Donnerstag, Januar 23

Russlands Propaganda verspricht enttäuschten Menschen im Westen ein besseres Leben. Einige erliegen den falschen Verheissungen.

Genüsslich berichten russische Medien von der angeblich tiefen Enttäuschung der Deutschen über das Leben in ihrem Heimatland. Sie mögen keinen Sexualkundeunterricht in den Schulen, keine Waffenlieferungen an die Ukraine und keine Migranten. Vor einigen Wochen verbreitete die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti, viele Deutsche erwögen, wegen der wirtschaftlichen Instabilität des Landes und der Migrationspolitik der deutschen Regierung und der Europäischen Union nach Russland zu ziehen. Sie berief sich auf Ralph Niemeyer, der Mitglied der rechtsextremen Reichsbürger-Bewegung ist und den die Nachrichtenagentur als «Chef des deutschen Rates für Verfassung und Souveränität» bezeichnet hat.

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Letztes Jahr wusste «Russia Today» zu berichten, in Deutschland lebende Russen beschwerten sich darüber, dass in Kindergärten und Schulen Trickfilme über gleichgeschlechtliche Beziehungen gezeigt würden. «In den letzten zwei Jahren hat sich das Bildungssystem in diesem Land enorm verändert», sagt Sergei Fast, der vor mehr als 25 Jahren in die BRD gezogen ist, im Interview. Anschliessend ist der amerikanische Kurzfilm «In a Heartbeat» über die Liebe zweier Jungen zu sehen. Sergei erzählt, dass er Kindern ab drei Jahren gezeigt werde. Und dies sei kein Einzelfall, kommentiert «Russia Today», «es ist ein stetiger Trend».

In Russland verhält es sich in Kindergärten und Schulen konträr – dort werden Homophobie, Fremdenfeindlichkeit und Krieg propagiert. Keine Geschichten über Jungen, die sich ineinander verlieben, und die Regenbogenfahne ist verboten. Als Modell gilt die patriarchalische Gesellschaft: Kinder gehorchen ihren Eltern, Frauen gehorchen ihren Ehemännern, die Männer gehorchen der Regierung, und die Starken haben das Recht, die Schwachen zu demütigen.

In Russland ist alles erlaubt

Die Nachrichtenagentur Tass berichtet, dass viele Deutsche, sowohl Muttersprachler als auch russischsprachige, aufgrund ihrer Unterstützung des Krieges in der Ukraine gezwungen seien, nach Russland auszuwandern, weil sie von den deutschen Strafverfolgungsbehörden schikaniert würden. In Deutschland gebe es keine Meinungsfreiheit, wogegen in Russland alles erlaubt sei.

Die «Komsomolskaja Prawda» brachte Mitte letzten Jahres einen grossen Artikel über Deutsche, die aus der verdorbenen Heimat ins freie Russland fliehen und von denen einer meinte: «Viele Leute, die ich kenne, schreiben mir, dass auch sie nach Russland ziehen wollen. In Deutschland blüht die Russophobie, auch wenn man Deutschrusse ist. Es gibt Zahlen, die sagen, dass 200 000 Menschen bereit sind, hierher zu ziehen. Sie haben nur Angst vor dem Ärger mit den Dokumenten.»

Angesichts der Lage in Russland sind die Probleme mit den Papieren das Geringste, was Menschen, die nach Russland übersiedeln wollen, abschrecken sollte. Die Versorgungslage ausserhalb von Moskau und St. Petersburg ist prekär, und der Krieg wird auch vor Neuzugezogenen nicht haltmachen.

Die Geschichte von Remo und Birgit Kirsch aus Potsdam wurde in den russischen Medien am häufigsten verbreitet. Es heisst, dass Remo in Deutschland mehrere Baufirmen besessen habe, dann sein Unternehmen verkauft habe und weggegangen sei. In einem Dorf in der Nähe von Nischni Nowgorod baut er nun ein Öko-Dorf für europäische Einwanderer, «für Menschen, die klar verstehen, dass sie in Russland leben wollen, frei leben wollen». Menschen aus Frankreich, der Schweiz, Kanada und Österreich wendeten sich an ihn. Remo hilft ihnen allen mit Rat und Tat.

