Donnerstag, Oktober 10


Design-News

Am Salone del Mobile war dieses Jahr mehr denn je los. Im Trend liegen gerundete Formen, kuschelige Materialien und sanfte Farbpaletten. Viele Objekte erinnerten an die Formensprache der 1970er Jahre.

«Killing me softly»: So würde die Besucherin den diesjährigen Salone del Mobile zusammenfassen. Aus zwei Gründen: «Gekillt» wurde man durch die schiere Menge an Produkten und Veranstaltungen. Mit anderen Worten: Die Überforderung war vorprogrammiert. Die Zahlen bestätigen dieses Gefühl, denn es ist in der Tat so, dass dieses Jahr rund ein Drittel mehr Events als letztes Jahr stattfanden.

Der andere Grundtenor war Weichheit: gerundete Formen, kuschelige Materialien und sanfte Farbpaletten waren überall zu sehen. Als ob man der Brutalität der gegenwärtigen Ereignisse etwas entgegensetzen wollte. Abgesehen von den Farben erinnerten viele Objekte an die Formensprache der 1970er Jahre. Design erneuert sich zyklisch. Das ist auch bei Ideen der Fall, die schon vor fünfzig Jahren Appellcharakter hatten. Vielleicht ist der Peak des Wachstums nun wirklich erreicht. Mehr geht definitiv nicht.

Was am Salone del Mobile besonders auffiel:

1. Durch die anthropologische Brille blicken

Die schwindelerregende Fülle an materiellen Gütern, auf die man beim Besuch des Salone del Mobile trifft, gibt zu folgendem Gedankenexperiment Anlass: Angenommen, die Menschheit würde nicht mehr existieren, und es blieben als Spuren unserer Zivilisation nur die von uns erschaffenen Objekte zurück, was würden die Überreste unserer materiellen Kultur über uns aussagen?

Könnten andere Wesen überhaupt verstehen, wofür diese Dinge gut gewesen waren? Wären sie eine Art Kodex, welcher die Geheimnisse unseres Daseins auf diesem Planeten offenbaren würde? Wären sie als funktionale Alltagsgegenstände lesbar oder eher als Fetische eines opaken Kultes?

So weit in die Zukunft muss man gedanklich gar nicht abschweifen. Ebenso könnte man sich nämlich fragen, was ein Tier heute von einem Stuhl hält. Überhaupt: Weshalb sitzen wir, wenn daraus nur Rückenschmerzen resultieren? Bei aller Absurdität, ihren Reiz hat diese jährliche Anhäufung materieller Artefakte trotz allem. Durch eine anthropologische Brille betrachtet, lassen sich nicht nur Rückschlüsse auf unser Verhalten ziehen. Man kann sich ebenso an der kultischen Schönheit dieser Dinge ergötzen.

2. Erdverbunden, sowohl farblich als auch materiell

Nicht nur farblich waren Erdtöne omnipräsent in den Kollektionen der Designbrands. Gerade die italienischen Hersteller zelebrierten zeitlose Terracotta-Farben oder das klassische Cognac, etwa bei Leder. So gesehen bei Rimadesio, Minotti, Poltrona Frau, Flexform oder Poliform.

Erde als Material bildete auch mit Keramikobjekten in den Showrooms und auf den Ständen an der Messe eine Konstante. Und eine raumfüllende Installation, die nur aus italienischen Steinen und Erde bestand, führte die Vielfalt an Materialien vor, aus denen unser Planet besteht.

Aber es ging natürlich auch um Formen. Und zwar um ganz spezifische, nämlich um die Muster auf den legendären Jockey-Shirts, die an die Anfänge von Hermès erinnern sollten. Die sechszehn steinernen Rechtecke nahmen Motive auf, die bis heute in Foulards oder Plaids vorkommen. Damit betonte die französische Luxusmarke die Grundwerte und die Identität, die sie ausmachen. Zugleich konnte diese kunstvolle Steinassemblage als Hommage an die wunderschönen Böden gelesen werden, auf die man in Milano überall trifft. Worauf gehen wir? Und wer sind wir Erdbewohner und Bewohnerinnen? Diese Fragen kann auch Design stellen.

3. Glas – in vielen Darstellungsweisen

Glas ist ein faszinierender Werkstoff. Weil er flüssig geformt wird, sind die Möglichkeiten seiner Verarbeitung unendlich. Er kann prosaisch-platt in standartisierten Produkten wie Fensterscheiben vorkommen oder aufwendig von Hand gefertigt in filigranen ornamentalen Gebilden, wie man sie etwa aus Venedig kennt. Dort wird dieses Handwerk nach wie vor gepflegt, auch wenn es für die kleineren Glasmanufakturen zunehmend schwierig wird, sich über Wasser zu halten.

Die beiden gegensätzlichen Aspekte von Glas haben ihren Reiz und werden heute in der Designwelt neu entdeckt und erforscht. In Milano aufgefallen sind drei Projekte mit Glas: «Seiliniee» vom Zürcher Studio Salienti, «Float» von Mailänder Büro 6:AM und die zwei Entwürfe von nendo und Formafantasma für die Firma WonderGlass.

