Sonntag, September 8

Opposition und Regierung sind sich im Grundsatz einig: Der Standort Deutschland hat ein Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit. Die Aussichten auf rasche und massive Abhilfe sind gleichwohl gering.

Die deutsche Wirtschaft schwächelt, das lässt sich nicht mehr wegdiskutieren. 2023 ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,3 Prozent geschrumpft. Im laufenden Jahr dürfte Deutschland laut der jüngsten Prognose der OECD mit einem BIP-Plus von 0,3 Prozent das schwächste Wachstum unter den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern aufweisen, sieht man vom Sonderfall Argentinien ab. Dieselbe Prognose erwartet für 2025 eine nur bescheidene Verbesserung.

Deutschland schwächelt

Prognosen Wirtschaftswachstum (BIP) 2024 in %

Als stark exportabhängige Volkswirtschaft leidet Deutschland mehr unter der weltwirtschaftlichen Schwäche als andere grosse Industrieländer. Doch hausgemachte Probleme kommen hinzu: Für Unternehmen, aber auch für qualifizierte Arbeitskräfte stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis des Standorts je länger, je weniger: Wer im internationalen Vergleich mit die höchsten Steuern erhebt, zugleich aber gemessen an Faktoren wie Bürokratie, Infrastruktur oder Energiepreise immer mehr zurückfällt, darf sich über sinkendes Vertrauen und geringe Investitionen nicht wundern.

Der Zwölf-Punkte-Plan

Immerhin ist die Botschaft inzwischen angekommen: Hatte der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz vor knapp einem Jahr noch von einem neuen Wirtschaftswunder dank Investitionen in den Klimaschutz phantasiert, mehren sich nun Warnungen aus der Ampelregierung. Sowohl der liberale Finanzminister Christian Lindner als auch der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck haben in den letzten Wochen Vorschläge zur steuerlichen Entlastung der Unternehmen gemacht – allerdings keine gemeinsamen.

Über das Wochenende hat die konservative Opposition nachgelegt: In einem den Medien zugespielten Brief an Scholz haben Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und Alexander Dobrindt, CSU-Vorsitzender im Bundestag, ein «Paket aus Sofortmassnahmen» gefordert. Sie listen insgesamt zwölf Massnahmen auf. Dazu zählt «eine spürbare Senkung der Belastung der Unternehmen, etwa über eine Senkung der Steuern für im Unternehmen verbleibende (thesaurierte) Gewinne auf ein wettbewerbsfähiges Niveau von 25 Prozent». Derzeit beträgt der Steuersatz, der sich aus mehreren Elementen zusammensetzt, gegen 30 Prozent.

Zu den weiteren Vorschlägen gehören die Begrenzung der Sozialabgaben bei 40 Prozent des Bruttoarbeitslohns, die steuerliche Begünstigung von Überstunden bei Vollzeitbeschäftigten und die dauerhafte Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum. Auch fordern die beiden Unionspolitiker, die «Steuererhöhungen für Landwirte» (gemeint ist die schrittweise Abschaffung der Steuerrückvergütungen für Agrardiesel) vollständig zurückzunehmen.

Daneben zielt der Brief auf die Bürokratie: Die Anwendung des deutschen Lieferkettengesetzes soll ausgesetzt und überarbeitet, die Zustimmung zur EU-Lieferkettenrichtlinie verweigert werden. Auch fordern Merz und Dobrindt die Einführung einer «Genehmigungsfiktion» bei Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie im Baurecht für den Wohnungsbau: Erteilen die zuständigen Behörden für ein genehmigungsfähiges Vorhaben nicht innert dreier Monate einen Bescheid, gilt es als genehmigt.

