Mittwoch, Oktober 2

Die schwache Corporate Governance deutscher Automotive-Unternehmen und anderer Dax-Schwergewichte ruft zunehmend Finanzaktivisten auf den Plan – bis dato aber meist im Verborgenen. In anderen Branchen wie Wohnimmobilien oder Biotech sehen Fondsmanager derzeit mehr Chancen auf Kursgewinne.

Der Dax leidet unter dem Schwergewicht der Auto-, der Chemie- und der Industriewerte. Dies führe dazu, dass der deutsche Leitindex im internationalen Vergleich relativ günstig bewertet sei, erklärte DWS-Fondsmanagerin Sabrina Reeh auf der Auftaktveranstaltung von The Market zum Launch in Deutschland vor zwei Wochen. «Hinzu kommt, dass sich momentan nicht viele internationale Investoren für Deutschland interessieren.»

Volkswagen und der Autozulieferkonzern Continental, aber auch der Chemieriese BASF werden laut Deka-Fondsmanager Ingo Speich besonders durch schlechte Corporate Governance beeinträchtigt. Dies werde bei der Aktienbewertung mit Abschlägen eingepreist. Der Druck des Kapitalmarktes auf solche Unternehmen nehme jedoch zu, sagte Speich: «Deutschland ist für Finanzaktivisten in den letzten zwölf Monaten der attraktivste Markt in Europa geworden.» Fraglich sei allerdings noch, inwieweit sie Durchschlagskraft erzielten.

Bessere Investmentchancen bieten derzeit deutsche Wohnimmobilienverwalter, erklärte Elmar Peters, Geschäftsführer der Kölner Fondsgesellschaft Praemium Capital. Auch BioNTech, Carl Zeiss Meditec und den Mittelständler Friedrich Vorwerk hält er für besonders aussichtsreich.

Der Dax notiert auf Rekordniveau. Im Vergleich zum MSCI World oder zu US-Aktienindizes ist seine Bewertung dennoch relativ günstig. Frau Reeh, woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Sabrina Reeh: Um das zunächst einmal etwas konkreter zu machen: Der Dax wird mit dem Elffachen des für 2025 geschätzten Gewinns gehandelt. Das ist ein Abschlag von 40% gegenüber dem US-Leitindex S&P 500. In der Vergangenheit lag diese Differenz im Schnitt eher bei 20%. Der Abschlag hat sich also deutlich ausgeweitet, und dafür gibt es Gründe.

Welche denn?

Reeh: Im Dax finden sich sehr viele Aktien von Unternehmen aus zyklischen Sektoren, also beispielsweise Industrie-, Automobil- und Chemiewerte. Der S&P 500 hingegen ist viel stärker von Technologietiteln geprägt. Wir sehen seit knapp zwei Jahren, dass die Frühindikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung eher kontrahieren, was tendenziell gegen die im Dax stark vertretenen zyklischen Branchen spricht. Hinzu kommt, dass sich momentan nicht viele internationale Investoren für Deutschland interessieren. Wir kennen ja alle die Schlagzeilen in der Presse, in denen Deutschland wieder als der kranke Mann Europas bezeichnet wird.

Halten Sie diese skeptische Sicht auf den deutschen Aktienmarkt für angemessen?

Reeh: Die Dax-Unternehmen generieren nur 20% ihres Gewinns in Deutschland, 80% kommen aus dem Ausland. Daher ist dieser hohe Abschlag eigentlich nicht gerechtfertigt. Aber wir brauchen auch den Rückenwind einer anspringenden Weltkonjunktur, damit die Bewertungen wieder steigen können.

Herr Speich, wie sehen Sie das Thema?

Ingo Speich: IT, Software und Technologie machen ein Drittel der US-Marktkapitalisierung aus, das fehlt im Dax zu einem grossen Teil. Dagegen kamen 2024 rund 30% der Dax-Dividenden aus der Autobranche, die aber weniger als 10% des Börsenwerts ausmacht. Die Dividendenrendite ist fast dreimal so hoch wie beim MSCI World. Die komplette Autobranche ist in der Strukturkrise, was auch der Dax zu spüren bekommt. Wenn sich die Branche nicht wandelt, könnte das die neue Stahlbranche werden. Wir haben Geschäftsmodelle wie RWE, die mitten in der Transformation stecken. Das Risikoprofil vieler Geschäftsmodelle hat sich stark verändert.

Wie gehen Sie mit diesen Restrukturierungszwängen um?

Speich: Bei vielen Unternehmen muss das Geschäftsmodell umgestellt werden. Das erfordert neue Kompetenzen im Board, neue Vorstände und neue Aufsichtsräte. Die Transformation bietet auch Chancen. Kernaufgabe des Portfoliomanagements ist es, die Unternehmen zu finden, bei denen die Transformation gelingen kann.

