Freitag, November 29

Die Bundesregierung hat die Konjunkturprognose für 2024 erhöht – von 0,2 auf 0,3%. Anlegern kann die Nullkomma-Flaute egal sein. Allein in der ersten Maiwoche berichteten mehrere deutsche Börsenunternehmen von starkem Wachstum: Fielmann, Nemetschek und Rational.

Wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck über die Konjunktur spricht, müssen die Zuhörer stets bangen und hoffen, dass seine Ministerialbeamten ganz genau gerechnet haben. Denn ob das deutsche Bruttoinlandprodukt wächst oder schrumpft, kann fast schon von einem Rundungsfehler nach dem Komma abhängen. Derzeit kalkulieren sie mit 0,3% für das laufende Jahr, so wenig wie nirgends sonst in Europa.

Die Konjunkturschwäche hat Folgen für die Bewertung deutscher Aktien. Besonders für kleinere Unternehmen, die oft einen beträchtlichen Anteil des Umsatzes auf dem Heimatmarkt erzielen. Nebenwerte werden weltweit seit langem von Anlegern verschmäht, die sich lieber auf Titel von Nvidia, Microsoft, Novo Nordisk und SAP stürzen. Doch kein anderer Nebenwerte-Index des Datenanbieters MSCI hat in diesem Zeitraum so sehr gelitten wie der deutsche.

Schwache Konjunktur, schwache Börse: Das wirkt auf den ersten Blick stimmig. Doch es verkennt die Resilienz vieler deutscher Unternehmen, auch unterhalb des Dax 40.

Allein in der ersten Maiwoche legten drei Gesellschaften Geschäftszahlen vor, deren Umsatz zuletzt um mehr als 5% oder sogar um mehr als 10% gewachsen ist: die Optikerkette Fielmann, der Anbieter von 3-D-Designsoftware Nemetschek und der Hersteller von Profiküchengeräten Rational. Auch für die kommenden drei Jahre sind die Aussichten gut. Denn die drei Unternehmen warten nicht auf Besserung aus Berlin. Sie expandieren seit Jahren international – und setzen auf starke Trends, die ihnen auch bei schwacher Konjunktur steigende Nachfrage bescheren.

Fielmann: ein Schulterzucken für die Politik

Unternehmenseigentümer Marc Fielmann ist natürlich auch genervt davon, dass sein Heimatland wirtschaftspolitisch nicht in die Gänge kommt. Das sagt der 34-Jährige am 30. April beim Buffet in einem privaten Aufnahmestudio im Norden Hamburgs, nachdem er gerade die Bilanzpressekonferenz vor Journalisten und als Livestream bewältigt hat. Trotzdem hat sein Unternehmen (Familienanteil: 73%) den Umsatz 2023 um 12% gesteigert auf fast 2 Mrd. €. Der Jahresüberschuss kletterte noch rascher empor, um 19% auf 131 Mio. €. Denn das Altern der Gesellschaft sorgt für immer mehr Brillenträger und somit mehr Kundschaft.

Der Jungmilliardär, dessen Vater Günther Anfang Januar mit 84 Jahren gestorben ist, muss das Familienunternehmen nun ohne den Rat des Gründers führen. Wegen seiner schmalen Statur wirkt der Hamburger eher noch jünger, als er ist. Doch er scheint sich wohlzufühlen in seiner Rolle und zeigt keine Unsicherheit, als er erläutert, wohin es mit Fielmann gehen soll: hinaus in die weite Welt.

Jede zweite Brille in Deutschland stammt von Fielmann

«Wir sind auf dem Weg zu einem Auslandanteil von 50%», sagt Fielmann. Im Schlussquartal 2023 kamen noch 65% des Umsatzes aus dem Heimatmarkt. Allerdings waren es 2019 sogar fast 80% gewesen, bevor er die Internationalisierung forcierte.

In Deutschland wurde 2023 jede zweite Brille von Fielmanns Optikern angepriesen, angepasst und verkauft. Auch ohne Konjunkturschwäche wären bei einem solch hohen Marktanteil die Wachstumschancen begrenzt.

