Sonntag, Oktober 6

In Ostdeutschland sind Wahlen, und die ewig schwierige Debatte zwischen Identität Ost und Ignoranz West bricht wieder auf. Haben die Deutschen nichts dazugelernt?

Der Osten Deutschlands? Im Normalfall interessiere dieser so sehr «wie die Rückseite des Mondes», aber bei Wahlen beobachte man jedes Mal «das grosse Zittern», als würden «mongolische Heerscharen vor den Toren Europas stehen», stellte Dirk Oschmann in seinem Buch «Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung» 2023 fest. An diesem Wochenende stehen in Thüringen und Sachsen sowie am 22. September in Brandenburg Landtagswahlen an, und der Deutungskampf tobt.

«Phu, der Osten!», seufzte die «FAS» vergangenen Sonntag und benannte – eher selten in der ewig schwierigen deutsch-deutschen Debatte – dann doch den tieferen Grund für die Hinwendung der Ostdeutschen zu populistischen Parteien wie der AfD und nun dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die sich gegen das bestehende System richten und sich Putins autokratischem Russland zuwenden wollen: «Er liegt in der DDR.»

Was in Fachkreisen nie angezweifelt wurde, was Autoren wie Ilko-Sascha Kowalczuk («Die Übernahme»), Dirk Oschmann, Ines Geipel («Fabelland»), Steffen Mau («Ungleich vereint») oder Juliane Stückrad («Die Unmutigen, die Mutigen») seit Jahren thematisieren – die ambivalente Identitätssuche, die Kränkungen, die Wut, die Fremdenfeindlichkeit, die historische Kontinuität zweier Diktaturen im Osten und die mangelnde Aufarbeitung –, das alles interessierte die etablierte Politik kaum.

Nun bekommen allen voran die Grünen und die SPD von den Wählern die Quittung dafür, dass sie das Phänomen Ostdeutschland ignorieren und sich lieber mit Regenbogen- und Genderpolitik beschäftigen, Fragestellungen, die einem Malermeister in der Oberlausitz wurscht sind. Die AfD hat Themen wie Migration, innere Sicherheit, Arbeitslosigkeit, Corona-Politik auf ihre Art besetzt und die Ostdeutschen geschickt abgeholt: Umfragen prognostizieren der Rechtsaussenpartei AfD 30 Prozent der Stimmen. Die Ursache liegt in einer Mischung aus postsozialistischer Entwicklung und reaktiver gesamtdeutscher Abwehrhaltung.

Der Osten interessiert nicht

Es war eine Fehlannahme, dass man die rückwärtsgewandte, national gestimmte und nun zunehmend überalterte ostdeutsche Gesellschaft in ihrem Rückzug und ihrer Verklärung der DDR einfach in Ruhe lassen könnte. Warten, bis es vorbeigeht: Diese Ignoranz dürfte nun nicht in die Wahlurne einzahlen.

Auch die medialen Beschwörungen im Vorfeld der Wahlen vom «Stresstest für die Demokratie» bis hin zur Frage, ob extrem «das neue Normal» sei, helfen nicht, die Debatte zu versachlichen. Indem man den Osten negativ definiert, schreibt man ihm Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit oder Demokratieskepsis exklusiv zu und hält diese von sich selber fern. Das ist der eine, vom Leipziger Literaturprofessor Oschmann 2023 gut beleuchtete Teil des innerdeutschen Verhältnisses, bei dem der Osten zur «Erfindung des Westens» wurde. Ein wirkliches Interesse, was den Osten ausmacht und wie man ihn einfangen könnte, existierte nie.

Rund dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall braucht es eine Debatte darüber, weshalb die Transformation im Osten viel länger dauert, als man dachte, und weshalb die Auswirkungen der kommunistischen Diktatur bei den Menschen viel tiefere Spuren hinterlassen haben, als die Deutschen wahrhaben wollen.

