolonialbeamte einst auf Karten zogen. Uno-Mitarbeiter wohnen in Villen mit opulenten Gärten in Gegenden, die einst für Weisse gebaut wurden. Hunderttausende Kenyaner wohnen in Armenvierteln, die vor einem Jahrhundert afrikanischen Arbeitern zugewiesen wurden. Der Kolonialismus ist nicht lange her. Es ist nicht aussergewöhnlich, in Kenya Leuten zu begegnen, die noch mit Ausweisen um den Hals herumfahren mussten, damit die Kolonialpolizei kontrollieren konnte, ob sie befugt seien, durchs Land zu reisen.

Man sieht das Erbe des Kolonialismus in Ländern wie Kongo-Kinshasa, das zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von Belgien 1960 nur eine Handvoll Hochschulabsolventen hatte, dafür gewaltige Rohstoffvorkommen. Kongos Wirtschaft hat das Modell kolonialer Extraktion nie überwunden: Das Land hängt ab von den Exporteinnahmen, die Kupfer, Coltan oder Gold einbringen. Nur eine Handvoll Kongolesen sind reich geworden. Es sind jene, die die Schalthebel von den belgischen Kolonialisten übernommen haben. In vielen afrikanischen Ländern ist noch immer die DNA des Kolonialstaats vorhanden, der kein Gemeinwesen organisieren sollte, sondern die Plünderung.

Millionenfach gestreamte Pop-Songs

In europäischen Debatten und Köpfen sind Afrikanerinnen und Afrikaner vor allem Opfer: Kriegsversehrte, Verhungernde, Flüchtende, ausgezehrte Migranten auf Schlauchbooten. Und dann ist oft die Frage nicht fern: Sind wir schuld an der ganzen Misere? Schliesslich haben Europäer Afrika während Jahrhunderten ausgebeutet, Menschen, Rohstoffe und Kulturschätze abtransportiert. Konflikte zwischen Regionen und Bevölkerungsgruppen entfacht, die zum Teil noch immer andauern.

Es gibt tatsächlich viele Krisen auf dem afrikanischen Kontinent. Millionen junger Afrikaner finden trotz Hochschulabschlüssen keine Stelle. Fast überall steigen die Lebenskosten. Einige der brutalsten Kriege der Welt finden hier statt, zum Beispiel im Sudan.

Doch Menschen, die sich als Opfer sehen, trifft man selten in Afrika. Auch nicht Leute, die alles auf den Kolonialismus zurückführen. Wenn Afrikanerinnen und Afrikaner Schuld verorten, tun sie es meist bei den eigenen Regierungen.

Die allermeisten haben Besseres zu tun. Zum Beispiel, kreative Mittel zu finden, um Geld zu verdienen in Ländern, die wenig formale Jobs und kaum staatliche Sicherheitsnetze bieten. Oder je nachdem auch in den früheren imperialen Zentren. Tausende afrikanische Ärztinnen und Pfleger arbeiten in Europa, weil sie dort benötigt und besser bezahlt werden. Es ist eine Form der Migration, über die wenig berichtet wird.

Dass wenige Afrikaner sich als Opfer fühlen, liegt auch an ihrer Jugend: Das Medianalter auf dem Kontinent liegt bei 19. Das heisst: Mehr als eine halbe Milliarde Menschen in Afrika sind noch nicht oder erst knapp volljährig. Sie haben zu viel Zukunft vor sich, um die sie sich kümmern müssen, als dass sie sich mit der Vergangenheit aufhalten könnten.

In wenigen Weltgegenden findet sich so viel Experimentierlust. Junge Afrikanerinnen und Afrikaner arbeiten als Modedesigner, als Influencer, als Autoren für Websites, als Künstler. Das kreative Potenzial ist unerschöpflich. Es ist kein Zufall, dass nigerianische und südafrikanische Pop-Songs viele Millionen mal gestreamt werden.