Kritik aus der «Ampel»

Aus der «Ampel» hagelte es naturgemäss Kritik. So wiesen Ampelpolitiker unter anderem darauf hin, dass sie einige der Unions-Forderungen bereits angegangen hätten, darunter die Senkung der Stromsteuer (die laut «Ampel» allerdings nur temporär gelten soll). Zudem blockiere die Union derzeit im Bundesrat (der Kammer der Bundesländer) das Wachstumschancengesetz, das ebenfalls Erleichterungen für Unternehmen vorsieht. Anfügen könnte man, dass das Lieferkettengesetz nicht etwa von der «Ampel» beschlossen worden ist, sondern unter der letzten, schwarz-roten Regierung Merkel.

Gleichwohl greift der Zwölf-Punkte-Plan vieles auf, was Unternehmen seit langem fordern. Auch die «Wirtschaftsweise» Veronika Grimm erklärt auf Anfrage, die Vorschläge für Steuersenkungen und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten gingen in die richtige Richtung. «Gerade in den Bereichen, in denen in die Transformation investiert werden muss, muss ein massiver Aufwuchs bei den Investitionen erreicht werden. Das gelingt nur, wenn Gewinne reinvestiert werden können und die Eigenkapitalbasis gestärkt wird.»

Woher das Geld?

Die Schwäche des Vorstosses liegt anderswo: Der Brief verliert angesichts der klammen Staatshaushalte kein Wort über die Gegenfinanzierung der Massnahmen. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verwies im Deutschlandfunk nur darauf, dass der Plan das Wachstum fördern und damit zusätzliche Steuereinnahmen generieren würde. Das ist zwar nicht falsch, aber dass sich die Massnahmen vollständig selbst finanzieren würden, ist unrealistisch.

Natürlich müsse man woanders sparen, sagt Grimm dazu: «Aber genau das ist sinnvoll – eine realistische Finanzpolitik anzustreben.» Hierzu müsse man die grossen Reformen angehen, insbesondere bei der Rente. Zur Gestaltung des Übergangs in der Finanzpolitik verweist Grimm auf den kürzlich vorgelegten Vorschlag der Wirtschaftsweisen zur Anpassung der Schuldenbremse. Diese setzt der staatlichen Neuverschuldung enge Grenzen; mit dem Vorstoss der Weisen würden die Spielräume etwas grösser.

Ungeklärt ist die Gegenfinanzierung auch bei Lindners Forderung, den Solidaritätszuschlag (Soli) ganz abzuschaffen. Der Soli ist einst zur Finanzierung des Aufbaus Ostdeutschlands eingeführt worden und wird inzwischen nur noch von Bezügern höherer Einkommen und von Unternehmen erhoben; seine Abschaffung wäre eigentlich überfällig.

Entlastung auf Pump?

Habeck wiederum hat vorgeschlagen, ein «Sondervermögen» einzurichten, um steuerliche Entlastungen in Form von Steuergutschriften und dergleichen zu finanzieren. Gemeint ist damit, dass der Staat zusätzliche Schulden an der Schuldenbremse vorbei aufnehmen und damit die Erleichterungen finanzieren würde. Doch die Schulden von heute sind die Steuern von morgen, der Spielraum für zusätzliche Schulden ist nicht allzu gross, will sich Deutschland Handlungsfähigkeit für künftige Krisen bewahren, und solche Nebenhaushalte machen die Finanzpolitik intransparent.

Viele Ökonomen halten eine umfassende Reformagenda mit Steuersenkungen und Bürokratieabbau für dringend, ähnlich der Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Dass noch in der laufenden Legislaturperiode ein solcher Wurf gelingt, ist indessen wenig wahrscheinlich: zu unterschiedlich sind die Positionen innerhalb der Ampelregierung, zu kurz ist die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl im Spätsommer oder Herbst 2025.

Auch die Form der derzeitigen Vorschläge spricht gegen rasche Erfolge. Glaubten Lindner und Habeck tatsächlich daran, würden sie zunächst hinter verschlossenen Türen um Kompromisse ringen. Stattdessen schlägt Habeck öffentlich ein Sondervermögen vor, von dem er weiss, dass es Lindner ablehnen muss. Ähnliches gilt für den Vorstoss der Union: Wer wirklich Zusammenarbeit sucht, schreibt nicht Briefe, die er zugleich an die Medien gibt.

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