Es gibt neben der despektierlichen Behandlung des Ostens durch den Westen noch ein zweites Faktum, das der Entwicklung in Ostdeutschland bis heute zugrunde liegt. Es ist die sozioökonomische Verheerung einer ganzen Generation, die 1990 zu jung war, um in die Rente zu gehen, aber zu alt, um sich wirklich neu zu orientieren: Die 1940er und 1950er Jahrgänge waren in der Transformation echt gekniffen. Im Gegensatz zu jenen vielen, für die der Mauerfall ein glückliches Ende nahm, bekamen sie nie die Chance, ein Leben jenseits sozialstaatlicher Unterstützung zu führen. An dieser Stimmungslage pflegen dann auch die positiven wirtschaftlichen Erhebungen abzuprallen, wonach der Osten infrastrukturell und wirtschaftlich zum Westen aufgeholt oder diesen sogar überholt hat.

Ilko-Sascha Kowalczuks Rundumschlag

Woran aber liegt es, dass die Mehrheit der Ostdeutschen zwar ihre wirtschaftliche Situation als gut beziehungsweise nur geringfügig weniger gut als im Westen bezeichnet und dann trotzdem so viele angeben, die AfD oder das BSW wählen zu wollen?

Die ostdeutsche Befindlichkeit scheint sich aus dem Gefühl zu nähren, durch den Transformationsprozess abgehängt zu sein und gleichzeitig in dieser herausfordernden Problematik nicht anerkannt zu werden. Der Soziologe Detlef Pollack konstatiert «eine Affektlage des Protests und des empörten Aufbegehrens», die aus Kränkungen, Erniedrigungen und Unmut resultiert. Eine beachtliche Minderheit sei vom «Underdog-Syndrom» erfasst und verschliesse sich in einer gefühlten Mischung «zwischen politischer Ohnmacht und moralischem Überlegenheitsgefühl» gegen alles, «was von oben kommt».

Die dritte Erzählung im innerdeutschen Konflikt handelt davon, dass der Osten nie nach Westen wollte. Ilko-Sascha Kowalczuk analysiert in seinem neuen Buch «Freiheitsschock» die autoritären Traditionsmuster, die bis heute fortwirken. Es ist nicht neu, was der Historiker schreibt, aber es sollte aufs Neue zu denken geben: Wenn sich laut Umfragen gegenwärtig die Hälfte der Ostdeutschen vorstellen kann, ihre Stimme einer Partei wie der AfD zu geben, dann ist das auch in den Erfahrungen der sozialistischen DDR-Diktatur begründet.

Dabei spielt es laut Kowalczuk weniger eine Rolle, dass viele sich nicht gegen das Grundgesetz, sondern gegen die konkrete Politik aussprechen. Diese werde als abgehoben empfunden, man fühle sich nicht von ihr vertreten. Wo die DDR eine von der Einheitspartei erzwungene Konsens-Gesellschaft war, hätten die Bürger sich gefügt, um ihre Ruhe in der Diktatur und gleichzeitig vom Staat eine durchregulierte Rundumversorgung zu haben.

Der Grossteil der Gesellschaft, schreibt Kowalczuk, habe sich in diesem System «unterwürfig, autoritätshörig, angepasst, mitmachend, angstvoll und häufig aktiv das Regime vielfältig unterstützend» eingerichtet. Dabei hätten die Ostdeutschen nicht gelernt, «wie repräsentative Demokratie funktioniert, was Pressefreiheit bedeutet, wozu eine Zivilgesellschaft nötig ist, warum die im Grundgesetz verankerte Parteiendemokratie sowie Freiheit und Demokratie auf das Mittun» angewiesen seien.

Aufgrund solcher kultureller Kontinuität hat sich im Osten auch keine breite Zivilgesellschaft herausgebildet. Zudem würden ehemalige Mitläufer und Stützen des SED-Systems bis heute ihr Mittun in der Diktatur mit politischem Engagement verwechseln und nun bekunden, sie hätten «ein für alle Mal genug davon».

«Kommt die D-Mark nicht zu uns . . .»

Es wäre also laut dem Historiker trotz der grundsätzlich grossen ostdeutschen Skepsis gegenüber Institutionen und Politik ein Missverständnis, die ostdeutsche Gesellschaft als «hochgradig politisch» zu verstehen, wo angeblich keine Gesellschaft «so unpolitisch, so desinteressiert an ihren eigenen Rahmenbedingungen wie die ostdeutsche nach 1990» gewesen sei.

Wo das Leben in der Demokratie heute im DDR-Vergleich anstrengender sei, weil es ständig Entscheidungen abfordere, belebt sich der Wunsch nach einem starken Staat. Diesen bedienten sowohl die AfD als auch das BSW, nicht zuletzt mit ihrer Russland-Nähe. Dem Klischee, wonach alle AfD-Wähler rechtsextrem seien, widerspricht Kowalczuk entschieden.