Remo Kirsch ist auch entsetzt über die Gender-Politik und die LGBTQ-Bewegung im Westen: «Das ist ein psychologischer Terroranschlag auf Kinder und Jugendliche, der für Eltern schwer zu ertragen ist. In Kindergärten – sogar kirchlichen! – gibt es Räume, in denen Kinder sich intim füreinander interessieren können, und das hat nichts mit Normalität zu tun. Ich halte das für eine Perversion!» Er prangert auch die Abhängigkeit Deutschlands von den USA an, weshalb er es offenbar vorzieht, im von China abhängigen Russland zu leben.

Kirschs deutsches Dorf in Russland wächst und trägt den verheissungsvollen Namen RuDe. Vor nicht allzu langer Zeit berichtete Olga Gusewa, Ministerin für internationale und interregionale Beziehungen der Region Nischni Nowgorod, dass im Dezember 2024 mehrere hundert Familien aus verschiedenen Ländern auf der Warteliste für die Übersiedlung gestanden hätten. Vor kurzem kam eine Grossfamilie kanadischer Bauern ins Land, auch Australier, Südafrikaner und Franzosen sollen in insgesamt zehn Familien in RuDe leben.

Sehnsucht nach traditionellen Werten

Andrei Beljaninow, Generalsekretär der Versammlung der Völker Eurasiens und Afrikas, teilte im November auf dem Wirtschaftsforum in Jugra mit, dass 2,5 Millionen Deutsche nach Russland ziehen wollten. Um den sich abzeichnenden Trend zu einem nachhaltigen Phänomen zu machen, entwickle Russland ein spezielles Programm, das bereits im Februar 2025 umgesetzt werden solle, berichtete die Zeitung «Iswestija».

Warum die Leute nach Russland wollen? «Zunächst einmal, weil wir hier traditionelle Werte bewahren», erklärt Beljaninow. «Dazu kommen wirtschaftliche Gründe, der Lebensstandard in den Herkunftsländern sinkt. Und diese Menschen bringen Geld, Ideen, Technologien und Patente mit. Sie sind keine Schmarotzer, sie kommen nicht für ein Stück Brot, sie kommen, um die Wirtschaft und das wissenschaftliche, technische Potenzial zu stärken. Umsiedlungsprogramme sollten in den Regionen zur Priorität werden.»

Unter Beteiligung der Föderalen Agentur der Gemeinschaft unabhängiger Staaten für Fragen der im Ausland lebenden Mitbürger und für internationale humanitäre Zusammenarbeit finden regelmässig Foren zur Wiederansiedlung von Deutschen in Russland statt. Obwohl die Europäische Union im Jahr 2022 Sanktionen gegen diese Organisation verhängte, funktionieren die Einrichtungen der Agentur in Deutschland weiter. Beispielsweise ist das Russische Haus in Berlin mit dem Weg nach Hause verbunden, der Organisation für die Rückführung russischer und die Wiederansiedlung deutscher Bürger.

Der Vorsitzende des Internationalen Konvents der Russlanddeutschen, der frühere Bundestagsabgeordnete der AfD und Gründer der Internationalen Agentur für Betriebsansiedlung und kollektive Wiederansiedlung Waldemar Herdt, sagte kürzlich, dass im vergangenen Jahr 1,7 Millionen Menschen Deutschland verlassen hätten. Jedoch zogen nur 3500 von ihnen nach Russland.

Probleme werden unterschlagen

Auf Telegram gibt es spezielle Kanäle für das deutschsprachige Publikum, die sich dem Umzug in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» (sic!) widmen. So hilft der Weg nach Hause beim Ausfüllen von Dokumenten und bei der Organisation eines Fortzugs aus Europa. Man findet Informationen über das schöne und freie Russland, den zerfallenden Westen und den genialen Putin. Repressionen, soziale Probleme, wirtschaftliche Schwierigkeiten werden nicht erwähnt.

Es gibt die Gruppe «Ich will in Russland leben», einen Telegram-Kanal und die Website «Moja Rossija» eines «unabhängigen, privat finanzierten Projekts von Einwanderern in Russland». In Livestreams lässt sich lernen, wie ein Visum, eine Wohnung, eine Arbeit zu bekommen ist und wie viel Glück Umsiedler bislang erfahren haben.

