Samstag, Oktober 5

Ausserdem in Venedig: Daniel Craig spielt queer.

Der Joker lacht, weil er nichts zu lachen hat. Das schallende Gelächter, in das er ausbricht, ist ein Schutz. Ein Abwehrmechanismus. Unter der Schminke des bösen Clowns steckt ein verzweifelter kleiner Mann namens Arthur Fleck. Joaquin Phoenix verkörperte ihn phänomenal. Vor fünf Jahren lieferte der Schauspieler eine Masterclass mit den Mundwinkeln. Sie brachte ihm den Darsteller-Oscar ein und «Joker» den Goldenen Löwen in Venedig.

Nun feiert die Fortsetzung, «Joker: Folie à Deux», an der Mostra Premiere, bevor sie im Oktober in die Kinos kommt. Der Titel meint eine symbiotische Psychose, ein Wahn zu zweit. Zusammen gestört ist weniger allein: Wegen guten Benehmens bekommt der inhaftierte Arthur Fleck einen Platz im Gefängnis-Chor, dort lernt er Harleen Quinzel (Lady Gaga) kennen.

Harleen, genannt Lee, erklärt, dass sie aus derselben Nachbarschaft komme wie Arthur. Sie habe das Haus ihrer Eltern abgefackelt, sagt sie stolz. «Ich habe meine Mutter umgebracht», bemerkt Arthur.

Für den Mord an fünf Menschen muss sich Arthur Fleck verantworten, nicht zuletzt hat er live vor der Kamera den Talkmaster Murray Franklin erschossen. Jetzt wartet er auf den Prozess. Bei den Menschen draussen im Moloch Gotham City ist der Psychopath mit der Clownsfratze zur abgründigen Ikone geworden. Seine Anwältin (Catherine Keener) will ihn freibekommen. Er sei schizophren, Arthur und der Joker seien verschiedene Persönlichkeiten. Sie plädiert auf vermindert schuldfähig. Aber ist er das wirklich, oder was geht in ihm vor?

Lady Gaga schenkt Wärme

Ein überraschend inwendiger Film ist das, der vor allem im Gefängnis und im Gerichtssaal spielt. Und im Kopf des Jokers, der sich hinter Gittern nach Lee sehnt. Der Regisseur Todd Phillips fokussiert auf den tragisch verliebten Arthur Fleck. «Folie à Deux» ist eine düstere, epische Ballade, die Lady Gaga gelegentlich fast zum Musical macht.

In seinen Phantasmagorien findet sich Arthur in Gesangsnummern mit Lee, in denen der Zigarettenrauch zwirbelt und die Big Band swingt. Lee ist eine abgründige Figur, aber Lady Gaga gibt der Brandstifterin, nun ja, viel Wärme. Gaga ist die perfekte Besetzung neben dem verstörenden Phoenix.

Joaquin Phoenix ist ein spezieller Typ. Die erfolgreiche Hollywoodkarriere hat ihm nie Sicherheit gegeben, macht es den Anschein. Von Presseterminen kennt man ihn als einen bemerkenswert nervösen Mann. Kürzlich hat er für Schlagzeilen gesorgt, weil er nur fünf Tage vor Produktionsbeginn eines neuen Films mit dem Meisterregisseur Todd Haynes aus dessen Projekt ausgestiegen ist. Offenbar hatte er kalte Füsse bekommen. Einen komplizierteren Versicherungsfall hat Hollywood länger nicht gesehen.

Bei der Vorstellung von «Folie à Deux» in Venedig will Phoenix nicht darüber reden. Aber er spricht davon, dass die Herausforderung für ihn auch bei «Joker» darin bestanden habe, «den Lärm im Kopf zu stoppen». Auf dem Set müsse er die Zweifel ausschalten, «gleichzeitig brauche ich die Angst, die Panik». Man sieht es ihm an, gerade die Unsicherheit macht seine beklemmende Darstellung des Jokers aus.

Er hat viele Kilos abgenommen, aber es soll kein Thema sein. Es sei affig, wenn Schauspieler stolz ihre Diäten ausbreiteten, gibt er zu verstehen. «Wir haben ihn mit Blaubeeren gefüttert», verrät Lady Gaga. Im Film klebt die Kamera zu Beginn auf Phoenix’ eingefallenen nackten Schultern, das Schlüsselbein drückt spitz durch die Haut.

Am Ende ist dieser zweite «Joker» auch ein Film über einen Mann, der zum bösartigen Volkshelden wird, aber die Erwartungen nicht auf seinen Schultern zu tragen vermag. Klug unterläuft der Regisseur Phillips den Hype. Nach dem ersten Film setzt er statt auf mehr Bombast auf nuanciertes Schauspielkino.

Daniel Craig queer in Mexiko

Die 81. Filmfestspiele von Venedig sind ein Schaulaufen der Stars. Überall bekannte Gesichter. Vor dem Restaurant raucht der Schauspieler Chris Pine eine Kippe, als eine italienische Familie auf ihn zusteuert: «You look like Brad Pitt!» Pine ascht die Zigarette und lächelt freundlich: «Thank you.» Ja, man kann schon einmal den Überblick verlieren bei den vielen Berühmtheiten hier.

Daniel Craig ist auch omnipräsent. Der Ex-Bond beweist als Gesicht eines Luxusbrands, dass er sich etwas traut: lustiger Seitenscheitel, bunter Strickpullover, Wanderschuhe. Auf den Mode-Plakaten sieht er aus wie Iggy Pop in queer.

Früher war «queer» ein Schimpfwort. Im Film «Queer», einer Burroughs-Verfilmung von Luca Guadagnino, gibt Craig einen einsamen schwulen Amerikaner im Mexiko der 1950er Jahre, der sich nicht diskriminieren lässt. Und umso promiskuitiver lebt. Dieser William Lee im weissen Leinenanzug und mit Fedora versumpft in Sex, Drogen und Rum and Coke.

Dann verfällt er dem jungen Eugene (Drew Starkey), der vielleicht schwul ist, vielleicht auch nicht. Während Lee schwitzig die Fransen in die Stirn fallen, sitzt der adrette Eugene immer cool in der Cantina. Er scheint nicht empfänglich für Lees Avancen, Lee kann ihn nicht lesen, aber auch nicht von ihm lassen. Die beiden machen sich nach Südamerika auf, um im Dschungel nach einer geheimnisvollen Pflanze zu suchen, von der man sich eine telepathische Wirkung verspricht. Nach dem Smash-Hit «Challengers» über einen sexy Dreier in der Tenniswelt ist dieser traumwandelnde Guadagnino gewiss nicht ganz so mehrheitsfähig. Aber so wie Artur und Lee faszinieren auch Eugene und Lee als «folie à deux».

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