Herr Peters, Sie können Ihr Fondskapital weltweit investieren und halten trotzdem ziemlich viele deutsche Aktien, nämlich 43% Ihres Aktienportfolios. Warum setzen Sie so stark auf Deutschland?

Elmar Peters: Weil wir hier Unternehmen gefunden haben, die unserer Meinung nach extrem günstig bewertet sind und die global unterwegs sind. Wir schauen weniger darauf, wo Unternehmen sitzen, sondern darauf, was sie machen. Wir haben zum Beispiel eine grosse Position an deutschen Wohnimmobilienverwaltern, also Vonovia, TAG und LEG. Das ist insofern ein Home Bias, dass wir Unternehmen und Management seit mehr als zehn Jahren gut kennen. Zeitweise hatten die Aktien einen Abschlag von 70% vom Nettoinventarwert der Immobilien. Die Finanzierung war für sechs bis acht Jahre gesichert. Dazu kommen 4% Mietwachstum und 1% Leerstand. Das fanden wir gar nicht so schlecht. Wir haben viele Liegenschaften gesehen, wir haben bei TAG zu meiner Zeit bei Flossbach von Storch quasi das Unternehmen verändert. Wir kennen teilweise sogar die Müllkonzepte: dass mehrere Wohnblöcke den Müll zusammen entsorgen, um Nebenkosten einzusparen.

Wo haben Sie sonst noch zugeschlagen?

Peters: Bei BioNTech. Der Börsenwert lag zeitweise um 600 Mio. € unter dem Cashbestand. Unserer Schätzung nach kosten Forschung und Entwicklung pro Jahr 600 Mio. €. Das heisst, wir bekamen das Unternehmen plus ein Jahr Forschung und Entwicklung auf den Cashbestand obendrauf. Da war uns relativ egal, dass das eine deutsche Gesellschaft ist. BioNTech ist weltweit aktiv. Wir hätten auch Moderna kaufen können: Sie hat ähnlich viel an den Impfstoffen verdient, aber viel mehr Geld verbrannt und hat 8 Mrd. $ Schulden.

Der Aktienkurs von BioNTech ist von fast 450 $ Mitte 2021 zeitweise bis unter 80 $ gefallen. Welche aussichtsreichen Schnäppchen halten Sie noch?

Peters: Die Aktien von Carl Zeiss Meditec sind von 200 € auf zuletzt 65 € gesunken. Das ist ein Oligopolist im Bereich der optisch-chirurgischen Geräte mit mehr als 50% Weltmarktanteil. Bei den Augenoperationen beträgt der Weltmarktanteil 20%. Auch dieses Unternehmen ist global unterwegs und ist mittlerweile fair bewertet.

Beruhigend, dass wir doch noch kaufenswerte Aktien in Deutschland haben. Trotzdem würde ich gern zunächst noch einmal auf die Problemfelder zu sprechen kommen. Frau Reeh, ist die deutsche Autobranche noch zu retten?

Reeh: Die kommenden zwei bis drei Jahre werden für die Automobilindustrie in Deutschland entscheidend sein. Die Zeit gestörter Lieferketten, die zu einem knappen Angebot an Neuwagen und daraus resultierend zu höheren Preisen und Margen geführt hat, ist vorbei. Jetzt sinkt die Nachfrage. Noch dazu ist der Wettbewerb in China sehr intensiv. Man muss mittlerweile einfach konstatieren, dass die chinesischen Anbieter die deutschen Hersteller auf dem grössten Automobilmarkt der Welt abgehängt haben. Und natürlich ist die Transformation zur Elektromobilität auch für die deutschen Automobilhersteller noch eine Herausforderung, nicht zuletzt wegen der dafür nötigen Investitionen.

Das klingt wenig hoffnungsvoll.

Reeh: Abgesänge auf die deutsche Automobilindustrie hat es in der Vergangenheit schon öfter gegeben. Wir haben dann aber gesehen, dass die Unternehmen solche Krisen durchaus bewältigen können. In den Siebzigerjahren beispielsweise erwarteten manche eine Verdrängung durch die japanischen Hersteller, doch wie wir jetzt wissen, ist es anders gekommen. Oder bei Volkswagen sank die Nachfrage nach dem lange Zeit populären Käfer. Dann brachte das Unternehmen den Golf heraus, der ein Hit wurde. Die deutschen Automobilhersteller müssen jetzt abermals die richtigen strategischen Entscheidungen treffen.

Peters: Da bin ich anderer Meinung. Ich sehe einfach keine Strategie der deutschen Autohersteller, um den Rückstand auf China aufzuholen. Wir hatten kürzlich eine Veranstaltung in Dresden in der Manufaktur, in der VW früher den Phaeton produziert hat. Da wird derzeit quasi von Hand der ID.3 gefertigt – weil man die Fabrik halt irgendwie nutzen muss. Wenn die Strategie fehlt, nützt das niedrigste Kurs-Gewinn-Verhältnis nichts, weil irgendwann der Gewinn weg ist.