Walter Toccaceli und Matteo Messinese haben beide in Venedig studiert (der eine Architektur, der andere Grafik und Produktdesign) und zogen später nach Zürich. 2021 gründeten sie ihr gemeinsames Studio Salienti. Für ihr Glasprojekt entwickelten sie ein modulares System von sechs Holzgussformen. Aus der Kombination der verschiedenen Linien – deswegen der Name «sei linee», zu Deutsch sechs Linien – ergibt sich eine Vielzahl von möglichen Formen. Die limitierte Serie wurde im Oktober 2023 auf der Insel Murano in Venedig gefertigt. Jede Vase ist ein Einzelstück und trägt wunderschöne Spuren vom Prozess seiner Herstellung. Die Stücke wurden im Rahmen der Ausstellung «Joy» im «House of Switzerland» gezeigt.

Für ihre Kollektion «Float» verwandelte das Büro 6:AM industrielles Glas in handgefertigte Objekte. Häufig kann solches Glas nicht recycelt werden, da es beschichtet ist. Durch ihr Netzwerk in der Architektur gelangen die beiden Gründer von 6:AM immer wieder an altes Glas aus Baustellen. Aus mehreren unterschiedlich gefärbten Glasschichten stellten sie für die aktuelle Kollektion Tische, Regale und Wandpaneele her.

Trotz dem minimalistischen und industriellen Looks der Entwürfe zeigen die Stücke die Spuren ihrer Herstellung, was ihnen die Aura von handwerklich Gemachtem verleiht. Präsentiert wurde dieses Projekt in dem von Andrea Caputo gegründeten Design- und Architektur-Zentrum «Dropcity», das sich in alten Tunnelräumen hinter dem Bahnhof von Milano befindet.

4. Wenn Architektur und Design eine Symbiose eingehen

Architektur und Design sind in gewisser Weise verwandt, auch wenn sie mit ganz eigenen Problemen konfrontiert sind und andere Parameter sie prägen. Doch immer wieder zeigen sich Synergien. Davon zeugen diese drei Projekte:

Der Armenier Noro Khachatryan gründete nach seinem Architekturstudium 2010 studiokhachatryan in Brüssel. Diesen Architektur-Hintergrund sieht man seinen Entwürfen an. Sie verbinden nicht nur beide Disziplinen, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart.

Zentrales und verbindendes Gestaltungsmerkmal aller Möbel der Volkshaus-Serie von Herzog & de Meuron für ClassiCon ist der Punkt, an dem sich die CNC-geschnittenen Holzbeine kreuzen und ineinandergreifen. Diese Holzverbindung erscheint einfach, ist aber hochkomplex. Sie entstand im Rahmen eines vertieften Forschungsprozesses des Basler Architekturbüros. Weitere Stücke aus der Feder des renommierten Studios waren bei 10 Corso Como in der von Capsule Plaza organisierten Ausstellung zu sehen.

Ebendort appelliert Ecco Leather, ein Unterbrand des bekannten dänischen Schuhunternehmens Ecco, mit der Ausstellung «Material Matters» an die Wichtigkeit von nachhaltig produziertem Leder in der Schuhindustrie. Die ausgestellten Stücke wurden teilweise von Architekturbüros gestaltet – darunter Studio Anne Holtrop und NM3 – und mit den speziell von Ecco entwickelten Lederarten hergestellt. Auch die Designerin Natacha Ramsay-Levi steuerte einen Entwurf bei.

5. Oki Sato alias nendo: Design-Star ohne Allüren

Der japanische Designer Oki Sato wird auch Mister nendo genannt. Dabei heisst nur das von ihm 2002 gegründete Designstudio so. Aber der Name sagt schon viel aus. Der Begriff bedeutet auf Japanisch «aus Ton». Oki Sato beherrscht jedes Material. Er könnte auch Luft in Design verwandeln, hat man den Eindruck. Jedenfalls ist jedes Projekt (ob Möbeldesign, Grafik, Architektur oder Innenarchitektur) aus der Hand des Tokioter Studios irgendwie magisch.

Gutes Design sei dadurch gekennzeichnet, dass auch Kinder oder alte Menschen es verstünden, glaubt der Designer. Er hätte ob den vielen Preisen, die er schon gewonnen hat, allen Grund einen roten Teppich zu erwarten bei seinen Auftritten in der Welt des Designs. Stattdessen sieht man ihn in immergleicher Kleidung (schwarzer Anzug mit langem Jackett und weisses Hemd) ganz ohne Starallüren mit Menschen reden.

In Milano führte die Ausstellung «whispers of nature» im Industriekomplex von Paola Lenti seine poetische und zugleich radikale Entwurfshaltung durch fünf Objekte vor. Alle seine Projekte seien in der Natur verwurzelt, sagt Oki Sato. Seit zwanzig Jahren nimmt der Japaner schon am Mailänder Salone teil. Er ist mittlerweile integraler Teil dieses Events, doch tut dies ohne dem üblichen Traritrara. Dabei ist die Liste seiner Kunden so endlos wie ein Möbiusband. Am diesjährigen Salone waren neue Entwürfe von nendo auch bei Minotti oder WonderGlass zu entdecken.