Längst messen die «Fielmänner» deshalb auch in der Schweiz (44 Filialen), Österreich, Italien, Polen und Tschechien die Sehstärke der Kundschaft. «Wir sind die Nummer zwei in Spanien und die Nummer eins in Michigan. Der US-Bundesstaat ist so gross wie Österreich», frohlockt der Konzernchef.

Nulltarif goes America

Auf dem US-Markt sieht Fielmann besonders grosse Chancen. Vergangenes Jahr hat das Unternehmen dort zum Einstieg eine Optikerkette gekauft. Die Investitionen haben sich auch deshalb fast verdoppelt auf 268 Mio. €. Bezahlt wurde das hauptsächlich aus dem Cashflow, was etwas zulasten der Dividende gegangen sei, wie der neue Finanzchef Steffen Bätjer sagt.

«In den USA haben wir ein Déjà-vu», sagt Fielmann. Die Kunden seien nicht nur unzufrieden, sondern geradezu frustriert. Sie müssten oft wochenlang auf einen Termin warten und bekämen dann kaum Brillen zum Nulltarif angeboten. Mit dem Nulltarifversprechen hatte Günther Fielmann den durch selbständige Optiker in weissem Arztkittel geprägten deutschen Markt seit den Sechzigerjahren aufgerollt.

Was den Jungchef besonders begeistert: In den USA bekommen die meisten Bürger alle zwei Jahre eine neue Brille von ihrem Krankenversicherer erstattet (was es in Deutschland und der Schweiz längst nicht mehr gibt). Deshalb werden dort jährlich 98 Mio. Brillen verkauft, achtmal so viele wie in Deutschland. «In den USA gibt es ein sehr, sehr grosses Potenzial, das wir über organisches Wachstum und durch Übernahmen heben können», sagt Fielmann. Die grössten zehn Anbieter haben dort gerade einmal 21% Marktanteil.

Der Fielmann-Patron gehört zu den wenigen Einzelhändlern, die Amazon und andere Onlinekonkurrenten nicht fürchten. Er bietet selbst im Internet Dienste wie das Vermessen der Kopfgrösse für Sonnenbrillen an. Aber die meisten Kunden sollen schon in die Filiale kommen. «In Deutschland fahren Sie zehn Minuten, finden einen Fielmann-Optiker, bekommen einen Sehtest und kaufen eine Brille für 17 €», sagt er stolz. «Viel Spass beim Onlinesuchen: In der Qualität und zu dem Preis finden Sie das dort nicht.»

Beim ehrgeizigen Margenziel droht eine Enttäuschung

Bei einem selbst gesetzten Ziel droht Fielmann jedoch die Investoren zu enttäuschen. «Bis 2025 wollen wir 25% Ebitda-Marge erreichen», sagt der Finanzchef, fügt aber hinzu: «Schauen wir mal, wie weit wir kommen in einem Umfeld, das nicht hilfreich ist dabei, die Marge zu steigern.»

Das Unternehmen habe viele fixe Kosten, zum Beispiel die Gehälter der Augenoptiker, konstatiert der junge Patron. Die Produktivität werde steigen, «sobald sich das Geschäft etwas belebt». Mittelfristig wächst der Anteil der margenträchtigeren, weil komplexer herzustellenden Gleitsichtbrillen aufgrund der alternden Gesellschaft. Auch hilft die Zentralisierung der Brillenfertigung auf wenige Standorte wie Rathenow an der Havel. 2024 sollen 65% der Brillen zentral gefertigt werden, nach 54% im Vorjahr. Mittelfristig beträgt das Ziel 80%.

Für das laufende Jahr prophezeit der Finanzchef eine ähnliche oder leicht höhere Ebitda-Marge wie 2023, als sie knapp 21% betrug. Die Rückkehr zu den 25%, die Fielmann 2019 ausgewiesen hatte, bis 2025 dürfte also schwierig werden, zumal der Eigentümer und Chef nicht mit der Sense durch die Firmenzentrale laufen wird, um die Zielerreichung zu erzwingen. Die beim Datenanbieter S&P Capital IQ erfassten Analysten glauben ohnehin nicht daran: Sie prophezeien für 2025 eine Ebitda-Marge von lediglich 22%.