Speich: Volkswagen hat nicht ohne Grund ein sehr niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis. Der enorme Abschlag zu anderen Branchenunternehmen liegt auch an der schlechten Corporate Governance. Hinzu kommt, dass Volkswagen hoch komplex ist. Allein das Markenportfolio zu steuern, ist eine Herausforderung, daran sind schon viele Vorstandschefs gescheitert. Der jetzige Vorstandschef führt zudem noch Porsche sozusagen nebenher.

Das Land Niedersachsen hält 20% der stimmberechtigten Volkswagen-Stammaktien, die Familien Porsche und Pi¨ech über ihre Porsche Automobil Holding zusammen 53%. Und die Holding sowie Volkswagen sind wiederum die Haupteigner der Porsche AG.

Speich: Alles ist mit allem verflochten, auch die Rollen des Führungspersonals. Damit fehlen einige Checks and Balances. Mit dieser Struktur ist es nicht möglich, den Konzern vernünftig zu führen, und die Aktionäre preisen einen Abschlag für die unbefriedigende Governance ein.

Wie beurteilen Sie die Corporate Governance bei anderen Unternehmen der Autobranche? Auch der Niedergang von Continental über sehr viele Jahre trägt Namen.

Speich: Was für Volkswagen bei den Autoherstellern gilt, das gilt für Continental bei den Zulieferern. Dort sind die Gremien unter dem starken Einfluss von Familie Schaeffler. BMW hat die Familie Quandt im Hintergrund, die zum Glück eine sehr langfristige Ausrichtung hat. Bei Mercedes schauen wir mit Spannung darauf, was die zwei chinesischen Grossaktionäre machen, die jeweils knapp unter 10% halten. Damit einher geht mit Ex-BASF-Chef Martin Brudermüller ein neuer Aufsichtsratschef, der eine extreme China-Affinität hat.

Das heisst, die Interessen aussenstehender Investoren spielen in weiten Teilen der deutschen Autoindustrie keine Rolle?

Speich: Die Aktionärsstruktur hilft dem Automobilsektor in der Krise jedenfalls nicht.

Die zweite grosse Branche in der Krise ist die Chemie: BASF und Bayer haben sich verzockt. BASF hat zu lange auf den niedrigen Gaspreis gesetzt, Bayer ist seit dem Kauf von Monsanto den US-Klägern ausgesetzt. Gibt es noch Chemieunternehmen in Deutschland, deren Aktien man kaufen kann?

Speich: BASF ist der grösste Chemiekonzern weltweit. Dennoch hat die Aktie im Vergleich mit der Chemiebranche auf Sicht von einem, drei, fünf und zehn Jahren massiv underperformt. BASF hat es nicht geschafft, die Grössenvorteile ihres Geschäftsmodells in Ergebnisse umzusetzen und dies dem Kapitalmarkt zu vermitteln. Auch dabei spielt schwache Governance eine Rolle: BASF ist ein in sich geschlossenes Gebilde, die Vorstände kommen überwiegend aus dem eigenen Unternehmen. Schon vor mehr als zehn Jahren hat man sich sehr stark auf China fokussiert und wird jetzt durch die steigenden Risikoprämien für Länderrisiken eingeholt. Man hat in Russland viel zu spät reagiert. Bei der Basischemie steht BASF insbesondere im Wettbewerb mit den Chinesen, die in wenigen Jahren 60 bis 70% der Basischemie ausmachen, sodass man im Prinzip aus dieser 10-Mrd.-Investition aus China gar nicht mehr herauskommt.

Peters: BASF hat keinen Schutzwall vor der Konkurrenz: Jedes Produkt ist zu 90% austauschbar. Dadurch kann sie keine auskömmlichen Preise durchsetzen und ist immer in einer sehr schlechten Situation. Ihre einzige Chance ist, in einem Konjunkturboom die Margen extrem auszuweiten, weil alle die Produkte haben wollen und die Lager leer sind. In dieser Phase kann sie ganz viel Geld verdienen. Sonst sind viele Chemieprodukte ein einfach austauschbares Gut.

Viele der ganz grossen Unternehmen im Dax haben Governance-Probleme. Warum lassen Sie als Investoren das zu?

Speich: Wir sind aktiv, und wir werden noch aktiver! Als Deka haben wir im laufenden Jahr gegen 24% aller Tagesordnungspunkte gestimmt. Leider liegt die Präsenz auf Hauptversammlungen durchschnittlich bei nur 65%. Man würde sich wünschen, dass mehr Aktionäre genauer hinschauen und ebenfalls Druck ausüben. Je mehr Aktionäre sich beteiligen, desto besser ist es für die Aktionärsdemokratie.