6. Faye Toogood: Gefragter denn je

Faye Toogood mag es nicht, in eine Schublade gesteckt zu werden. Sie sieht sich als Outsiderin, die sich frei zwischen Möbel-, Objekt-, Mode- und Interior-Design bewegt. Zudem ist sie auch künstlerisch tätig. Nach einem Studium der Kunstgeschichte war sie eine Zeit lang als Redakteurin bei einer Design- und Architekturzeitschrift tätig, bevor sie 2008 ihr eigenes Studio gründete.

Seither hat sie eine eigene Handschrift entwickelt und scheint zurzeit gefragter denn je. Sie verkauft ihre Entwürfe auf einer eigenen Plattform, geht aber regelmässig auch Kollaborationen mit anderen Brands ein. Dieses Jahr waren ihre Stücke in Milano bei CC-Tapis, Tacchini, Poltrona Frau und Varnii zu sehen. An der Preview von «Rude Arts Club» mit ihren Stücken für CC-Tapis und Tacchini trat sie in einem selbstentworfenen pink-gestreiften Kleid auf. Die Modelinie entwirft sie in Zusammenarbeit mit ihrer Schwester Erica.

7. Eine Hommage an Designerin Cini Boeri

Schon die Formen sind weich. Doch mit diesen Bezügen erst recht! Anlässlich des Salone arbeitete Loro Piana Interiors mit dem Archivio Cini Boeri zusammen und lanciert eine Serie von fünf limitierten Möbelstücken, die mit Loro Piana Textilien bezogen sind.

Die Ausstellung ist ein Tribut an die Modernität der Entwürfe der italienischen Designerin Cini Boeri (1924 – 2020), die heute Ikonen des italienischen Designs der Nachkriegsjahre darstellen. Boeri war ausgebildete Architektin und arbeitete im Büro von Gio Ponti, bevor sie sich 1963 selbständig machte. In den 1970er-Jahren schuf sie unter anderem mehrere Entwürfe für die Firma arflex.

8. Martino Gamper für Rubelli

Man nehme drei Rückenlehnen, drei Sitzflächen, drei Armlehnen und drei Seitenstücke. Sprich: zwölf Module. Kombiniert man diese, resultieren daraus 81 verschiedene Sessel. Mit dem Sessel «Figura» tat der Südtiroler Designer Martino Gamper genau das. Dass er dies im Auftrag des den Stoffherstellers Rubelli tat, legt noch einen obendrauf. Denn die Textilien des venezianischen Hauses sind selbst schon fast Kunstwerke.

Bei diesem Sessel haben Käufer die Qual der Wahl: 24 Farben für die Samtstoffe, je 30 Farbvarianten zweier Tweed-Stoffe sowie 30 verschiedene Baumwoll-Leinen-Textilien stehen zur Verfügung. Das vervielfacht die Möglichkeiten noch. Der Entwurf schafft zudem eine Brücke zwischen dem historischen Savoir-faire der Firma Rubelli und zeitgenössischem Design. Und wie macht das Gamper? Indem er sich die künstlerische Freiheit nimmt, mit der Vergangenheit zu brechen.

9. Ein verspiegelter Esstisch wie ein geselliges Phantom

«Der Tisch möchte unsichtbar sein und den Dingen in der Nähe etwas zuflüstern. Die Kombination aus grosszügigen, verspiegelten Volumen, die mit Goldschimmer beleuchtet sind, erzeugt einzigartige Lichtstreuungen und filtert unsere Realität durch seine warmen, einladenden Töne. Der gesellige Akt des Essens wird in einem Objekt zelebriert, das unsere Gesichter, ein Lächeln, die Gespräche und das Essen selbst widerspiegelt: alles spiegelt sich in einer Oberfläche, die zum Bühnenbild unserer Geselligkeit wird», sagt Designer Jacopo Foggini über seinen Tisch für Edra.

10. Die Macht der Vorstellungskraft

Der italienische Brand Poltrona Frau widmete seine aktuelle Kollektion dem Konzept der Vorstellungskraft und deklinierte das Motto in sechs Unterthemen, die unterschiedliche Aspekte von Imagination beleuchteten: Imagine Reality, Imagine Softness, Imagine Culture & Crafts, Imagine Boundless Living, Imagine Versatility und Imagine Well-Being.

Imagine Reality interpretiert den Signature-Sessel von Poltrona Frau – den «Vanity Fair XC» – neu. Und zwar in einer surreal-traumhaft anmutenden limitierten Edition, die in Zusammenarbeit mit Fornasetti entstand. Auch im Design kann Neues nur aus disruptiven Prozessen entstehen. Sich etwas vorzustellen, heisst aus nichts etwas entstehen lassen.

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