Aus alldem spricht auch die Enttäuschung des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers, der sich darüber ärgert, dass man heute «den Ostdeutschen» die Revolution von 1989 zuschreibe. Dabei sei es doch eigentlich nur eine kleine oppositionelle Minderheit gewesen, die «alles riskierte für die Freiheit», konstatiert Kowalczuk.

Tatsächlich konnte, wer kurz nach dem Mauerfall an den Montagsdemos in Leipzig teilnahm, dabei zusehen, wie die Parolen «Wir sind das Volk» oder «Stasi in die Produktion» gekippt wurden und die Protestierenden stattdessen skandierten: «Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr.» Allerdings ist es auch normal, wenn sie im Osten angesichts der DDR-Mangelwirtschaft erst einmal den Wohlstand aufholen wollten, um die konkrete Lebenssituation zu verbessern.

In jenen Tagen sahen sich Vertreter der Bürgerbewegung wie Kowalczuk schon mit Buhrufen konfrontiert, weil sie für eine andere DDR plädierten, ihren Staat selber in Ordnung bringen wollten und einem sofortigen Beitritt zur BRD skeptisch gegenüberstanden. Das mag der eine Grund für Kowalczuks Ressentiments sein, der den sachlichen Duktus hin und wieder verlässt und andere Meinungen in unsouveränen persönlichen Attacken partout nicht gelten lassen will. Die einen machen in seinen Augen die Ostdeutschen zu «nicht handlungsfähigen Objekten» (Oschmann), die anderen, jüngeren, die sich aus einer persönlichen Perspektive zu Wort melden, seien der reinen Verklärung anheimgefallen (wie die Autorin Jenny Erpenbeck oder die Schauspielerin Sandra Hüller).

Wie Kowalczuk sind die meisten ehemaligen Bürgerrechtler den Sozialdemokraten und Grünen nah, und denen schwimmen derzeit in Ostdeutschland die Felle davon. Es zeigt sich hier auch, wie ungnädig und wenig konstruktiv der Diskurs unter den Ostdeutschen intern verläuft, obwohl die diversen Bestandesaufnahmen sich in ihrer grundsätzlichen Diagnose gar nicht gross widersprechen.

Björn Höcke fährt jetzt Simson

Die Transformation in Ostdeutschland hat viele Wunden hinterlassen. Das Trauma der 1990er Jahre wirkt bis heute nach. Auch wenn die nachfolgenden Generationen die DDR nicht mehr erlebt haben, glaubt Detlef Pollack, dass sie die Probleme danach stark geprägt haben: Sie mussten unter anderem mit ansehen, wie ihre Eltern beruflich scheiterten. Die Folge ist eine Ostidentität in dem «Selbstverständnis, Bürger zweiter Klasse zu sein», sagt Pollack. Dieses «ostdeutsche Sonderbewusstsein» sei ein Resultat eines verfestigten Ressentiments. Es sei deshalb wichtiger, «auf die Geschichte und auf die aus ihr resultierenden Kränkungserfahrungen zu schauen als auf sozialstrukturelle Bedingungen».

Vielleicht war im Westen auch das Bewusstsein zu wenig vorhanden, dass man mit der Wiedervereinigung die alten bundesrepublikanischen Verhältnisse einer liberalen Demokratie zwangsläufig verliess.

Mittlerweile feiern auf sozialen Plattformen viele wieder eine DDR, die es so nie gab. Auf dieses hochpolierte nostalgische Moped springt nun locker auch ein Björn Höcke auf. Der thüringische AfD-Spitzenkandidat, Landes- und Fraktionsvorsitzende knattert auf Wahlplakaten mit einem hochpolierten Simson-Motorrad durch die Landschaft unter dem Motto «Wir lassen uns von den Grünen den Spass nicht verbieten». Unterdessen warnt im tiefen Westen Hamburgs die dortige Grünen-Justizsenatorin vor dem Einzug des «Faschismus».

Es ist nicht so schwer, sich vorzustellen, was einen mehr anzieht, wenn man das Gefühl hat, auf der dunklen Seite des Mondes zu sitzen.

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