Viel Wirkung erzielen Sie leider nicht?

Speich: Ab und an doch. Ohne den Druck des Kapitalmarktes hätte sich beispielsweise RWE nicht so schnell transformiert. Ein anderes Beispiel ist Bayer. Hier wäre wahrscheinlich Werner Baumann heute noch an der Spitze …

… der die fatale Monsanto-Übernahme als Bayer-CEO durchgesetzt hatte. Angesichts der zahlreichen hausgemachten Probleme, die das Management vieler Dax-Konzerne produziert, sehen wir hierzulande relativ wenige Aktivisten wie zum Beispiel Elliott Management. Warum so wenige?

Speich: Unter der Oberfläche tut sich einiges. Deutschland ist für Finanzaktivisten in den letzten zwölf Monaten der attraktivste Markt in Europa geworden. Analysen von Investmentbanken zeigen in keinem anderen europäischen Land eine so hohe Aktivität. Zuvor war Deutschland meist auf Rang drei oder vier. Inwieweit sie allerdings Durchschlagskraft erzielen, müssen wir abwarten. Zuletzt haben sich wieder Aktivisten zu Wort gemeldet wie bei RWE.

Aktivistisch wirkt auch der Versuch von UniCredit, Commerzbank zu übernehmen.

Speich: In der Tat. Wenn ich jetzt – offenbar gegen den Willen der Bank und der Bundesregierung – ein grosses Paket kaufe und ein paar Tage später ein grosses Interview gebe, kann man das nicht als freundliche Massnahme interpretieren.

Bei Siemens wollte der britische Hedge Fund The Childrensʼ Investment Fund (TCI) vor ungefähr einem Jahr die Trennung von der notierten Medizintechniktochter Siemens Healthineers erzwingen und suchte dafür Unterstützung. Auf der Hauptversammlung vergangenen Februar forderten viele Fondsvertreter, auch Sie, dass Siemens den 75%-Anteil an Healthineers reduziert. Passiert ist immer noch nichts, weil CEO Roland Busch und Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe das nicht wollen. Investoren scheinen wenig Durchschlagskraft zu haben.

Reeh: Das werden wir noch sehen. Ingo Speich und ich haben auf der Hauptversammlung neben der Verringerung des Healthineers-Anteils auch die Abspaltung der Zugsparte gefordert. Roland Busch will Siemens ja zu einem Industrietechnologieunternehmen machen. Da passen diese zwei Bereiche einfach nicht gut dazu.

Speich: Unser Hauptkritikpunkt ist, dass Siemens viel niedriger bewertet ist als vergleichbare Branchengesellschaften wie ABB und Schneider Electric. Ein Grund ist die Konglomeratsstruktur. Grundsätzlich wird eine Siemens in der jetzigen Struktur langfristig am Kapitalmarkt wahrscheinlich weiterhin Gegenwind erfahren.

Kommen wir zu den Lichtblicken. Welche Branche oder vielleicht auch Gesellschaft finden Sie aus heutiger Sicht besonders interessant?

Peters: Friedrich Vorwerk. Das Unternehmen baut Trassen für Kupferkabel. Der Auftragsbestand ist riesig, und es gibt wenige Gesellschaften, die so etwas können. Niemand will eine Hochspannungsleitung in seiner Nähe haben. Deshalb werden 90% der Kabel für den Stromnetzausbau und auch die Gasleitungen unterirdisch verlegt.

Der Aktienkurs ist nach dem Börsengang im März 2021 allerdings zwei Jahre lang fast nur gefallen, zeitweise um 80%.

Peters: Der Grund waren Probleme beim Bau der Leitung vom Flüssiggasterminal in Wilhelmshaven, wo das Fracking-Gas aus den USA angeliefert wird, nach Hamburg. Das war der grösste Auftrag der Unternehmensgeschichte. Dummerweise wollte Wirtschaftsminister Robert Habeck das in einer gewissen Zeit fertiggestellt haben und hat eine Konventionalstrafe vereinbart. Um den Termin einzuhalten, hat Friedrich Vorwerk so viele Subunternehmer reingenommen, dass sie mit dem Auftrag Geld verloren hat. Das war ein kleiner Schock. Aber generell ist Friedrich Vorwerk sehr gut aufgestellt mit vielen Aufträgen, die auch Gewinn einbringen.

Speich: Grundsätzlich sind Gesellschaften spannend, die stark in der Transformation stecken, wie RWE. Sie folgen ihrer Strategie und kaufen weiter Erneuerbare-Energie-Assets zusammen. RWE ist eines der Unternehmen, die die Energiewende am stärksten vorantreiben.

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