Den Ausländern wird nicht gesagt, mit welchen Schwierigkeiten sie in ihrer neuen Heimat konfrontiert werden – Probleme mit Kindergartenplätzen, schlechte Qualität der medizinischen Versorgung, mangelnde Unterstützung bei der Bewältigung bürokratischer Probleme nach dem Umzug. Unerwähnt bleibt auch, dass die Kriminalität exponentiell zunimmt und in den letzten vierzehn Jahren ein Rekordniveau erreicht hat.

Ehemaligen russischen und sowjetischen Bürgern wird eine Entschädigung für die Kosten des Umzugs an einen künftigen Wohnort angeboten sowie die Übernahme von staatlichen Abgaben im Rahmen des laufenden Programms für die Umsiedlung von Landsleuten in Russland. Allerdings endet jede Unterstützung unmittelbar nach dem Umzug, sowohl die beratende als auch die finanzielle, so dass es für einen Ausländer, der keine Freunde oder Verwandten in Russland hat, schwierig sein wird, sich an einem neuen Ort niederzulassen. In manchen Regionen ist es auch nicht einfach, einen Dolmetscher zu finden.

Obwohl Deutschland eines der bevorzugten Ziele der russischen Propaganda ist, erzählt diese oft von Italienern, Franzosen und natürlich Amerikanern, die vor den angeblichen Nöten des Westens flöhen, da sie unter der grassierenden Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit, Polizeigewalt und der Notwendigkeit, dauernd den Rasen zu mähen, litten.

Amerikanisches Viertel in Moskau

Vor zwei Monaten veröffentlichte das Onlineportal Gazeta.ru einen Artikel über Joseph Rose, einen Amerikaner, der 2022 nach Russland zog, eine Russin heiratete und sofort nach seinem Umzug einen Blog über das Leben in Russland startete. Innerhalb von zwei Jahren haben 63 000 Menschen Roses Kanal abonniert. Er behauptet, viele Amerikaner wendeten sich an ihn, um Ratschläge für ihren Umzug zu erhalten. Also gründeten er und seine Frau ein Unternehmen, «das Ausländern aus dem Westen bei allen Fragen rund um den Umzug hilft: Auswahl einer Region, Beschaffung von Dokumenten, Wohnungssuche, Integration in die Gesellschaft».

Tim Kirby, Schöpfer des Blogs «The Most Russian American», ist dabei, ein amerikanisches Viertel in den Moskauer Vororten zu errichten. Ursprünglich wollte er ein ganzes Dorf bauen, aber Russland geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und es gab nicht genug Geld für ein Dorf. Das verlockendste Angebot machte den Amerikanern jedoch Wolodimir Saldo, der Gouverneur des russisch besetzten Teils der Region Cherson. Er sagte, die Region sei bereit, Flüchtlinge aus Kalifornien aufzunehmen, sofern sie sich nicht an der Finanzierung des ukrainischen Militärs beteiligten und auch das «derzeitige Kiewer Regime» nicht unterstützten.

Natürlich ist es durchaus möglich, in Russland zu leben, wenn man in den Metropolen wohnt, wenn man Putin und den Krieg unterstützt, wenn man seine Kinder ab dem Kindergartenalter aggressiv-patriotisch infiltrieren lässt und wenn man bereit ist, für die Ideale der «russischen Welt» zu sterben. Denn die Abgeordneten der Staatsduma verpflichten seit diesem Jahr Ausländer, die die russische Staatsbürgerschaft erworben haben, sich sofort nach Erhalt des Passes zum Militärdienst zu melden.

Es ist auch wichtig, geduldig zu sein und sich nicht zu beschweren, denn Kritik an den Behörden auf jeder Ebene ist im freien Russland durch das Gesetz über die Missachtung der Behörden verboten. Ausländer sollten generell vorsichtig sein, ihre Position ist fragil, schliesslich sind sie aus «unfreundlichen Ländern» gekommen. Sie sollten überdies die Geschichte der Sowjetunion nicht vergessen – ausländische Fachkräfte, die in den 1920er Jahren so hartnäckig angelockt wurden, wurden in den späten 1930er Jahren sehr pedantisch erschossen.

Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk in Russland geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien bei Matthes & Seitz ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung».

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