Falls das Unternehmen sein Margenziel für 2025 kappt, könnten Investoren das als Gewinnwarnung verstehen. Es drohen in diesem Fall kurzfristig Kursverluste, die für langfristige Anleger eine Einstiegschance bieten würden. Ohnehin sind die Aktien nicht teuer, gemessen an der eigenen Börsenhistorie und im Vergleich zum deutlich grösseren Marktführer EssilorLuxottica.

Nemetschek: Wachsen mit der Digitalisierung des Bauens

Fast so eilig wie Fielmann prescht der Softwareanbieter Nemetschek voran. Der Umsatz wuchs im ersten Jahresviertel um 9%, währungsbereinigt waren es 10%. Die 3-D-Designsoftware der Münchener ist bei Architekten, Bauingenieuren und zunehmend auch beim Film und bei Videospieleherstellern gefragt. Im Vorjahr schaffte das Unternehmen mit 852 Mio. € Umsatz einen Jahresüberschuss von 161 Mio. €.

Die Digitalisierung von Baubranche und Immobilienverwaltung ist noch lange nicht am Ende. Der Preisrückgang am Immobilienmarkt erhöht den Druck, effizienter zu bauen und zu wirtschaften.

Die prägende Persönlichkeit bei Nemetschek ist seit einem Vierteljahrhundert Kurt Dobitsch. Seit 1998 gehört er dem Kontrollgremium an. Schon 2003 wurde er zum Vorsitzendem gewählt, damals noch an der Seite des Unternehmensgründers Georg Nemetschek, der dieses Jahr seinen 90. Geburtstag feiert. Ausserdem führt er die Räte beim Telekommunikationsanbieter United Internet an und sitzt auch beim IT-Dienstleister Bechtle im Aufsichtsgremium.

Mehr als 750% Rendite für Nemetschek-Aktionäre

Dobitsch wird dieses Jahr 70. Der Österreicher hatte als Manager bei Texas Instruments und Intel Karriere gemacht und als letzte operative Station das Deutschlandgeschäft des Computerherstellers Compaq geführt. Er versteht seine Kontrollfunktion bei Nemetschek recht aktiv.

Die Aktionäre können nicht klagen: Seit dem Antrittsjahr von Dobitsch als Vorsitzendem des Aufsichtsrats ist der Aktienkurs von Nemetschek von 11 Cent auf zuletzt 83 € hochgeschossen. Aus 1000 investierten Euro wären bis heute mehr als 750 000 € geworden.

Binnen zwei Jahrzehnten gelangen Dobitsch einige Volltreffer bei der Auswahl seiner Nemetschek-Chefs. Er scheute sich aber auch nicht, sie auszutauschen, wenn die Leistung nicht zu seinen Vorstellungen passte oder sobald ein anderes Anforderungsprofil nötig wurde.

Neues Führungsduo trainiert auf Effizienz

Seit 2022 ist der erfahrene IT-Manager Yves Padrines nun CEO. Sein Vorgänger Axel Kaufmann hatte den Chefjob nach nur zwei Jahren an der Spitze abgegeben. Seit Anfang 2023 steht dem ehemaligen Cisco-Manager Padrines die Finanzchefin Louise Öfverström zur Seite. Der Franzose und die Schwedin lenken ein Unternehmen, das nur noch gut ein Fünftel des Umsatzes in Deutschland erzielt.

Das Duo kommt voran mit der Strategie, von Lizenzen auf Abonnements umzustellen. Der Anteil des wiederkehrenden Abo-Umsatzes am Gesamtumsatz stieg im ersten Quartal auf 83% und hat somit schon fast die angepeilten 85% erreicht.