Die europäischen Kolonialismusdebatten sind auch Ausdruck einer Identitätskrise. Der Kontinent ist älter geworden, während viele Junge aus Ländern kommen, die einmal Kolonien waren. Da kann bei älteren weissen Europäern das Gefühl aufkommen, man werde von der Vergangenheit eingeholt.

In Afrika gibt es diese Identitätskrise nicht. Man ist hungrig auf Zukunft. Künstliche Intelligenz interessiert stärker als der Sklavenhandel.

Die einfallslosen Juntas

Es gibt Afrikaner, die über die koloniale Vergangenheit sprechen. Nirgendwo lauter als im Sahel – jenem Gürtel von Ländern unterhalb der Sahara, der seit einem Jahrzehnt von islamistischen Terroristen heimgesucht wird. In den vergangenen Jahren haben Militärs in Mali, Burkina Faso, Niger und anderen Ländern Regierungen gestürzt. Daraufhin verbrannten Demonstranten in den Hauptstädten französische Flaggen und machten die ehemalige Kolonialmacht für alles verantwortlich, was schiefläuft: Staatszerfall, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Korruption. Die Militärjuntas haben französische Soldaten, Diplomaten und Journalisten aus dem Land gewiesen. Es machte den Anschein, als ob da eine antikoloniale Welle über Westafrika schwappe.

Doch dieser Antikolonialismus ist nicht viel mehr als Schminke für einfallslosen Populismus. Die Militärs, die im Sahel regieren, sind Figuren von gestern – sie erinnern an die letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts, in denen Männer in Uniform vielerorts in Afrika regierten. Sie haben wenig Ideen für die Zukunft ihrer Länder. Sie werden zunehmend repressiv. Sie sperren missliebige Journalisten ein, verbieten politische Parteien. In Burkina Faso schickt die Armee Kritiker an die Front.

Es ist auch bezeichnend, dass gerade Russland in Afrika versucht, antikoloniale Stimmung zu schüren. Moskau hat afrikanischen Ländern nichts zu bieten ausser Waffen, Soldaten und abgegriffene Rhetorik. Diese verfängt bei autoritären Regierungen, die keine Vision haben, die über den eigenen Machterhalt hinausgeht. Doch die wenigsten jungen Afrikaner interessieren sich für Lenin und Putin.

Keine Bittsteller

Es gibt auch eine vorwärtsgerichtete Weise, in der Afrikaner über Kolonialismus sprechen. Sie war zum Beispiel im vergangenen Herbst an der Uno-Generalversammlung in New York zu beobachten. Ghanas Präsident Nana Akufo-Addo trat ans Rednerpult und sprach über Kolonialismus: Es sei an der Zeit, über Reparationen für den Sklavenhandel nachzudenken.

Auf dieselbe Art sprechen afrikanische Führer über Kolonialismus, wenn sie sagen, der Westen müsse beim Klimaschutz vorangehen. Es könne nicht sein, dass afrikanische Länder, die sich nicht industrialisieren konnten wie der Westen, nun dieselbe Last tragen müssten.

Auf dieselbe Art sprechen afrikanische Kulturschaffende über die Restitution gestohlener Kulturgüter. Nicht in der Rolle als Bittsteller. Sondern als Erschaffer von unschätzbar wertvollen Statuen und Bronzen, die zwar der Menschheit gehören, aber eben auch Afrika. Und deshalb dort in Museen ausgestellt gehörten.

Es ist eine Art, über Kolonialismus zu sprechen, die nicht die Opferperspektive einnimmt. Sondern die Rollen neu zu definieren versucht. Und damit Afrikas Platz in der Welt.

Und das ist der Punkt. In Europa geht die Angst um, weiter an Bedeutung zu verlieren. In Afrika ist der Wille da, Bedeutung zu reklamieren. Zukunft zu gestalten. Der eine ist ein hadernder Kontinent, der sich des Platzes in der Welt nicht mehr sicher ist. Der andere ein zukunftshungriger Kontinent, der sich bewusst ist, dass seine Bedeutung nur wachsen wird.

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