Die erfahrenen Manager konnten einen Anstieg der Ebitda-Marge von 28 auf fast 31% vermelden. Dobitsch dürfte zufrieden sein. Der Umsatz soll im Gesamtjahr um 10 bis 11% wachsen. Dabei könnte auch die Vereinbarung mit Marktführer Autodesk helfen, die Nemetschek-Programme kompatibel mit denen des US-Herstellers machen soll. Sonst scheint der grössere Wettbewerber zurzeit mit sich selbst beschäftigt zu sein: Er bleibt noch immer den per 1. April fälligen Geschäftsbericht schuldig, weil der Autodesk-Prüfungsausschuss die Buchhaltungsstandards untersucht.

Rational: Küchengeräte für eine Welt mit weniger Köchen

Bei einem weiteren bayrischen Unternehmen war in der ersten Maiwoche ebenfalls kaum etwas zu spüren von der Konjunkturflaute. Der Hersteller von Profiküchengeräten Rational wächst seit mehr als zwei Dekaden im Durchschnitt mit knapp 10% pro Jahr, so auch 2023. Der Aktienkurs ist in dieser Zeit um durchschnittlich 14% pro Jahr gestiegen.

Mit Kombidämpfern und Multikochsystemen von Rational können auch Menschen eine Mahlzeit zubereiten, die keine Kochausbildung genossen haben. Nachdem solch ein Gerät das Essen gegart hat, reinigt es sich auch noch selbst. Das ersetzt knappes (Fach-)Personal für Restaurantbetreiber. Deshalb ist sein Hersteller eines der wenigen Unternehmen, die vom Fachkräftemangel profitieren, statt darunter zu leiden.

Bei Kombidämpfern und Multikochsystemen haben die Bayern einen Weltmarktanteil von 50%. Wegen ihrer starken Marktposition und des grossen Nutzens für die Kunden kann Rational die gestiegenen Kosten gut weitergeben. In den zweieinhalb Jahren bis Ende 2023 hat sie die Preise um rund 10% jährlich erhöht.

Neben einem Umsatz von 1,1 Mrd. € im Vorjahr präsentierte das Familienunternehmen eine Ebitda-Marge von knapp 25%, zur Freude von Gründer Walter Kurtz sowie den Erben seines Co-Gründers Siegfried Meister. Die Familien halten zusammengerechnet eine Beteiligung von 55% am Unternehmen.

Im laufenden Jahr soll der Umsatz um einen mittleren bis hohen einstelligen Prozentsatz steigen. Das Wachstum von lediglich 1% im ersten Jahresviertel ist erklärbar durch die ausserordentlich hoch liegenden Vergleichswerte aus dem Vorjahr, als der Umsatz um 25% hochgeschossen war.

Der Aktienkurs von Rational ist seit 2000 von unter 40 € auf zuletzt mehr als 800 € geklettert. Im Ausverkauf waren die Titel schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie die gefragten Küchengeräte. Analyst Adrian Pehl vom Brokerhaus Stifel stufte die Valoren bei seiner Neuaufnahme ins Research im März trotz vielen Lobes für das Geschäftsmodell nur mit «Halten» ein. Langfristig orientierte Anleger sollten an die Weisheit des im November verstorbenen Charlie Munger denken, dass es kaum etwas Besseres gibt, als grossartige Unternehmen zu einem fairen Preis zu kaufen.

Nicht einmal der Rauswurf aus dem MDax durch die Deutsche Börse im März konnte den Kurs von Rational dauerhaft drücken. Der Grund für die Massnahme ist, dass Hans Maerz, der Vorsitzende des Prüfungsausschusses im Aufsichtsrat, schon mehr als zwölf Jahre im Amt ist, was dem Corporate-Governance-Kodex widerspricht. Nach dem lange angekündigten Rückzug von Maerz im Mai dürfte Rational schon im Juni wieder in den MDax aufgenommen werden.

Weiterwachsen wird Rational ohnehin, ebenso wie Fielmann und Nemetschek. Ganz egal, welche Konjunkturprognose Bundeswirtschaftsminister Habeck und seine Beamten in Berlin als Nächstes orakeln werden.

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